Rede Kulturparkett
Sönke Busch
7.6.2024



Liebe Freundinnen, Kunstschaffende, verehrte Funktionäre, Funktionärinnen, Funktionierende, Würdenträgerinnen, Honoratioren, Mäzeninnen, Natives unserer Insel der Glückseligkeit.
Lieber Weser Kurier, vielen Dank für die Einladung, vielen Dank, dass ihr gekommen seid. Danke liebes Gerhard-Marcks-Haus, es ist mir eine Freude, hier etwas zu sagen.
Als ich David Koopmann fragte, was denn das Thema, mehr noch die Frage des Abends wäre, fragte er:
Wie könnt ihr freien Künstlerinnen und Künstler denn davon leben, Kunst zu machen? Und wie könnte sich das ändern lassen? 
Danke für die erste Frage, ich darf kurz antworten: Gar nicht. Die allerwenigsten können von der Kunst leben.
Diejenigen, die von Kunst und Kultur leben können, sind nicht die, die Kunst machen, sondern diejenigen, die, die die Kunst machen, verwalten. Nun könnte als Anschlussfrage gestellt werden: Haben die, die die Kunst verwalten und davon leben, es denn verdient, davon leben zu können? Dann wäre die Antwort: Ja, aber erst, wenn die, die die Kunst machen, von der Kunst leben können. 
Also: Vielen Dank für die schöne Frage, Herr Koopmann, nächste Frage: Wie könnte sich das ändern lassen? Dazu später mehr. 
Zuerst eine andere Frage, die mir in den letzten Wochen immer wieder vor die Füße kullerte:
Was wird denn das da am 21.6. beim Weser Kurier?
Die Frage reiche ich einfach mal weiter an den Abend. Was wird das hier? Wir haben einige Optionen. 
Vielleicht ein weiteres Rumgestehe mit den üblichen Verdächtigen? Lächeln hier, Hallo da. Und am Ende gewinnt, wer am wenigsten hat durchblicken lassen, was er oder sie wirklich von den anderen Anwesenden hält. 
Ein neuer kleiner Freimarkt der Eitelkeiten kurz vor dem Sommerloch. Der Weserkurier als Riesinnenrad und wir alle Passagierte. So könnten wir diesen Abend verbringen. Das Buffet ist eröffnet, lets Fuck. Einfach ein netter Abend, da draußen, in der echten Welt ist es ja wahrlich stressig genug. Dann doch lieber hier in Sicherheit sich gegenseitig den Rücken kraulen. Eine Krähe der anderen, Augen, sie wissen schon. Wäre bestimmt schön. Aber das lässt sich ja, nach Möglichkeit, verhindern. Eine andere Option wäre es, wir würde mal darüber sprechen, wie es wirklich ist.
Die Zeiten sind ernst. Ich glaube, es ist nötig, dass wir alle mal wirklich miteinander sprechen. Und ich möchte, vielleicht als kleiner Einstieg, einmal versuchen, zu sagen, warum gerade in diesen Zeiten Kultur so wichtig scheint, wie schon lange nicht.
Ein dunkel Morgen dräut. Wir jagen auf die neuen Swinging Twenties zu, vor dem Stiefel kommt der Lackschuh, aber wir sind noch nicht ganz da. Keine Sorge, wenn der Tag am hellsten ist, ist die Nacht am nächsten. Aber noch ist Zeit für ein paar nüchterne Fragen.
Wie gehen wir als Kulturschaffende dieses Dunkel am Horizont an? Wie werden wir diesen Zeiten gerecht? Wie müssen wir als proaktiv Kulturelle handeln? Was braucht die Vorkriegsgesellschaft? Und wie wird die Kunst wehrfähig? Und wie können wir trotzdem davon leben?
Zum ersten Mal seit langer Zeit haben wir wirkliche Gegner. Menschen, die das angreifen, für das unsere Arbeit steht: Offenheit, Freiheit, dialektisches Denken, Andersartigkeit, Ambiguitätstoleranz. Das unterscheidet uns von denen, die auf unserem Kontinent gerade nach dem Ruder greifen. Wir hier sind zu größten Teilen nicht das Ziel ihres Hasses. Aber wir sind die, die zwischen ihnen und ihren Zielen stehen. Es ist unsere Aufgabe, hier zu stehen. Wie können wir standhaft bleiben?
Eine Antwort wäre die: Wir müssen uns die Leichtigkeit bewahren. Das sagen die einen. Cool bleiben, sagen die anderen. Wenn schon Kettensäge, dann doch bitte lachend, sage ich.
Aber das reicht nicht. Ein bisschen linker Populismus unter unseresgleichen, wie ihn mir neulich Michael Börgerding attestierte, wird nicht reichen. Die rote Fahne hochzuhalten oder mit der mir von unserem Bürgermeister bestätigten “rhetorischen Wucht!“ zu unserer Beruhigung ein bisschen das Lied der Arbeiterinnen zu krakeleien wird uns, außer ein wenig Erleichterung, auch nichts wirklich bringen. 
Wir müssen zeigen, was ist. Wir müssen aufdecken. Präsentieren. Durchsichtig machen. Kunstschaffende wie Journalierende.
Die Gesellschaft, unsere Zielgruppe, klafft auseinander und auch durch uns selbst geht eben dieser Riss, Dunkel dringt in unsere Elfenbeintürme und Elfenbeintunnel. Und was noch vor zwei Jahren da drüben am Theater stand, stimmt nun nicht mehr:
“Wir sind mehr.“ 
Die Wahrheit ist:
“Wir sind mehr“ ist nicht mehr.
Und ich spreche vor ihnen in der Hoffnung auf ihre Vergebung, an so einem leichten Abend meine Worte in so schwerem Öl zu malen.
Aber wie denn sonst gerade?
Wir müssen doch sagen, wie die Welt ist.
Noch vor ein paar wenigen Jahren, vor ein paar Monaten, wäre ich hier auf die Bühne gestürmt, hätte mir den Schaum aus den Mundwinkeln gewischt und hätte gewettert gegen alles und jede, die im Kulturbetrieb Bremens über Besoldungsstufe A11 verdient. 
Was hätte ich fuchsteufelswild geflucht, auf euch Menschen, die ihr Kunst verwaltet und so viel mehr Geld verdient, als die, die sie tun. Ich hätte Dir, Carmen, mal wieder ins Gesicht gerufen, wie falsch es ist und dass es deine Verantwortung sei, dass die große Mehrheit Kunstschaffenden dieser Stadt immer noch prekär leben muss, ihnen, Herr Bürgermeister Bovenschulte hätt ich gesagt, dass wir jetzt zwar im Zentrum für Kunst im Bremens schönstem Flur hungern können, aber, dass es auch in eben diesem Zentrum sehr still wird, wenn jemand nach Rente, Fortpflanzung, Krankenkasse, Urlaub, Mindestlohn fragt.
Sicher, ich könnte hier stehen und euch Entscheidenden die Themen um die Ohren hauen, auf die ihr viel zu selten festgenagelt werdet. Wäre das nicht lustig und Höhöhö. Aber wäre, wäre, Fahrradkette. Die Wahrheit ist doch: Ihr wisst das alles.
Und doch ist es, wie es ist.
What to do- Vielleicht ist das einfach nicht die Zeit für interne Grabenkämpfe und Schuldzuweisungen. Ich bin mir sicher, ihr habt euer Bestes getan. Und doch ist es, wie es ist.
Also, was sollen wir machen? Mit einer Emigholz Maske in die Kunsthalle einbrechen, Sylvette klauen, sie verkaufen und den Erlös dem Güterbahnhof spenden?
Nur Spass, Herr Grunenberg, ich mache sowas nicht mehr.
Aber wenn nicht so, dann halt anders. Ich hoffe, sie verzeihen mir meine versöhnlichen Worte und meinen fehlenden Fatalismus, es mag dem Alter geschuldet sein, die Wahrheit ist die:
Durch diese Zukunft kommen wir nur gemeinsam.
In Solidarität, in Gemeinschaft, in Verlässlichkeit und unbedingter Hilfsbereitschaft. Wenn nichts Neues kommt, dann müssen wir das, was wir haben, besser untereinander verteilen. Anders geht es nicht. Dann müssen wir halt alles, was wir haben, zweimal umdrehen.
Platz, Ressourcen, Arbeitskraft, Ideen. Klingt wild, ist aber möglich. Gerechtigkeit ist machbar, Frau Nachbarin. 
Also ist das eine Aufforderung an die Kunsthalle, an den Goetheplatz, an die Weserburg, an die Häuser, an das Zentrum für Kunst, an das Metropol Theater, an all die potenziellen Dächer über den Kulturköpfen der Stadt: Macht die Türen auf, macht sie auf, so weit ihr nur könnt. Und für die, die Raum brauchen gilt: Nehmt euch diese verdammten Häuser, stellt diese Raumforderung. Noch heute Abend. Diese Stadt gehört uns. 
Vielleicht kann dieser Abend das sein: Eine erste unvollständige Generalversammlung, um gemeinsam zu planen, wie wir durch die nächsten Jahre gehen wollen. Und um diese neue Raumforderung an die Institutionen zu stellen und zu überlegen, was wir dazu brauchen. 
Und denjenigen, die der Kunst in Bremen finanzielle Hilfe sein wollen, denen sei gesagt: Wir Freien sind hier. Es gibt Möglichkeiten, uns zu unterstützen. Sprecht mit uns! Noch heute Abend! 
Aber für diesen Moment noch stehen wir nun, wir alten Prekären, hier in Aries Heiligem Hain, in der Ausstellung der Prekären der Zukunft. Und sind so arm wie nie zuvor. Schön ist das alles. Aber macht so viel Arbeit. Für kein Geld. Was sind wir eigentlich für Leute, die für kein Geld arbeiten gehen? 
Merkwürde, des merkens würdige Menschen sind wir. So seltsam und doch ereilt uns jeden morgen der Ruf: 
Arbeitet!
Es ist doch so: Die Arbeit ist dem Jammern vorzuziehen.
Die Freiheit muss arbeiten. Wir müssen arbeiten.
Arbeit. Leistung mal Zeit. Besser, wir fangen direkt an.
Wenn wir genau hinhören, dann hören wir, wie unsere Arbeitgeberin, die Zeit, gerade ruft: 
Haltet mich fest! In Tanz, Wort, Film, Gesang! Zeichnet mich auf, als Mahnung für die Generationen, die irgendwann wieder am gleichen Anfang vom Dunkel stehen werden wie wir jetzt.
Irgendwann wird Jugend vor der Arbeit der Künstlerinnen und Künstler dieses Landes stehen und versuchen vom Gestern fürs Morgen zu lernen, so wie wir heute vor Kollwitz und Grosz, vor Paula und Pablo, vor Mann und Beckmann, vor Fallada, Dix und Annemarie Schwarzenbach stehen und fragen: Was können wir tun, damit es nicht wird, wie es schon einmal war? Wie kühlen wir den Schoß, der gerade wieder zu glühen droht?
Und ob wir nun wollen oder nicht, das ist ein Teil vom Beruf, das ist unsere Arbeit: Den Menschen von Morgen möglichst genau von unserem Heute zu erzählen. 
Vielleicht ist das ein weiterer Teil der Antwort, was das hier alles soll, warum wir alle heute hier sind: Vielleicht ist das heute hier eine Chance zum Austausch darüber, was ist. Denn hier gehen Kunst und Journalismus Hand in Hand in die lampenschwarze Nacht: Die Hände verschränkt im Versuch, der Zeit ein Tagebuch, ein Bilderbuch, Celluloid und Vinyl, Null und Eins zu sein: 
Ein Fadenzähler auf dem Gewebe, aus dem das Morgen genäht wird.
Die einen, die sagen, was wirklich ist. Die anderen, die sagen, was sein könnte. Kunst und Journalismus, zwei bildgebende Verfahren, das eine für Form, das andere für Inhalt.
Die einen für die Wahrheit.
Die anderen für die Lüge, die Wahrheit begreifen lässt.
Die Zeit, die uns gerad umweht, klingt nach heißem Metall und riecht nach kalten Ketten. Diese Gesellschaft rüstet sich. Offen fordern wir von uns selber, wehrfähig zu sein. Verteidigungsbereit.
Aber was ist eine wehrfähige Kulturschaffende, was ein verteidigungsbereiter Journalist? Was braucht es, um diese, unsere, gesellschaftlich unverzichtbare Arbeit überhaupt zu ermöglichen?
Zum zweiten Mal in fünf Jahren stellt sich uns die Frage: Sind wir wirklich systemrelevant?
Die Antwort lautet, ohne zögern: Ja. 
Waren wir. Sind wir. Werden wir sein. 
Der Anteil von Kultur an unserer Zivilisation ist entscheidend für ihr Fortbestehen. Aber dieses Fortbestehen ist keine Selbstverständlichkeit. Das war Arbeit. Das ist Arbeit. Das wird Arbeit sein. Gemeinsame Arbeit.
Es braucht eben diese gegenseitige Solidarität zwischen denen, die Kunstarbeit leisten und denjenigen, die sie dazu befähigen, diese Arbeit zu tun. Und eben auch Vice Versa. Es geht nur gemeinsam in einer neuen Wertschätzung:
Von den bildenden Künstlerinnen gegenüber den Galeristinnen, die neue Märkte erschließen und unser Auskommen sichern, wenn Politik Panzer statt Galerielampen kaufen will.
Von den Tänzern gegenüber der Intendantin, wenn die öffentliche Hand Haubitzen statt Tanzböden beschaffen muss.
Von den Musizierenden gegenüber den Bookern, Veranstalterinnen und Busfahrerinnen, von den Schreibenden gegenüber den Lektoren, von den Schauspielerinnen gegenüber den Produzenten.
Und ebenso von den Journalistinnen gegenüber den Menschen im Marketing, die dafür Sorge tragen, dass freier Journalismus überhaupt noch zu bezahlen ist. Und wenn es heute, vielleicht später des Abends, nach der Arbeit, in der Leichtigkeit der Nacht, einen Aufruf geben mag, dann wohl den: 
Ihr Künstlerinnen und Künstler, verzagt nicht. Tanzt auf den sich verengenden Meinungkorridoren, als gäbe es kein Morgen, schmeißt eure Plastiken durch das Glas des sich öffnende Overtonfensters, malt das Dunkel der Welt im strahlendsten Öl. 
Es geht nur zusammen. Und so ergeht eben auch der Gegenaufruf an euch, die mit dem nötigen Kleingeld, ihr, die ihr 3EuroFuffzig verdient, ihr, die ihr nach Bewirtungsbelegen fragt und wisst, wofür ein gemeinnütziger Verein gut ist, Ihr Mäzeninnen und Mäzenen von Morgen, ihr hidden Champions dieser Stadt, Vertreterinnen der neuen und alten Stiftungen: Das ist der Moment, um Zukunft zu ermöglichen. Um zurückzugeben. Um kulturelles Leben zu sichern. Denn ohne diese privaten Mittel, werden sich die Menschen mit den wilden Ideen nach und nach zurückziehen. Denn ohne euer Geld wird es wirklich leise sein. Ohne euer Geld werden die Ideen sterben, aus denen Zukunft gebaut wird. Ohne dieses Geld werden Menschen gezwungen sein, mit der Kunst aufzuhören. Und mit der Kunst aufzuhören, ist wie zu ertrinken: Es geschieht ganz leise, weil wir am Ende nicht mal mehr die Kraft haben, laut nach Hilfe zu schreien. Also, ihr Linnemanns, ihr Zechs, ihr Schulenbergs, ihr Jacobs, ihr Blankes, ihr Meiers dieser Stadt, auf dass ihr stets bedenkt, dass diese Stadt nichts ist, ohne die Menschen, die aus euren Investitionen eine Bremer Heimat machen. 
Unsere Zukunft beruht auf dieser Gegenseitigkeit: Darauf, dass unsere politischen Vertreter,  dass Du, Carmen und wer auch immer unter Dir gerade Kultursenator ist, für uns kämpfst, dass ihr euch mit breiter Brust denen entgegenstellt, die meinen, Kultur habe zu schweigen und zu darben, wenn die Waffen sprechen. Vor einem Jahr sagtest, du bist eine Löwenmutter. Das sehe ich. Das verstehen wir alle.
Aber wenn Du unsere Löwenmutter bist, dann tu das, was Löwenmütter tun: Bring Fleisch! Oder Sucuk! Oder eine gleichwertige vegane Fleischalternative.
Und nicht zuletzt, vielleicht zuvorderst, steht diese Zukunft auf den Pfeilern der Verwaltung und der zwingenden Notwendigkeit, dass sie mit all ihrer Kraft ermöglicht, was zu ermöglichen ist, um uns zu ermächtigen, unsere Arbeit, unsere seltsamen Ideen, unsere kuriosen Vorschläge und wilden Vorhaben so wirkmächtig wie nur irgend möglich ins Licht der Öffentlichkeit zu führen.
Wir haben als Stadt diese Chance, auch in der Krise zusammenzuwachsen. Wenn wir das wollen. Wenn wir uns bewegen wollen. Denn Stillstand ist keine Option mehr. Da ist ein Lichtblick:
Diese Stadt kann zusammenarbeiten. Im Kleinklein. In Absprache und Solidarität. Tatsächlich ist dieses Zusammenwirken das Werkzeug, mit dem wir diese Stadt seit 1500 Jahren bauen. Und schaut uns an: Es gibt uns immer noch. 
Und das, was uns als Bremerinnen und Bremer Hoffnung geben kann, ist die Tatsache, dass wir Jahrhunderte an Erfahrung haben, als Stadt zu operieren. Aus uns selbst heraus zu überleben, in Solidarität und Gegenseitigkeit. Das ist das Erfolgsmodell des Landes Bremen seit der heiligen Johanna und Erzbischoff Willehad. Das ist der Grund, warum es uns noch gibt und warum wir heute hier sind. 
Wer einen Moment innehält, spürt, wie die Welt auf etwas Großes wartet. Sie hält still wie ein Model, so dass die Bildhauerin ihren Zustand kartieren, dass die Tanzenden ihren Duft umschreiben, die Journalisten ihren Geist festhalten können. Das ist unsere Arbeit.
There is a light that never goes out.
Große Zeiten liegen vor uns.
Lasst uns an die Arbeit gehen.
Morgen.
Denn der Tag ist nun beendet.
Die Nacht fängt jetzt an.
Danke.



Rathaus zu Bremen

Ich rief gestern vor versammelter Stadt laut "Alerta" durchs Bremer Rathaus. Alle applaudierten. 
Auf dass wir uns in Zukunft daran messen lassen.

Die dorthin führende Rede:

Rathaus zu Bremen

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, verehrte Senatorinnen und Senatoren, liebe Freunde, liebe Hundertjährige, liebe Bremernde, liebe Bürgernde.

Es ist mir eine Freude heute hier zu stehen. Vor ihnen allen. Es gibt soviel zu sagen. Soviel zu denken. Und ich könnte mir keinen schöneren Ort vorstellen, dies zu tun, als gerade hier vor ihnen und in der Stadt, nach der mich neulich jemand am Strande des Pazifiks fragte, was denn Bremen sei und was wir hier denn so machten.
Und unter dem Sternenzelt, irgendwo in der Endlosigkeit des Daseins, fiel mir nur eine Antwort ein:
Wir machen Bier und bauen Raumschiffe.
Diese Stadt bietet in ihrem Herzen schon eine enorme Bandbreite von Wissen.

Wir sind heute hier um über Zukunft zu sprechen.

Es ist nicht einfach, Worte zu finden. Und wir haben schon vieles zur Vergangenheit, zur Herleitung gehört, vom Weg, wie wir hierher gelangt sind. Vom Elan der Moderne. Dem Wissenshunger, vom Glauben an Bildung, Gleichheit, von Freiheit und vom absoluten scheitern dieser heute so absoluten scheinenden Werte. 

Wenn sie sich in diesem Saal umschauen, ist alles, was wir hier sehen, die Gäste, das Dach, die Sprache, die wir verwenden aus dem Bemühen gebaut, Wissen zu vereinen und miteinander in Austausch zu treten. Von den Säulen, die dieses Rathaus tragen bis zu der Sprache, die wir heute hier benutzen, um miteinander in Kontakt zu treten. Ohne einen gemeinsamen Wissensschatz, ohne die von uns gemeinsam geschmiedeten Werkzeuge des Austauschs, wäre das alles hier nicht möglich. 

Es ist fünfzehntausend Jahre her, dass wir Menschen den ersten Tempel bauten und dort mit dem begannen, was wir heute Kultur nennen. Dem Tempel, in dem wir Sprache entwickelten. Die Schrift, die uns dazu befähigte, die ersten Archive, Museen und Bibliotheken zu bauen. Fünfzehntausend Jahre, seit wir zum ersten Mal wirklich die Bedeutung von gemeinsamem Wissen verstanden, vielleicht der Ort, an dem wir den Schritt vom Menschen zur Menschheit machten.

Die Geschichte dessen, was wir heute Volkshochschule nennen, ist älter als die hundert Jahre seit ihrer Gründung. Diese hundert Jahre sind nur ein Ausschnitt. Und doch sind sie ein guter, ein überschaubarer Maßstab, um an ihm abzulesen, wo wir stehen, daraus zu lernen, um daraus gemeinsam eine Vision für die Zukunft zu schmieden. Das bedeutet, dass wir voneinander lernen.
Mir sagte vor Jahren ein Forscher einen Satz, der mich geprägt hat: "Das einzige, was Spass macht, ist lernen."

Lernen ist das, was uns zu Menschen macht. Was uns voranbringt. Das, was Entwicklung und Fortschritt ist. Es ist nur allzu verständlich, dass es eben das ist, für das uns unser Gehirn mit dem feinsten Gefühl belohnt, welches wir haben: Mit Freude. 

Jeder von uns kennt den Moment, wenn wir bemerken, dass wir etwas verstehen. Dieser kurze Moment der Klarheit, wenn wir das Kaos, das uns umgibt, für einen kurzen Moment zu ordnen vermögen. Wenn wir eine Struktur erkennen, mit der wir logisch arbeiten können. Wenn lernen, wenn neues Wissen in uns ein Tor aufstößt, uns eine neue Welt entblößt und uns weiterführt. 

Nichts so schön wie der Moment, bei einem Kind zu sehen, wenn der Groschen fällt. Wie sich die Wahrnehmung weitet. Der Eifer heraus zu finden, ob sich das neue Wissen auf anderes Übertragen lässt. Das Glühen in den Augen, wenn ein neues Werkzeug geschmiedet wird, um an der eigenen Welt zu arbeiten. 

Wir alle tun das. Zwar hinter unseren neuen Erwachsenenpanzern, aber, und das hoffe ich sehr für alle hier Anwesenden, es passiert. Wir alle haben alte Kinderaugen.

Lebenslanges Lernen ist etwas, dass auf so viele Art und Weisen das Leben auf eine neue Ebene heben kann. Bestimmt fällt uns das lernen und die Neugier als Erwachsende nicht mehr so leicht wie einem Kind mit einem neuen, hungrigen Gehirn. Aber vielleicht verwandelt sich der Wissenshunger eines Kindes in uns älteren Semestern in einen Wissenappetit, vielleicht einen Wissengenuß sogar.

"Ich vergesse das, was ich vorgestern gelesen und gehört habe, wie ich mein Abendbrot am Freitagabend vergesse, und doch weiss ich, dass das eine so wie das andere zu meinem Überleben absolut notwendig ist."

Das Verlangen nach Lernen bleibt, das Verlangen danach, uns selbst das Äußere wie das Innere zu erklären. Wohl verändert sich unsere innere Stimme gleichwohl der, mit der wir nach außen sprechen. Doch sich selbst zu zu hören und die Welt durch Wissen zu verstehen, bleibt ein elementarer Punkt unseres Menschseins. Erinnern sie sich an ihre Stimme, mit der sie sich als Kind die Welt erklärten? Nichts wussten wir und verstanden doch soviel.

Nun leben wir heute in einer Zeit, die unglaublich ist. Jeder von uns trägt das Wissen der Welt in seiner Tasche. Die Bibliothek von Alexandria, die Werke von Goethe, Seghers, Kant und Hegel, die Thora, den Koran, die Bibel, die Baupläne der Internationalen Raumstation, die gesammelten Werke von Douglas Adams. Jeder von uns kann sie in einem Augenblick aufrufen. Was tut das mit uns? Was wird es mit uns in der Zukunft tun?
Ist Wissen wirklich nur das Abrufen von Daten?

Mir deucht, im Angesicht dieser alles verändernden Technologie, gibt es einen Punkt, den wir uns vor Augen halten müssen: Vor jedem wissen kommt das lernen. Und lernen ist ein Teil von Gemeinschaft. Lernen ist Identitätsstiftend. Wir werden immer mehr zu einem Netz, durch das wir verbunden sind. Dieses Netz bestimmt, was möglich ist, was erlaubt, was wichtig und richtig ist. Dieses Netz ist die Zukunft von Bildung. Bildung sind nicht die Fakten, Bildung sind die Stränge, die diese Fakten vernetzen und in Relation setzen.

Bildung ist die Auswahl, welches Wissen wir anwenden. Und Bildung ist der Grundstock, um welchen die Pflanze unseres Charakters und unserer Persönlichkeit rankt. Und diese Grundstöcker sind es, an dem die Ranke unserer Gesellschaft wächst.

Bildung ist angewandtes Wissen. Ein sehr schlauer Mensch sagte mir einmal:
"Wissen ist es, zu wissen, das die Tomate eigentlich eine Frucht ist. Bildung ist es, sie nicht in den Obstsalat zu tun."
Das aus Wissen Bildung wird, ist unserer grosse Herausforderung für die Zukunft. 

Welches Wissen soll den Kanon bilden, mit dem wir als Menschen voranschreiten? 

Diese Entscheidung werden wir gemeinsam treffen, denn sie entsteht in Kommunikation. Nicht zuletzt deshalb, stehe ich heute hier mit der Hundertjährigen. Denn kein Ort ist wie die Volkshochschulen dazu gedacht, in diesen Austausch zu treten. Da wo Universitäten, Hoch- und Berufsschulen Wissen zu einem konkreten Zweck vermitteln, stellen die Volkshochschulen die Möglichkeit eines Marktplatzes der Ideen außerhalb der konkret ablesbaren Verwertung dar.

Diese Freiheit ist es, die Volkshochschulen so wichtig macht. Als Ort des ungebundenen Lernens. Der Augenhöhe und dern gelebte Gleichheit. Dass diese Werte nicht in Zahlen ausgedrückt werden können, macht die Darstellung ihrer Wichtigkeit unglaublich schwer. Aber bestimmt ist es wie bei allen wirklich wichtigen Dingen im Leben: Mit Zahlen können wir ihnen nicht gerecht werden.

Aus der Richtung derer, die den Menschen systemisch nutzbar machen müssen, schallt auch manch einmal die Verächtlichmachung dieses Ansatzes. Von den Logen der Hyperfakultäten aus. In einer Gesellschaft, die getrieben ist vom konkreten Nutzen des Menschen, ist es nur Selbstschutz, die Zwischentöne der Freiheit und der Selbstbestimmtheit als Angriff zu verstehen.

Aber, wir haben beides und es ist genau diese Bandbreite, die diese Stadt ausmacht, mit der wir arbeiten: Wir brauen Bier und bauen Raumschiffe. Manchmal auch gleichzeitig.

So vieles gibt es voneinander zu lernen. Die Ernsthaftigkeit der Universität und die Leichtigkeit der VHS. Wer auch immer auf die Idee gekommen ist, Bildung in Creditpoints zu bewerten, Humor hatten sie.
Wie schön wäre die Rückkehr des Studium Generale in die Universitäten, die Hochschulen, die VHS und in die Privatgesellschaft. Wo ist die Vorbereitung auf das Leben? Wir sprechen vom lebenslangen lernen, und doch frage ich: Wo ist denn die ewige Studierende geblieben? 

Was wir brauchen, ist ein Grund und keine Belohnung für Bildung. Ein Anspiel dafür, dass Bildung ihren Wert in sich selbst trägt. Wir brauchen Menschen, an denen wir ablesen können, was Bildung mit und für einen jeden Menschen tun kann. 

Jemanden, der die Grundsätze der Lehre verstanden hat. Bildung ist immer ein Austausch. Sie funktioniert nicht einseitig. Um Nietzsche mal mit Hegel zu betrachten: Wenn du lange genug in die Schülerin blickst, dann blickt die Schülerin auch in dich. Und das ist auch gut so. 

Nun gibt es genauso wenige gute Lehrer wie es gute Schüler gibt. Ich bin beides nicht. Das ist schrecklich zu sagen und doch fühlt ein fast jeder so. Das ist nicht die Schuld der Lehrerinnen und Lehrer, es ist die unsere. Sie sind Opfer eines Bildungssystems, welches zermahlt und mürbe macht. 
Aber jeder von uns erinnert sich an einen Menschen in seinem Leben, an jemanden, der im richtigen Moment das richtige sagte. Der mit sanften Worten unser Leben leitete, zusammenfasste und instinktiv wusste, was in genau dem richtigen Moment das Stück Wissen ist, welches uns einen neuen Horizont eröffnet und uns für ein ganzes Leben prägt. Wir brauchen diese Menschen so dringend. 

Es gibt sie, diese Menschen, die eben dies vermögen. Der Beruf des Lehrers war solange Menschen gedenken einer, zu dem die Menschen auf sahen, dem eine unglaubliche Wertschätzung entgegen gebracht wurde. Aus so guten Gründen. Auch weil wir etwas vergessen haben: Ebenso wie wir alle ein Leben lang Schülerinnen und Schüler sind, sind wir auch Lehrende. Niemand bildet diese Gleichheit so sehr ab wie die Volkshochschule. Meine Hochachtung gilt denen, die diese Menschen so unermüdlich finden. Aus allen Bevölkerungsschichten, aus allen Farben der Bildung. Ein gute Lehrerin, ein guter Lehrer ist so unglaublich wertvoll. Und das müssen wir ihnen auch wieder sagen.

Nun stehe ich hier vor ihnen. Im ehrwürdigsten Gemäuer dieser Stadt, vor ihnen, vor Menschen, die dieser Stadt seit Jahrhunderten zum Guten gereichen. Ich habe kein Abitur. Ich habe nie eine wirklich höhere Schule besucht. Und doch stehe ich hier. 
Weil das hier meine Stadt ist. 
Weil es Institutionen wie die Volkshochschule gibt, die ein Beweis dafür sind, was ich glaube: Dass hier noch Gleichheit herrscht, im lernen und im lehren. Die Gleichheit, die uns gerade durch die Finger zu rinnen droht. 

Wir bewegen uns durch Zeiten, in denen dem Geist, dem Intellektuellen, dem Wissen, mit Geringschätzung gegenüber getreten wird. Das kreischende Klagelied unserer Zeit trägt den Namen: Haben Statt Sein. Dafür gibt es viele Gründe. Wenn nur noch Härte und das Gewinnen zählt, ist kein Platz mehr für leise Töne, dafür sich Zeit zu nehmen und nachzudenken, zu überlegen, ab zu wiegen. Die innere Welt, das wissen, das lernen, das bilden, sind leise Orte. 
Deswegen wird in Bibliotheken geflüstert.

Im Scheppern und im Krach der Welt gibt es kaum noch Orte zum zuhören. Den anderen nicht und sich selbst ebensowenig. Und wenn wir nicht mehr zuhören, dürfen wir uns nicht wundern, wenn plötzlich die Lautesten gewinnen.

Dieser Krach, dieses Geballer, diese Lautstärke und diese Verwirrung sind es, aus dessen noch warmen Schoss gerade das kriecht, das wir niemals wieder zulassen dürfen. Wir stehen an einem Ort der Zeit, an dem eben dies nicht oft genug gesagt sein kann: Nie wieder. Nie wieder das Geschrei, nie wieder der Krach, nie wieder die Fanfaren, unter deren Lautstärke wir schon einmal die Schwachen, die Zarten, die Leisen haben allein gelassen.

Es gibt nicht vieles, an dem das Gute der Welt zu erkennen ist, aber eines doch: 
Es ist von sich aus niemals laut.

Und genau deswegen brauchen wir Orte der Stille. Orte der Einkehr. Des scheinbar unproduktiven Verweilens und der leisen neuen Bindung. Orte der Gegenseitigkeit. Wir brauchen neue Inseln. 

Wir haben Erfahrungen mit diesen Inseln. Da draussen, am zweiten Bogen unseres Rathauses, springt unsere Gluckhenne aus dem Boot auf die Düne, auf die Insel, die einst diese Stadt werden sollte. Die Frage ist: Würde uns diese Glucke heute, im Wallen und Grollen unserer Zeit noch auffallen?

Fünfzehntausend Jahre seit dem ersten Tempel. Hier sind wir. Wir brauchen Orte. Für Bildung, für Sicherheit und vor allen Dingen, um neue Werkzeuge für eine Zukunft zu schmieden, in denen das Weiche, das Schlaue, das Humorvolle, das Hintergründige, das Verbindende die Oberhand gewinnt. 

Ich sprach in den letzten Wochen mit Menschen, die mir von ihren Gefühlen über die Zukunft erzählten. Selten waren es gute. Aber ich bin mir sicher, dass da Hoffnung ist. Hoffnung die unser Antrieb sein sollte, selbstbewusst in die Zukunft zu schreiten. Mut zu haben und denen die Stirn zu bieten, die unsere Werte von Freiheit und Gleichheit angreifen. Mag es anstrengend sein, mag es uns erschöpfen, aber eines ist klar: Niemals dürfen wir den Mund halten, wenn jemand, das Kleine, das Lernende, das Wissende, das Schöne, das Feine und die Zwischentöne bedroht. Es ist an uns zu handeln.

Wir alle wissen, wohin es in diesem Land führen kann, wenn wir schweigen. Wir müssen diese Gegenrede führen, auf unseren alten und neuen Inseln, in diesen ehrwürdigen Hallen und am lautesten auf den Straßen unserer Stadt und dieses Landes.

Wir sind hier um Zukunft zu machen und die beginnt bekanntlich genau:
Jetzt.

Alerta. 
Tempus fugit.

Vielen Dank. 






Sönke Busch – Bomben auf Utopia

Tag 1 (1.12.2011)

Das Universum

Eines der Geheimnisse des Universums, von allem und sowieso ist ja Folgendes:
Wieso - auch wenn man Lichtjahre entfernt vom nächsten intelligenten Leben steht -, wieso macht es einen so fertig, wenn einem die eigene Frisur nicht so gut gefällt?
Das ist die gleiche Frage, wie die Frage, ob ein Baum, der im Wald umfällt, ein Geräusch macht, obwohl keiner da ist, um es zu hören.
Und noch mehr die Frage, ob es wirklich lustig ist, wenn ein dickes Kind im Wald umfällt und nur die Bäume da sind um zu lachen.
Nun gibt es im Universum aber nicht einfach so Bäume. Bäume sind ja meistens eher das Ergebnis von kleineren Sachen, kleineren Dingen, welche sich zusammen finden und sich entscheiden, gemeinsame Sache zu machen, und auch wenn Chemiker und Physiker gerne etwas anderes behaupten, so ist auch dieses - wie jedes Zusammenwachsen - in erster Linie eine Frage der Sympathie.
Und dann, wenn sich zwei Teile so toll sympathisch sind, dass sie ein dermaßen super Pärchen abgeben, dass in ihren Herzen noch genug Platz für andere Geschlechtspartner ist, dann schaffen sie es vielleicht, so viele Teile zusammen zu sammeln, dass sie am Schluss, ohne dass sie es selber merken, ein Baum sind.
Nur passiert so etwas nicht mitten im Weltall, sondern eher irgendwo, wo es gemütlicher ist als bei einer Hintergrundstrahlung von minus 270 Grad Celsius.
Das ist das allergrößte Problem am ganzen Sein im Universum!
Es ist eigentlich immer kalt, immer ungemütlich, und meistens ist im Umkreis von Abermillionen Lichtjahren niemand, der einen lieb hat, sagt, dass man toll ist, dass die Haare fetzig aussehen oder wenigstens mal eine Pizza mitbringt.
Nun denn, warum denn dann überhaupt Universum? Was hat denn das mit Bremen zu tun, könnte man sich ja denken, bevor man sich denkt: Naja -  stimmt: Das ist ja auch da drinne – im Universum!
Es geht ja darum, heut - am ersten Tag - die Dinge einmal vom Grunde her zu erfassen. Und es ist schon schwierig, etwas zu verstehen, wenn man das Außenherum nicht kennt. Da kommen die Leute dann nämlich schnell und sagen, dass Dinge aus dem Kontext gerissen wären.
Blöd nur, dass ja keiner den Gesamtkontext kennt!
Der hieße ja Weltformel, und die haben schon ganz andere nicht gefunden!
Fassen wir all das einmal sehr grundlegend zusammen, denn, und das ist ja schon problematisch: So richtig grundsätzlich, da geht ja kaum jemand die Dinge an.
Und da das fast niemand tut und wir ja genug Zeit haben, ist es jetzt genau das, was wir hier tun wollen.
Also:
Es geht um Grundsätzliches, und wenn denn einer so will, dann geht es darum, sich erst einmal etwas Einfaches zu betrachten, einmal den Anfang zu sehen und dann später zu sagen: Ja, stimmt! Na, da schau einmal her, das hier, das ist das Entscheidende gewesen damals - jetzt nicht mehr, aber, als  das alles angefangen hat -; das erklärt schon ganz gut, warum jetzt alles so ist wie es ist!
Ein Verständnis für das Hier und Jetzt, da glaube ich fest dran: Das macht zufrieden. Verständnis entsteht aus wiederholter Erfahrung, und Verständnis aus Erfahrung, das nennen viele Bildung, und die Bildung davon, wie Menschen so sind, die nennt man Menschenkenntnis, und Menschenkenntnis, das ist schon das Wichtigste im Leben, weil man eigentlich nur durch eben diese bemerkt, dass man älter und weiser wird.
Die Kenntnis vom Menschen ist das, was einen klugen Menschen zum weisen Alten macht.
Antizipation wird es dann wohl genannt, wenn einer schon vorher weiß, was das Gegenüber tut.
Für einen tollen Menschen kann das bedeuten: Wenn gerade jemand neben einem sitzt, der ein Bier in der Hand hält - dass der tolle Mensch beobachten kann, wann das Bier alle ist, um dem anderen mit einem weiteren Bier eine Freude zu machen.
Für einen nicht so tollen Menschen kann es bedeuten, sein eigenes Bier genau dann auszutrinken, wenn der andere gerade aufsteht, um sich ein neues zu kaufen, und ihn dann zu bitten, doch bitte noch eines mitzubringen, das Geldbezahlen verschweigt und sich darauf verlässt, dass der andere sich wohl kaum die Blöße geben wird, nach Geld zu fragen.
Ein kluger Mann würde sich dann wehren, kein Bier mitbringen und auf den Hinweis des Bittstellers, er sei ein Geizkragen, erst nicht und dann mit einer Kneipenschlägerei zu reagieren.
Doch hier kann man sehen, was den klugen Mann vom weisen Alten unterscheidet:
Ein weiser Alter trägt immer eine Schusswaffe bei sich.
Doch er wird nicht morden, denn er weiß: Früher, da war er auch nur klug, nicht weise. Er hat Verständnis, und er weiß, dass auch der kluge Mensch nur selten den anderen wegen eines Bieres ersticht. Das ist das Verhalten der Dummen, der öffentlich Emotionalen, der Uninteressierten, oder - um beim Bild von eben zu bleiben - der Ungebildeten.
Nun, diese Annahmen sind oft richtig - nicht immer, man sollte da schon genauer hinschauen. Es ist immer gut, sich umzuschauen und möglichst schnell zu beurteilen, wer einen vermutlich umbringen würde, wenn man ihm die Chance geben würde. Das ist sicherer. Und - nie zu vergessen - Paranoia vertreibt die Langeweile!
Warum der Mensch an sich den anderen Menschen öfter leben lässt, statt das Leben des anderen zu beenden?
Eigentlich ist das nur durch Faulheit zu erklären. Und mit sonst nichts!
Die einzig mögliche Einsicht liegt wie immer in einem selbst.
Wie so oft: Die Konsequenzen wären einfach zu anstrengend.
Das ist eine Einsicht!
Und wenn zwei Leute eben dies bemerken und sich jeder ein Haus baut, dann haben wir eigentlich schon eine Stadt, dann wohnen alle auf einem Haufen, und dann geht es erst richtig los.
Also: Von Anfang an:
Wenn einer durchs Weltall schaut, dann sieht er einen Stern.
Viele Sterne.
Sehr viele Sterne sogar.
Man sagt ja, ungefähr 100 Milliarden mal einhundert Milliarden gibt es. Und das sind ja nur die Sterne - und so Dinger wie die Erde, die sind ja noch gar nicht dabei!
Und wenn man sich dann die Sterne anschaut, sieht man ja nur dieses Licht, das die Sterne schicken.
Dieses Licht, das es irgendwie in Milliarden von Jahren geschafft hat, nirgendwo gegen zu fliegen, also: An allem vorbei zu fliegen.
Und nur, weil es an allem vorbei geflogen ist, kann dieses Licht von diesem Stern ja überhaupt von einem Auge gesehen werden.
Und dann schaut man es sich an, und in dem Moment, wo das Licht ins Auge fällt, da löscht das Auge dieses Licht ja aus!
Muss man sich mal vorstellen - kann sich kein Mensch vorstellen: Da fliegst du Milliarden Jahre weit durch das Universum - das ist ja auch nicht ungefährlich -, dann kommt einer und schaut dich an, und dann ist es aus und du ist tot und alles war umsonst!
Davon, dass der Weg das Ziel ist und so weiter, kann ja jeder erzählen - das ist ja schön und gut, aber ich würde mich ärgern, wenn ich im Schweiße meines Angesichts durchs Weltall zockelte, eine gefühlte Ewigkeit von ein paar Milliarden Jahren durchs Weltall zockelte, und am Schluss sind nicht Drinks und Pool und Sonne, sondern nüscht als das Auge von jemandem, den ich nicht kenne. Und mit Bremsen ist ja auch nichts, weil sie ja zusammenhängen:
Das Licht und die Lichtgeschwindigkeit!
Und du als Licht kannst ja versuchen auszuweichen. Aber wie das gehen soll? Mal anrufen - da sagt die Sekretärin: „Herr Einstein, hier ist Licht am Telefon, Sie hatten da doch „sone Idee!“.
Kannste ja nicht wissen, wem so ein Auge gehört, in das du hinein fliegst.
Denn, wenn es jetzt einem Menschen gehört, der zum Beispiel langweilig ist: Was für eine schreckliche Verschwendung! Oder - noch schlimmer - du fällst jemandem ins Auge, der nichts Gutes im Schilde führt!
Stell’ dir vor, wie eben dieser Tunichtgut nächtens im Sternenschein seinem Nachbarn in der Kneipe während der Stromausfalles etwas Böses mit einem Messer will!
Unerhört! Milliarden Kilometer Reise - und was macht der Unhold mit mir?
So geht es nicht! Respekt! Bitte!
Um das alles mit dem Universum, dem Universum, in dem unsere Geschichte spielen soll, die Geschichte von Justus und von Emma und von Maik und von Steffi, auch nur so ein bisserl verständlich zu umschreiben, bleibt eigentlich ja nur, es nicht zu tun.
Der Urknall, der große „Bumm“, liegt nun 13,75 Milliarden Jahre zurück. Das ist ungefähr so lang wie es dauert, unser Universum zu machen.
Und wenn einer und/oder eine sagt, meistens kann ich mich schon nicht mehr an den Abend gestern erinnern, weil ich doch so gerne einen trinke, dann ist das mit dem Urknall auch nicht leichter auf die Kette zu bekommen.
Denn bei aller Physik, da stimmt immer in erster Linie eins:
Gesoffen wird immer, und mit Sicherheit früher noch viel, viel mehr als heute -  und die Idee, dass der Mensch das Trinken erfunden hat - da finde ich, nimmt sich die Menschheit dann schon wieder eine ganze Ecke zu wichtig!
Auf jeden Fall ist alles um uns herum schon sehr alt, denn:
Es gibt ja nur eine Energie, und Energie, die kann nicht verschwinden, nur umgewandelt wird sie. Und wenn abends einer aus der Kneipe nach Hause geht, dann könnte gefragt werden:
Schluckenergie - war Schluckenergie vielleicht eine treibende Kraft im Universum? Und die Antwort ist: Nein, das Meiste an Energie kommt von der Reibewärme her. Und da sieht man ja schon mal wieder:
Liebe statt Saufen, das ist schon ein grundsätzlich besserer Lebenszustand!
Trotz alledem: Trotz all der großartigen Dinge, die es irgendwo gibt, trotz all dieser Energie und dem, was sie macht, und allem, was so da drinne steckt oder so dazugehört zu diesem ganzen Weltalldingsbums, ist der Weltraum in erster Linie einmal leer, und mit leer ist nicht gemeint: Da sitzen drei Typen an der Theke und ein Pärchen küsst sich da hinten auf dem Sofa!
Der Weltraum ist aber tatsächlich so:
Du stehst morgens auf, putzt dir die Zähne und fährst dann ganz entspannt bei Lichtgeschwindigkeit mit deinem Rennraumschiff herum, und nach zwei Jahren Niemand-Sehen denkst du dir: „Uff, ganz schön leer hier!“
Kein Mensch weit und breit.
Dieses „Niemand-Sehen“ ist natürlich aufgrund der Gewöhnung an Menschen sehr sonderbar und nach einigen Jahren fast unangenehm.
Die Menschen sind einem ja doch ans Herz gewachsen, etwa wenn sie schreien: „Zweite Kasse aufmachen, bitte!“ Oder aber auch: „Heben sie das bitte wieder auf!“ Oder einem vollkommen unaufgefordert und ungefragt erzählen, dass sie eigentlich nie Zeit haben und auf ihren Arm zeigen, wenn sie nach der Uhrzeit fragen, was ja wiederum so ist, wie auf sein Genital zeigen, um zu fragen, wo sich denn die Toilette befinde.
Hören sie das Weiße Rauschen?
Ganz leise ist es, kein Geräusch im gestressten Ohr, kein Geflimmer hinter den geschlossenen Augen, keine unangenehmen Gerüche - es ist warm und gemütlich und ganz umschlungen fühlt man sich. Es ist wie zu Hause, aber ohne eine Familie, die irgend etwas fragt. Eher so wie am Anfang einer Beziehung, wenn man die guten Sachen vom anderen schon weiß und von den schlechten noch keine Ahnung hat. Und dabei lecker Kekse isst (vielleicht von „REWE“).
Genau in dieser Leere des Raumes, da steht ein junger Mann. Vielleicht ist er dreißig - das ist ja heutzutage nur noch ganz schwer zu sagen. Ein wenig wirkt er so wie eine Mischung aus allen Menschen und Hunden, die man gerne hat, und einigen, die man nicht gern hat, aber respektieren muss, weil sie irgendwie cool sind.
Da steht er dann, und heißt Justus - und Justus, Justus aus Bremen, das ist der eine von den Vieren, um die es hier für immer gehen soll.
Justus im Weltall:
Es war dunkel, als Justus die Augen aufschlug. Nicht dieses „Augen-zu-Dunkel“ – irgendwie anders.
Was ihn verwunderte, war sein Gefühl, dass es noch etwas dunkler war, als es hätte sein dürfen. Mehr Dunkel, als die Abwesenheit von Licht erklären konnte.
Das war nicht das Dunkel, das aus der Abwesenheit von Licht besteht, es war das Dunkel, welches nur ausgebreitet wurde um etwas zu verdecken.
Etwas, das noch nicht für Menschenaugen gedacht war.
Etwa so wie das gelöschte Licht über dem Christbaum, wenn die Kinder den Raum betreten und umso heller strahlen, je dunkler der Raum ist.
Also schloss Justus die Augen wieder, drehte den kopf nach links und nach rechts, und da, als er wieder zurück nach links schaute, sah er einen kleinen, etwas ovalen Ball neben seinem Ohr schweben. Dieser Ball war aufgeteilt in blaue und grüne Flächen, durchsetzt von Beigetönen und ummantelt von einer hellen Atmosphäre, die bestückt war mit kleinen Wattebäuschchen, aus denen manchmal eine klare Flüssigkeit austrat.
Von dem Ball ging eine leichte Wärme aus, und er schwebte, ganz außerhalb der Naturgesetze der Anziehungskräfte, leicht und quietschfidel vor sich hin, ganz so, als würde er sich seinen Spaß schon machen.
Der Ball, blau marmoriert, ähnlich einem zu leben fähigen Planeten, wanderte um Justus Kopf herum und blieb vor seinen Augen stehen, so nahe, dass Justus schielen musste und ihm ein wenig schummrig wurde.
In diesem Moment sah Justus ein stecknadelkopfgroßes Blinken im Winkel seines Auges, welches sich langsam beschleunigte, auf den kleinen Planeten vor seiner Nase zusteuerte, diesen aber verfehlte und mit einem Pieksen an seinem Kopf aufschlug, abprallte, gegen den Planeten schleuderte und dort Feuer fing.
Funken stoben auf und trafen Justus’ Nasenlöcher, der blaue Planet geriet ins Trudeln und senkte sich langsam herab.
Ein Niesreiz durchdrang Justus’ Schädel, er öffnete zitternd die Lippen und begann Luft einzusaugen und atmete so den kleinen Ball ein, den manche Leute Erde schimpfen, der mitsamt seinen Bewohnern immer der Meinung gewesen war, niemandem etwas Böses zu wollen.
Hust! Hust! hustete Justus daraufhin. Hust! Hust! Und das Kratzen in seinem Hals verschwand.
Er räusperte sich noch einmal, aber sagte dann doch nichts, denn da war ja gar keiner, um zuzuhören. Und laut mit sich selbst zu sprechen, das ist immer noch ein Ausdruck von langweiliger Verstörtheit oder aber von Humor, und nach beidem war Justus nicht wirklich zumute.
Was geschehen war und wie er hier herkam, wie sich diese leichte Heiterkeit erklärte, die sich anfühlte, als gäbe es nicht Zeit, nicht Raum - sie ließ sich kaum erklären -, und das letzte, was sich noch an Erinnerung in seinem Kopf befand, war ein Zustürmen auf ein weißes Licht hin gewesen.
Der letzte Satz, den er gesprochen hatte, der letzte Satz, an den er sich erinnerte, handelte davon, dass er am Ende eines Tunnels ein weißes,  glänzendes, warmes Licht sähe, ein Ewiges Licht und dann eine vertraute, geliebte Stimme hörte, die sagte:
„Licht ist gut, mein Sohn, lauf hin zum Licht!“
Und dann noch ein letzter eigener Gedanke:
Was, wenn dieses weiße Licht, welches ja wohl ein jeder Mensch vor dem Tod sieht, was, wenn dieses weiße Licht nur das Licht deines neuen Lebens ist, das du durch den Muttermund deiner grad gebärenden neuen Mutter siehst?
This is Instant Karma.
Was auch immer dann geschehen war, es entzog sich Justus’ Kenntnis, und - ein wenig seltsamer Weise - ihm war genau das auch gerade relativ egal. Ein weißes Rauschen ergriff ihn, und es ging von außen nach innen, von überall her zur Erde.
DONNERSTAG 1.12.2011, IRGENDWO IM LANDKREIS BREMEN.
„EY, TRÄUMST DU??? PASS MAL AUF, WO DU RUMLIEGST!!!“
schrie ein hässlicher Bodybuilder aus seinem Toyota mit Kategorie- C- Aufkleber:
„PASS MA BESSER AUF! DO!“
Etwas kühl, fand Justus, etwas kühl war es ihm um die Hüfte, um die Schultern und um das rechte Ohr herum.
Er roch den unverwechselbaren kühlen Geschmack einer Flasche „Hemelinger“, nicht den schalen Biergeruch am Ende einer langen Nacht -  den Geruch, der besagte, dass der Abend schon vor Stunden geendet hatte, er aber dennoch wach und draußen war. Nein, dies war der erfrischende Geruch, der bewies: Ich habe nur ein paar Stunden in der Gosse an der Schnellstrasse geruht. Jetzt das Trinken zu beenden, das wäre eine Verschwendung von Geld und Energie und Schnaps!
Langsam drehte sich Justus auf den Rücken und öffnete die Augen.
Dann bemerkte er, dass die Kühle, welche er fühlte, wohl eher Nässe war, und bemerkte den Regen, der in sein Gesicht tropfte.
Justus’ Augen fokussierten sich wieder. Die Weitung der Iris ging zurück, und er landete mental wieder auf den Füssen.
Er fand die Welt eigentlich, wenn auch auf niederstem Niveau, erträglich und vergrößerte seine Schlucke von ein wenig – „Ich muss morgen noch so tun, als würde ich arbeiten!“ - auf ein Niveau, das sagte: „Ich wohne in einem Viertel, in dem ein anständiger Kater bei der Arbeit als Zeichen eines kreativen Menschen vom Auftraggeber respektiert, wenn nicht sogar vorausgesetzt wird!“
Justus richtete sich auf und zog sich aus eigener Kraft auf den Kantstein an der Seite der Strasse.
Durchnässt schaute er nach links und nach rechts und bemerkte einen großen Plastiksack, der neben ihm stand.
Und musste an den Anfang einer Geschichte denken, die einmal jemand über ihn geschrieben hatte:
Ein großer, schwarzer Plastikmüllsack, bis an den Rand mit großen, schwarzen toten und nassen Raben gefüllt, stand im strömenden Regen mitten auf der Schnellstrasse vor der Ausfahrt Bremen-Nord. Nicht weit davon entfernt saß Justus auf der Seite des Trottoirs, schaute auf seine nassen, schmutzigen Zehen und überlegte sich, wie das denn jetzt alles schon wieder geschehen war. Justus bemerkte den Regen erst, als ihm beim Aufstehen seine Hose an den Beinen klebte.
Gelangweilt schaute er an seinen Beinen hinab und alles was er dachte war: "Oh, meine Beine! Sie sind ganz lang und nass!"
Er ging zum Plastiksack, schulterte ihn und entfernte sich blanken Fußes aus der schwarzen Hölle von Lilienthal in Richtung Viertel.
Als er ging, fiel ihm ein alter Reim aus seiner Jugend ein:
„Leicht zu erlegen:
Ein süßes Rehkitz mit gebrochenen Beinen.
Leicht zu erleben:
Jeden verdammten Donnerstag mit mir.“



Tag 2 (8.12. 2011)

Emma’s End


Emma (12 Jahre)

Eine kleine Wolke trübte den Sonnenhimmel an diesem Tag im frühen Herbst. Sie warf einen Schatten, so klein, dass man mit einem Auge den Anfang und das Ende sehen konnte. Sie schwebte leicht und allein am Himmel und wirkte wie auf Urlaub von ihren Eltern, die wahrscheinlich gerade irgendwo in fernen Gefilden regneten. Eine kleine Wolke in Ferien.
Sie hatte auf ihrer Reise schon allerhand gesehen. Sie trieb schon lange über das Land, über die Meere, hatte diese Welt schon einmal umrundet und sich entschieden, noch eine kleine letzte Pause einzulegen, bevor sie nach Hause zurückkehrte. 
Eben diese Pause begab sich über einer kleinen Stadt, gar nicht weit von ihrer Heimat, oben im hohen Norden, dort wo alle Wolken geboren werden. 
Eine kleine süße Stadt war es und - von hier oben gesehen - leicht zu verstehen. Auf den Strassen liefen die Menschen, erledigten Dies und Das, gingen in ihre Häuser, kamen wieder heraus - und das Tag für Tag. Leider waren sie zu beschäftigt, um nach oben zu sehen, denn diesmal war es keine Einbildung: Über ihren Köpfen hing eine kleine Wolke, die lächelte und sich von der letzen Sonne des Jahres kitzeln ließ.
Nur ein kleines Mädchen namens Emma stand auf seinem Dach und sah dem dünnen Schatten der Wolke hinterher, der unten auf der entgegen gesetzten Straßenseite seine Bahnen zog. Da schaute es nach oben und sah das friedliche Lächeln am Himmel und lächelte zurück. 
Nur ein paar Meter war ihr Platz hier oben, über den Köpfen der Menschen, von ihrem kleinen Zimmer entfernt. Ihrem Zimmer, das die anderen ihr Zuhause nannten. Ein Zimmer, das nie hielt, was ein Zuhause versprach. 
Auch im bald beginnenden Winter würde es hier draußen wärmer sein. Konnte sein, dass man am Morgen verschnupft aufwachte! Oft stand sie hier, morgens, direkt am Ende des Dachs. Sie wusste wie gefährlich es war, sie wusste, dass niemand so einen Absturz überleben würde. Doch sie musste schauen, schauen, ob noch alles an seinem Platz war. 
Wie der alte Mann im Cafe gegenüber, der dort immer saß, Zeitung las und aufschaute, wenn er sie bemerkte. Zuerst hatte sie sich noch immer vor ihm versteckt, bis er ihr eines Tages zugewunken und den Finger in das Grübchen unter seiner Nase gelegt hatte. Er würde nichts verraten. Es war ihrer beider kleines Geheimnis. 
Dann zählte sie die Bäume, die hinter den anderen Häusern hervor ragten. Fünf waren es jeden Tag, nicht mehr und nicht weniger, und unter ihnen ein großer, der alle anderen überragte. Er stand weit entfernt, wiegte sich leicht im Wind und manchmal, wenn die Sonne schien, ging ein merkwürdiges Glitzern und Blinken von ihm aus. Eines Tages würde sie dorthin gehen und schauen, was das für ein Licht war. Doch die Tage gingen ins Land, und das Licht sollte noch lange ein Geheimnis bleiben.  
Dann schaute sie hinab auf die Häupter der Menschen, die zu alt und zu müde waren, um den Kopf noch zu heben. Nur wenn sie schrie, aus voller Kehle schrie und den Krach des Alltags in ihren Köpfen übertönte, drehten sie kurz ihren Kopf und schüttelten ihn kurze Zeit später, grad so, als hätten sie sich geirrt. Emma schaute über den Rand des Schornsteins, sie bewegte die Augen kurz nach links und rechts und musste lächeln. Ein Lächeln, wie sie es sich nur zugestand, wenn niemand ihr zusah. Ein Lächeln nach innen, ein Lächeln für sie selbst. Ein Lächeln, das vergessen machte - ein Vergessen um das Morgen und das Gestern. 
Immer öfter war sie hier oben, hielt es in ihrem Zimmer nicht mehr aus. Immer beklemmender wurde die Welt der Erwachsenen, die ihre Welt der Zukunft sein sollte. Ihr schnürte sich die Kehle zu, jedes Mal, wenn sie darin ihre Rolle spielen musste. 
Nur schlechte Schauspieler um sie herum, überall Lügen, die nur Kinder fühlen können, die noch nicht taub sind. 
Emma saß zwischen ihnen und verstand sie nicht, schlimmer noch, sie fühlte, dass sie sich selbst bald nicht mehr verstehen würde. Getrieben von hässlichen Träumen von einer Welt, die die Großen selbst zerstört hatten,  noch ehe es sie gab. Die schon von ihren Eltern für sie zerstört worden war und in der sie jetzt die Ruinen aufs Neue niederrissen. Sie hatten ein Leben aufgegeben, das nie eines gewesen war. Waren gestorben noch bevor sie tot waren. Hielten sich an ihren Zigaretten und ihren Gläsern fest. 
Bis sie die Zigaretten ausdrückten und die Gläser zerwarfen. So wie sie es mit Emma vorhatten. Da war sie sich sicher. Sie würde allein im Aschenbecher liegen und nach altem Rauch stinken, nur um dann am Boden zu zerschellen. Sie sollten doch da sein, sie beschützen vor dem Unwissen! Ihre Herzen sollten Emma vor dem Fall vom Dach dieser Welt bewahren! Sollten sie fangen mit ihrer Seele und ihrer Liebe! 
Nicht mit Worten, nicht mit leeren Gesten und dummen Geschenken. Sollten sie beschützen mit ihrer Wärme, vor dem Schwachsinn dieser Welt, vor den Gedanken der Fremden! Vor dem Schmerz und der Verwirrung des Alters! Vor dem Dreck der Sehnsucht in staubigen, alten Träumen!
Kalt schien die Sonne und der Schmetterling, der in den letzten Tagen immer über Emmas kleines Versteck hinter dem Schornstein flog, schien müde zu sein. Es war der Tag, an dem Emma beschloss, nie wieder in ihr Zimmer zurückzukehren. Es war zu laut und zu dreckig geworden. Sie war zu schwer und alt für ihre Jahre. Sie schaute, ohne zu denken, dem Schmetterling hinterher, der vor ihrer Nase hin und her tänzelte und sich schließlich auf ihrer Hand niederließ. Emma traute sich nicht, ihn zu berühren. Zu gefährlich!
Als die Abendsonne hereinbrach und sich schon anschickte, hinter dem Horizont zu verschwinden, merkte sie nicht, wie sich jemand aus dem kleinen Fenster schob, sich schwer zum Rande des Daches schleppte und die Jacke von den Schultern gleiten ließ. Emma hätte ihn nicht gesehen, wäre ihr Schmetterling nicht plötzlich, am Schornstein vorbei, zum Rande des Daches geflogen, dorthin, wo der Unbekannte auf das Ende des Daches und darüber hinausging. Kein Schrei – nur der Schmetterling der ihm in die Tiefe hinterher tanzte.
Einen kleinen Moment schwieg die Welt still, als Emma über den Rand des Daches hinaus schaute. Sie ließ sich auf den Rücken sinken, schaute in den Himmel, und die kleine Wolke über ihr begann zu regnen. Der alte Mann im Cafe legte den Finger an die Lippen, und der Baum in der Ferne schillerte in der sterbenden Abendsonne. 
Nie wieder wollte Emma am Abgrund stehen. Sie nahm sich die viel zu große Jacke, die jetzt wie entkernt auf dem Dach lag, kletterte leise in ihr Fenster und schlich sich für immer aus dem Haus.

EMMA (24 jahre alt)

Mein Zimmer, meine Wohnung ist mit ganz viel Mühe eingerichtet. Wer mich kennt, sagt immer: „Du, wer Dein Zimmer, Deine Wohnung kennt, der kennt dich!“ „Naja“, sag’ ich dann immer und werde ein bisschen rot. Neulich hat jemand gesagt, es sei ja ganz pittoresk hier, und ich wäre ja auch so ein pittoreskes Persönchen. Ich hab das zuerst nicht verstanden, dann hab ich nachgeschaut und fand das eigentlich ganz süß und so. Der Typ hat aber immer so geredet und, mal ganz ehrlich, da hab’ ich keinen Platz für in meinem Leben, für einen, der immer so redet, dass ich ihn nicht verstehe. Ich brauch’ so einen richtigen Mann, obwohl ich das nicht sagen würde, denn dann kommen ja immer die ganzen Typen angerannt, die sich für echte Männer halten. Eigentlich will ich einen, der immer ganz leise ist und nur ganz ab und zu mal so was sagt wie: Ich hab’ dich lieb. Nur keine Ich-liebe-Dich-Schwüre mehr!
Mein erster Freund, also der erste, bei dem ich mir dachte, das könnte was werden, neben dem willste jetzt immer aufwachen, das war’n echter Mann. Der hat mal was ganz Ehrliches zu mir gesagt, glaub ich: Das war in einer Zeit, als es bei ihm nicht so gut lief, in der Spedition und so. Da ist er nach Feierabend immer gerne ins „Horner Eck“ gegangen. Das war so eine Kneipe bei uns um die Ecke. Da war sein Vater früher schon immer gewesen, hat er gesagt. Da hat er mich dann abends geschlagen. „Das tut mir mehr weh als Dir!“, hat er immer gesagt, und ich hab ihm das auch geglaubt - eigentlich glaub’ ich ihm das bis heute. Dann hat er mich genommen - das war in der Zeit, als ich noch keine Kinder im Haus hatte.
Ich bin gleich am nächsten Tag weggelaufen, ins Frauenhaus. Aber da konnte ich nicht bleiben - die waren alle alt und total ausgebrannt und haben von ihren Männern erzählt. Die anderen Männer hatten aber nichts mit meinem Mann zu tun. Den hab’ ich in ihren Geschichten gar nicht wieder gefunden. 
Also bin ich wieder nach Hause, und er hat sich auch entschuldigt und so. Ich meine, er würde so was ja nicht machen, wenn ich ihm nicht wichtig wäre.
Irgendwann ist er dann gegangen, mit einer anderen. „Das hat nichts mit dir zu tun!“ hat er gesagt, und ich hab nur „fair genug!“ gesagt. Das hab ich mal im Fernsehen gehört, und ich sag’ das jetzt immer, ehe ich gar nichts sage. 
Naja, unser Kind ist tot. So bin ich zu meiner neuen Wohnung gekommen. Neuer Stadtteil, neue Wohnung. Ich hab’ mir alles neu gekauft, vom Salatbesteck bis zum Toilettensitz. Dass man das pittoresk nennt, wusste ich ja gar nicht!


JUSTUS (1)

Jedes Mal wenn ich vor dieser Tür stehe, trifft es mich wie ein kleines Obstmesser im Oberschenkel. Ich kann das nicht besser beschreiben. Der Schmerz ist zu gewöhnlich. Diese Tür sagt nicht viel. Die Farbe blättert nicht, sie ist nicht aus kaltem Stahl, und mit Sicherheit wird sie niemals in einem dieser Bücher „Türen der Weltmetropolen“ erwähnt. Unwahrscheinlich, dass sie irgendjemandem eine Geschichte erzählt. Wären die Menschen dieser Stadt aufgerufen, die Frage nach den unwichtigsten Gegenständen in ihrem Leben zu nennen - diese Tür wäre wohl ganz oben auf der Liste. 
Ich denke mir hier, an ganz genau diesem Ort, wenn ich auf dem unachtsam und lieblos hingeworfenen Asphalt stehe: Ob ich diesen Ort wohl jemals wieder sehe? Bei so vielen Dingen weiß man ja nie, ob man sie je wieder sieht oder auch nur jemals wieder an sie denkt.
Für viele mag das eine ganz schreckliche Vorstellung sein. Aber genau da trennen sich die Menschen ja oft. In die, die sich immer erinnern, und in die, die immer vergessen wollen. Mir war Vergessen immer wichtiger. Die Fehler der anderen vergessen. Ich hatte nie das Gefühl, irgendetwas von mir aus falsch gemacht zu haben, und wieso sollte ich mich wegen dem dummen Verhalten anderer ändern. Ich bin mir sicher, dadurch kein besserer Mensch zu werden! 
Die Tür öffnet sich sehr leicht, sie hat keine Klinke oder irgendeine andere Auffälligkeit. Wie gesagt, absolut assoziationsfrei. Nur ein wenig Druck, um sie das erste Stück zu öffnen - manchmal klemmt Sie dann ein wenig, und nie kriegt man den richtigen Dreh hin - immer schlägt sie laut auf und Leute, die dahinter sitzen, erschrecken sich, verschütten ihre Drinks oder beenden ihren Flirt. Ich richte meinen Blick nach unten, und es überrascht mich immer wieder, dass sich das Pflaster der Straße nicht ändert, wenn es in den Raum läuft. 
Es ist nicht so, dass dieser Raum auch nur im Geringsten meinen geschmacklichen Vorstellungen entsprechen würde. Ich bevorzuge alles in Weiß. Niemals im Leben würde ich irgendetwas so einrichten. Doch dass es hier so ist, ist genau das, was ich so oft brauche. Vielleicht, um mich in meinem Geschmack überlegen zu fühlen. Unantastbar. Wie ich gerne bin! Ob das was mit Angst vor Schmerz zu tun hat? Oh, ich weiß es nicht -  könnte schon sein! 
Ich weiß ja, dass ich im Nachhinein das Meiste gerne vergessen würde… Sekunde! - das hab ich dann doch gelernt: Ich erleb’ mittlerweile möglichst wenig, da spar’ ich mir das Vergessen! 
Ich komme seit bestimmt zwölf Jahren in diese Bar. Immer an den gleichen Tisch. Der Tisch steht auf einer kleinen Empore, direkt vor einem etwa gesichtsgroßen Glasbaustein, dem einzigen Loch in der Wand, welches auf die Straße blicken lässt. Interessant – nicht?
Ich trinke wieder. Nicht weil ich nicht wüsste, dass das Leben ohne besser wäre. Ist es bestimmt, hab’ aber nicht aufgepasst in der Zeit, in der ich nicht getrunken hab’. Hatte was Besseres zu tun. Halt - stimmt nicht! Hatte nichts zu tun. Nicht mal mehr Trinken. Das war eigentlich das Schlechte daran. Was anderes tun? 
Ja, ne… genau! 
Hab’ diese ganzen Asseln getroffen, die nicht mehr trinken - mit ihrem süffisanten Gesichtsausdruck und ihrer Meinung, irgendetwas geschafft zu haben. Als ob das Lösen selbstgemachter Probleme irgendeinen Menschen zum Helden machen würde! Peinlicher Status quo. Sehen sich selbst von außen und kommen sich besonders vor. 
„Ey, ich war echt ganz unten!“ 
Wärste mal da geblieben, hat dir besser gestanden! 
Verhalten sich wie bessere Menschen. Bessere Menschen gibt es nicht! Aber andere, die leichtgläubiger sind, holen sich Nackenstarre beim Hinaufschauen.
Ich sitz’ an meinem Fenster, voll auf Augenhöhe mit allen. Nur sehen sie mich nicht. Sehr angenehm! 
Ich krieg’ Kopfschmerzen, wenn ich dazu gezwungen bin, Menschen in die Augen zu schauen. Hab’ bei jedem Penner das Gefühl, als könnte er mir bis in die Seele gucken. Nicht mal nur gucken - ich hab das Gefühl, er könnte ohne Probleme einsteigen und das ganze so sorgsam zurecht gelegte Zeug in meinem Kopf durcheinander bringen! 
Aber es wird besser. Langsam wird es mir egal, wenn Menschen meine Lügen enttarnen. Je älter sie werden, umso lieber glauben sie alles, was ich von mir erzähle. Sie fragen nicht mal mehr. Da werd ich nichts mehr zerschlagen können! Die wissen, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. An Gott glauben sie immer noch. Gott, der Osterhase der Erwachsenenwelt!
Ich hab’ nie was anderes gemacht als zu lügen. Viele wenden ein, dass das zu sagen ja sehr ehrlich ist und dass doch sowieso alle lügen. Der ehrliche Mensch ist der, der nicht mehr merkt, dass er lügt. Dass sie das vergessen haben, nennen sie Erfahrung. Sie halten die Schnauze und tun so, als wäre Stille keine Lüge. Schweigen - als würde Schweigen nicht auch immer etwas bedeuten!

(Da läuft jemand am Loch vorbei. Jemand, den ich kenne. Eigentlich kenne nicht sie, sondern ihren Sohn.) 

Er war derjenige welcher mit sechzehn Jahren knapp hinter der polnischen Grenze Pornos drehte, nur unter dem Vorsatz, dass diese niemals in Deutschland veröffentlicht werden würden. In diesem Wissen ließ er doch einige scheinbar dramaturgisch wichtige „Praktiken“ an sich vornehmen. Praktiken, die Mütter nicht mögen und Väter nicht verstehen.
Es ist keine drei Jahre her, als sein ehemals bester Freund sie im Internetz fand. Guter Spaß für alle, die René kannten. Schlecht für seine Drogen- Reha. René ist mein Lieblingsglobalisierungsopfer im Privaten.
Jetzt ist René tot. Leider nicht aus Scham oder wegen der fatalen Japan-typischen Internetsucht.
René war immer der vier Jahre ältere Versager, den es wohl in jedem Landstrich dieser (schönen) Welt gibt. René schmiss Steine, wenn andere nur Schneebälle hatten. Er warf keine Steine in Schneebällen. Er warf einfach scharfkantige faustgroße Steine, das aber auch nur so lange, bis er auf ein Gotcha-Gewehr mit roten Farbkugeln umstieg. Dadurch, dass er die Waffe in Sniper-Manier aus seinem Fenster heraus benutzte, sorgte er in meinen frühen Jugendtagen für tolle „special effects“ an kleinen Kindern. Im Gedenken an den Tod lernten viele Eltern kleiner Kinder ihre Kinder wirklich zu lieben. Danke René!
Später dann - ich muss gerade 15 gewesen sein - kam ich einmal in eine mir sehr unangenehme Situation: Ein paar Teens mit Migrationshintergrund (Türken) wollten „Es“ mir mal so richtig zeigen. Nur zum Spaß. Natürlich konnten sie nicht antworten, als ich sie fragte. Nach einer mittelmäßigen „Packung“ nahm mich Rene zu Seite und sagte mir einen der Sätze, die mich bis heute verfolgen. Er setzte sein wütendes Gesicht auf, ein Gesicht, welches ich erst Jahre später in einer polnisch-proletarischen Niederklasse-Erotikgroteske wieder sehen sollte.
Es folgte einer der Sätze, die ich gerne im Quartalsrhythmus dialektisch neu rundum beleuchte. Von diesen Weisheiten gibt es einige - gerne habe ich sie immer wieder in unpassenden Situationen im Kopf. Übrigens: Meine Lieblingsweisheit für einsame Stunden in Bizarrowelt ist: „Du musst dir dein eigenes Grab schaufeln!“ Ein top wohlgemeinter Tipp eines lokalen Arschbombenprofis im Regionalschwimmbad. Er sagte das fast weinend, als ihn seine Freundin vor den Augen aller verlassen hatte. Er sagte es zu mir, wohl weil sein unendliches Wissen über „Bomben“ der letzte Halt in seinem Leben war. 
Er meinte damit den Moment des Eintauchens und des Zurücklehnens bei Wasserberührung des ausgestreckten Beines bei der klassischen Einbeinbombe. 
„Du musst dir dein eigenes Grab schaufeln!“ - oft denke ich es mit düsterer Stimme. Toll!

Aber zurück zu Rene.  
Sein Satz lautete: 
„JUSTUS, WISSEN KANN GEFÄHRLICH SEIN!“
Noch ein Satz, den ich über die letzten Jahre oft genug im Unzusammenhängenden immer neu reflektiere. Viel Weisheit für einen dummen Mann!
Vorgestern traf ich seine Mutter, die nach wie vor in meiner Nachbarschaft wohnt. Als ich mich nach dem Befinden ihres Sohnes erkundigte, wurde sie sehr schweigsam und sagte nur in kurzen Worten. 
„JUSTUS, RENÉ IST TOT!“

„Justus, Wissen kann gefährlich sein!“

Nachdem ich große Augen gemacht und Mitleid geheuchelt hatte – yak!, yak!, yak! -, fragte ich, was geschehen wäre. So antwortete sie mir im Original: 
„Stefan hat ihn nachts und betrunken von der Erdbeer-Brücke in die Weser geschubst! René WUSSTE doch nicht, wie man schwimmt!“ 
„JUSTUS, WISSEN KANN…!“ Naja…


EMMA(29)


Ich steh im Halblicht des endenden Tages. Ein halbblinder Spiegel entzieht meinem Blick die Farbe - ich bin mir sicher, ich werde langsam schwarzweiß. Die Farbe blutet aus. Ich habe die bunten Tage noch im Kopf, doch sind sie in den letzten Jahren immer grobkörniger geworden. Wirre Farbflächen, die ihre Bedeutung verlieren.
Ich steh’ in meinem Badezimmer, vor meinem Waschbecken. Das Wasser hat die Fähigkeit verloren, mich zu reinigen - den Schmutz abzuwaschen. Waschungen erfolgen nur noch innerlich mit Alkohol. Was für ein kleiner Mensch, was für ein schäbiger Ort auf einer verlorenen Welt! 
Dann denk’ ich, als ich unter der nackten Glühbirne, die über dem Becken baumelt, stehe, wie grell sie ist, schau’ in den Spiegel und schließe die Augen für ein paar Sekunden. Öffne sie schlagartig wieder, und im ersten Moment finde ich mich fast angenehm anzuschauen. Es ist so ähnlich wie ein Rollstuhlfahrer, der morgens aufwacht und vergessen hat, dass er keine Beine mehr hat! 
Ich muss irgendetwas verändert haben, schau an mir herunter und muss mit Bedauern feststellen, das es schon wieder nur äußerlich ist. Leider mit speziellen Mitteln abwisch- und abwaschbar!
Links neben dem Becken die Pinsel, die Farben und Quasten zum Anmalen, rechts die Cremes, die Watten, die Spachtel und Säuren zum Abmalen. Ich in der Mitte. Es ist wie auf einem Industrielaufband: Ich zieh’ von links nach rechts am Spiegel vorbei, meine Arme und Hände sind wie schwitzige alte Arbeiter, die auch schon mal motivierter und interessierter waren. 
Für Außenstehende wäre es mit Sicherheit interessant, das Auseinanderwachsen von Körper und Kopf im Alter zu beobachten. Leider gibt es da keine Außenstehenden. Bist alt genug, kommst klar damit!
Die Wohnung hat nur ein Zimmer, und da ich das Sachen machen eingestellt habe, ist es nur mit einem Bett voll gestopft. Das reicht. 
Durchs Badezimmer hindurch geht es direkt auf den Bürgersteig. Als ich noch Sachen gemacht habe, habe ich mal gestoppt: 1,5 Sekunden vom Tiefschlaf auf den Gehsteig. Kann mit dieser Art von Information nichts mehr anfangen. Egal. Egal war mal etwas sehr Gutes für mich - es gab mir Leichtigkeit. 
Jetzt ist es nur noch traurig.

Manchmal antworte ich auf Kontaktanzeigen. Ich habe Ordner angelegt. Drei Schwerverbrecher, die lebenslänglich im Knast sitzen, glauben, dass ich sie bald heirate. Sitzen alle in einem Knast. Sie wissen noch nichts voneinander. Wenn ich schon nicht meine eigene Geschichte schreiben kann, schreib’ ich halt die der anderen. 
Menschen interessieren sich nicht sonderlich für mich, seit mein Gedächtnis verloren hat, wofür sie sich zu interessieren glaubten. Mir ist das recht angenehm. Ich rede nicht besonders gerne, hab’ ich noch nie - war lange Zeit nicht notwendig - die Männer wussten immer, was sie wollten. Am schlimmsten war es, wenn sie etwas über mich wissen wollen. 
Jeder, mit dem ich spreche, weiß anschließend mehr über mich als ich selbst.


JUSTUS (2)


Es ist immer wieder erstaunlich wie ich auf niemanden wütend sein kann. Irgendwann hab ich das hier mal zu einer Frau gesagt, die mir so gar nicht wichtig war:
„Klar würde ich für dich sterben, ich würde sogar recht gerne für dich sterben, nicht weil du so wichtig wärst, nein, eher weil ich so vollkommen egal bin!“ 

Ich hab nicht mehr zugehört, deswegen weiß ich nicht, ob sie es für ein Kompliment genommen hat. Auch nicht so wichtig! Auf der anderen Seite: Was ist schon wichtig an Tagen, an denen ich mir denke, dass der Moderator Johannes B. Kerner, welcher meine Generation anführt, jetzt schon so große Ohren hat. Die wachsen ja immer weiter, und - by the way - wussten sie, dass Wale gar keine Fische sind. Ich würde gerne mal eine Liste mit Weisheiten dieser Art aufstellen. Aussagen, mit denen sich Menschen disqualifizieren, passen mir sehr gut!

Listen haben mich schon immer fasziniert. Irgendwann, es muss diese Zeit gewesen sein, als ich dachte, es gäbe nur Ja und Nein, habe ich diese Liste erstellt. Inzwischen bin ich natürlich klüger und längst über das Ja oder Nein und das Entweder-oder hinweg. Natürlich weiß ich mittlerweile, wie es sich für einen anständigen Mittzwanziger gehört, dass alles vollkommen egal ist. Jetzt nicht im Angesicht des Universums, oder so. Einfach so. Sehr egal. Vollkommen egal. Egal halt!





Bus oder Bahn
Gras oder Hasch
Joint oder Bong
Flasche oder Dose
Nord oder Süd
Mallorca oder Ibiza
Ramones oder Sex Pistols
Tochter oder Sohn
Bier oder Wein
Buch oder Film
Arsch oder Titten
Benz oder BMW
McDonald’s oder Burger King
Schwein oder Rind
Knack oder Back
Fleisch oder Fisch
Lehre oder Uni
Notorious B.I.G. oder 2Pac
Israel oder Palästina
zusammen oder allein
warum oder wieso
vorne oder hinten
Blumen oder Pralinen
Knight Rider oder Baywatch
Tango oder Flamenco
Dj Bobo oder Dj Ötzi
schnelle Zombies oder langsame Zombies
Martina Navratilova oder Steffi Graf
spucken oder schlucken
Playboy oder Hustler
Johnny Cash oder Tom Waits
PC oder Apple
Schwarzenegger oder Stallone
Berge oder Flachland
Berg oder Strand
Mann oder Frau
Seife oder Duschgel
kurze Haare oder lange Haare
80´er oder 90´er
draußen oder drinnen
warm oder kalt
Beck’s oder Heineken
Bier oder Gras
Gras oder Koks
Indien oder Amerika
Schwarz oder Weiß
Polizist oder Gangster
Hand oder Zunge
hart oder weich
schnell oder langsam
tief oder flach
lieben oder ficken
bleiben oder gehen
reden oder zuhören
Tee oder Kaffee
Weißbrot oder Schwarzbrot
Wurst oder Käse
Sekt oder Selters
Arsch oder Pussy
groß oder klein
lang oder dick
Party oder DVD
Garten oder Balkon
zufällig oder vorsätzlich
sowohl als auch oder Entweder-oder
jetzt oder nie
ganz oder gar nicht
Madonna oder Kylie
Maffay oder Petry
Cave oder Waits
Leben oder Sterben 
Kunst oder Kommerz
Zeit oder Geld
barfuss oder Lackschuh
Moore oder Connery
Hasselhoff oder Selleck
Bild oder F.A.Z.
Fernseher oder Zeitung
schnell oder gut
Wolf oder Schaf
Schokolade oder Vanille
Sitzen oder Stehen
Stehen oder Liegen
oben oder unten
starke Zigarette oder leichte Zigarette
Rotwein oder Weißwein
trocken oder lieblich
zu Dir oder zu mir
lustig oder ernst
feucht oder trocken
Stuhl oder Barhocker
Rauchen oder nicht Rauchen
9till5 oder 5till9
BRD oder DDR
Bar oder Tisch
Fussball oder Tennis
Porno oder Drama
Gummi oder Pille
Ski oder Snowboard
weite Hose oder enge Hose
Slip oder Boxer
Stones oder Beatles
Schiessen oder Schlagen
Schlagen oder Treten
fürchten oder gefürchtet werden
Fisch oder Vogel
mit Filter oder mit ohne Filter
Brille oder Kontaktlinsen
geistig behindert oder körperlich behindert
ganz oder gar nicht
Salz oder Zucker
Tag oder Nacht
ohne Arme oder ohne Beine
taub oder blind
Schönheit oder Humor
Dschungel oder Weide
Meer oder Schwimmbad
kompliziert oder einfach
Krankheit oder Unfall
Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang
Rock oder Elektro
Gitarre oder Klavier
Heirat oder Freundschaft
Partner oder Freunde
nüchtern oder voll
links oder rechts
Wissen oder Können
Handy oder Festnetz
Gemälde oder Foto
Vergangenheit oder Zukunft
Ferris Bueller oder Parker Lewis
Cockroach oder Jazz
Trinken oder Flirten
Sex oder Masturbation
Hals oder Ohr
Erde oder Himmel
Kino oder Konzert 
RTL oder ARD
Roman oder Kurzgeschichte
Weihnachten oder Geburtstag
Jesus oder Mohammed
Rap oder Rock
Zug oder Flugzeug
Parfüm oder Natur
Hippie oder Rocker
Stift oder Pinsel
Schreiben oder Lesen
Knüppel oder Messer
 ein Bier oder zehn Bier
Himmel oder Hölle
Laufen oder Fahren
aufhören oder weitermachen
Kreischen oder Brüllen
glücklich oder traurig
wissen oder meinen
ja oder nein
Vorname oder Nachname
Mord oder Selbstmord
Star oder Fan
Musiker oder Schauspieler
Schweigen oder Schreien
Epos oder Witz
Lachen oder Weinen
Harald Schmidt oder Stefan Raab
Lieben oder Sterben

?


Verwenden sie nach der Lesung diese Fragen, um ihre Bekannten und Freunde zu überprüfen. Bei einer Unstimmigkeit der Antworten von über 15 % hat eine weitere Freundschaft keinerlei Wert.

Mit Bekannten Schluss machen ist eine in seinem Humor unterschätzte Tätigkeit. Die ermüdenden Beziehungsbeendigungsorgien erscheinen bei Menschen, mit denen mensch nicht fickt, frisch und erheiternd! 



EMMA (30)


„Sag’, dass du mich liebst!“ hat er gesagt. Weil ich beim Beischlaf geweint habe. Hatte nichts mit ihm zu tun. Lief einfach so los. Nur ein paar Tränen. Ich habe lange nicht geweint. Scheidensekret hatte die Aufgabe von Tränen übernommen. Da kam immer ein bisschen, wenn ich mir vorgenommen hab, ein bisschen geil zu sein. Geilheit kenn’ ich noch, Trauer eigentlich weniger. Hat ja auch gar nichts und doch ganz viel miteinander zu tun!
„Erst wenn alles scheißegal ist, macht das Leben wieder Spaß!“, hat einer aus Bremen mal gesagt. 
Ich denk’ mir gerne, dass mir alles egal ist, aber, wenn ich ehrlich bin, wäre ich schon längst tot, wenn mir wirklich alles egal wäre. Feigheit ist das, was mich am Leben hält!
Hätte ich als junge Frau nicht mein Aussehen gehabt, wäre das alles schon viel früher und schneller den Bach runter gegangen. Irgendwie hat mir das angegafft- und angegeilt-werden einen Sinn im Leben gegeben. Keine Ahnung, welchen! Nie einen, der die erste Geilheit, die ersten Steifen, die erste Feuchtigkeit überstanden hätte. 
Es gab mal ´ne Zeit, da wollte ich hässlich sein, so wie die Frauen, die auf der Strasse niemand anschaut. Da war ich neidisch. Auf diese Hässlichkeit, die bis auf die Knochen geht. Die von außen durch Ablehnung und Desinteresse durch die Haut gedampft wurde. Mit Hochdruck bis ins Herz geschossen. Das hätte mich besser auf das Jetzt vorbereitet.
Mich wollten immer alle ficken, und weil ich danach dann immer nichts gesagt habe, dachten sie, ich würde sie verstehen und könnte sie retten - vor was auch immer! Dann wollten sie mehr. Wollten mich auffressen und eins werden. Bis wir nackt vor einander stehen und eins sind. Einmal hat es sich ganz gut wie anderthalb angefühlt. Aber das war’s auch nicht. Ich wurde nie eins mit irgendwem!
Wenn es mehr wurde, war es eine Lüge, das konnte gar nicht anders sein! Ich bin mir sicher, dass mich immer nur Schwänze geliebt haben. Und dadurch auch die Männer, die daran waren. Eigentlich ist das ja sehr ehrlich. Gewöhnung ist die unanstrengendste Art der Liebe. Keine Ahnung, was das sein soll: Liebe. Aber, wen wundert es, alle wollen es - also hab ich mal mitgesucht! 
Es gibt Zeiten, da sollten einem gute Freunde sagen: „Du, es wäre jetzt wirklich echt mal an der Zeit, dass Du ein paar von denen hier zuviel nimmst!“ - und dann ein Röhrchen mit Schlaftabletten auf deinem Couchtisch vergessen. 
Gestern bin ich ausgegangen - mal ganz, ganz stark sein. In einen verrauchten Raum mit ein paar Menschen, die alle geschaut haben, als ich die Tür aufgemacht habe. Gelächelt haben die nicht. Ich hab die Musik gespürt. Getanzt. Und gedacht: Das ist das Leben - ich wusste doch, dass es so was gibt. Wie konnte ich das nur vergessen! 
Hab’ jemanden kennen gelernt. Er hat nicht viel gesagt. Das war nicht peinlich oder so. Ich hab halt geredet, und er hat zugehört, das hab ich gemerkt, obwohl er mir nie in die Augen geschaut hat. Immer hat er ins Nichts geguckt, nicht auf die Titten oder in den Schritt. Einfach immer so ins Nichts.

Neben ihm stand ein großer, schwarzer Plastikmüllsack - der war ganz nass.

Ich hab ihm alles erzählt, dabei hat er nicht mal seinen Namen gesagt. Er hat mir einen Zettel mit Fragen gegeben, die ich beantwortet habe. Dann meinte er, ich hätte alles richtig gesagt. 
Wir sind dann durch den Regen irgendwo hin. Raus halt. Ich dachte schon:  Beischlaf - und war ein bisschen traurig. 
Irgendwann hat er zugestochen. Oben auf einer alten Fabrik über der Stadt, wo wir Sterne gucken wollten. Ich glaube, es war eine Stricknadel. Die ersten fünf Stiche hab ich noch gespürt. Ich hab’ mitgezählt. Ganz ruhig. Ich war nicht aufgeregt. Er war der Erste, der wirklich etwas Selbstloses für mich getan hat. Etwas mit Verantwortung, was mich an meine Eltern denken ließ, daran, wie sie hätten sein sollen. Irgendwie hatte es Bedeutung. Irgendwas mit der Einheit von allem, der Welt, dem Leben, den Menschen, den Tieren und vor allem mit seinen Augen. Da war plötzlich alles drinne, was ich jemals gesucht habe! 


JUSTUS (30)

Ich gehe von Bremen-Nord ins Viertel, ich bin in dieser Bar. Ich treffe diese Frau, ich habe diese Liste mit diesen Fragen.

Und ich habe diesen Müllsack, diesen großen, schwarzen, nassen Plastikmüllsack, bis an den Rand gefüllt mit großen, nassen, schwarzen, toten Raben.

Jemand hat mal den Satz gesagt: Alles ist ein Zeitenschweben. 

Da hat er in einem Satz mehr Recht gehabt, als ich in einem ganzen Leben. Ich steh’ hier auf dem Dach, und alle Lügen sind weg. So als wären sie nie da gewesen. Ich habe sie erstochen. Und ich wollte das. 17 Stiche. Das war nicht bös gemeint. Das war eher einvernehmlich. Anschließend wollte ich auch nicht mehr und bin vom Dach, auf dem wir standen, runter gesprungen.

Das Letzte, was ich vor dem Sprung gesagt habe, war: 
„Ich liebe dich!“. 
Das war die Wahrheit, und ich hab’s zum ersten Mal so gemeint. Ich dachte mir, auch wenn sie es nicht versteht: Gut, es gesagt zu haben. Und wirklich, es ist ein Zeitenschweben. Tod zu sein. Geborgen und unendlich.   
Wir sind eins geworden. Emma und ich.
Eine kleine Wolke, die um die Welt reist, sie sich von oben anschaut und nichts mehr damit zu tun hat.


Danke sehr!

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Tag 3 (15.12.2011)

„Hallo Maik!“

Ein Lichtkegel fällt auf einen Schreibtisch, der ein wenig unaufgeräumt erscheint. Tassen und Aschenbecher stehen herum, ein leichter Gilb hat Einzug auf der Tastatur gehalten, welche auch schon Brandflecken und Teerflecken aufweist.
Klar ist es der Schreibtisch eines einsamen Mannes.Das könnte schon daran erkannt werden, dass dieser Computer, auch wenn er dezentral aufgestellt ist, ganz klar den Mittelpunkt des Wohnbereiches bildet.Auch wenn dies keine Messi-Wohnung ist, so sind doch klare Straßen zu den neuralgischen, wichtigen Punkten des beheimateten Lebens zu erkennen.
Interessant ja auch, dass es früher einmal „die“ klassische Junggesellenwohnung gab, diese aber seit der flächendeckenden Verbreitung des Internets komplett in den Speicher des Computers gewandert ist.
Es wird ja auch nicht mehr nach Haus eingeladen, deshalb bringt es gar nichts mehr, tolle Einrichtungsgegenstände und Angebersachen anzuhäufen. Oder, besser gesagt: Die kann man besser auf der Festplatte anhäufen und seinen Freunden zeigen, wenn man dann doch mal wen einlädt und das Party nennt – aber am Schluss ist ja doch nur immer gegenseitig YouTube-Videos zeigen.
Früher hing der Status noch vom materiellen Besitz des Statusbesitzers ab (Haus, Frau, Mann, Boot, Pferd, Pferdin), und die Höhe des sozialen Status wurde vom materiellen Status des Statusbetrachters abgeleitet.
Damals war als Beleidigung einer Sache das Wort „Statussymbol“ noch verbreitet.
Heute bestimmt der Statusbesitzer den Inhalt seines Status’ selbst und ist nicht mehr darauf angewiesen, seinen Status durch Besitz zu äußern.
Das ist heute auch einfacher, weil ein normaler Mensch immer – vor allem, aber nicht nur – im Internet unablässig nach dem eigenen Status gefragt wird. Also äußert er sich in einer Frequenz, die es unmöglich macht, den Wahrheitsgehalt des Status zu überprüfen.
Es ist nicht mehr notwendig, Geld gegen Waren einzutauschen, um den eigenen Status sichtbar zu machen. Man muss also nicht mehr viel Geld verdienen, um in Gesellschaft angesehen zu sein.
Deswegen können sich auch viele Menschen gegen Arbeit und für Computer entscheiden, was im Moment noch wenig akzeptiert ist, aber bald schon Normalität sein wird.
Wenn die Online- und Computersucht erst einmal weit genug fortgeschritten ist, alles andere als das Internet uninteressant zu machen, wie das ja bei jeder Sucht früher oder später der Fall ist, dann wird es akzeptiert werden.
Ein Internetanschluss kostet zwanzig Euro im Monat. Die kann man sich von der Mutter leihen. Und das Essen, das kann man auch von der Mutter bekommen.
Vielleicht kehrt die Menschheit wieder zurück zu einem Status der familiären Einfachheit.
Und tatsächlich, wenn man sich Menschen anschaut, welche konzentriert in den Computer schauen: Sie sehen genauso dumm aus wie die Menschen aller Zeiten, wenn sie in ein Feuer schauten.
Es gibt wissenschaftliche Studien über diese Menschen, die sich für eine virtuelle Existenz entscheiden. Es ist nicht fair, sich über das Glück dieser Menschen zu äußern, und man sollte es unterlassen.
Vielleicht ist es nur die tiefe Wut und der böse Neid, dass jemand anderes mit weniger Mühe glücklicher ist als man selbst.
„Neet“ ist das Wort mit dem Wissenschaftler diese Menschen mit Computern und ihrer besonderen Beziehung zu diesen Computern beschreiben.
NEET ist ein Akronym aus den Worten „Not in Education, Employment or Training (nicht in Ausbildung, Anstellung oder Fortbildung) und bezeichnet die Gruppe junger Erwachsener zwischen 15 und 34 Jahren, die keine Schule besuchen, keiner Arbeit nachgehen und sich nicht in beruflicher Fortbildung befinden und dies auch nicht unmittelbar anstreben.
Obwohl die Bezeichnung von der britischen Regierung geprägt wurde, wird sie hauptsächlich in Japan verwendet und findet dieser Tage auch im deutschen Raum immer mehr Verwendung.
Klassifikation von NEET-Typen
NEETs lassen sich grob in zwei Gruppen unterteilen: Etwa die Hälfte der Personen gibt an, zukünftig wieder ein Arbeitsverhältnis aufnehmen zu wollen, die andere Hälfte strebt hingegen langfristig keine Beschäftigung an.
Unterschieden werden vier Typen:
•1: der antisoziale und hedonistische Typ, der es schlicht bequemer findet, nicht zu arbeiten;
•2: der zurückgezogene Typ, der nicht in der Lage ist, sich in die Gesellschaft zu integrieren, und sich daher abkapselt;
•3: der paralysierte Typ, der durch zu viel Nachdenken zur Passivität gezwungen ist und daher nicht in der Lage ist, sich eine Arbeit zu suchen;
•4: der entzauberte Typ, der bereits Arbeitserfahrung hat und aufgrund dieser Erfahrungen keine weiteren Arbeitserfahrungen zu machen wünscht.
Wenn ein Maik da so sitzt, dann würde das eigentlich alles gar nicht so sehr auffallen, dass da so vieles nicht stimmt.
Man könnte es erkennen, denn er trägt ein kleines Tribal in der Mitte seines T-Shirts auf der Brust, und wenn einer, der so ist wie Maik, Maik beschreiben sollte, würde er das wahrscheinlich nicht hinbekommen, weil er ein wenig dumm ist.
Aber über Maiks T-Shirt, die Sache mit den Tribals und den Träumen und dem Anders-als-man-ist-sein-wollen, da würde er sagen:
“Ich weiß gar nicht, was alle gegen Drachen und Helden haben, wieso das eigentlich gar nichts Gutes mehr ist, Held und Retter zu sein, wieso das eigentlich toll ist, nicht mehr toll zu sein!
Warum es nicht mehr super ist, super zu sein!
Es ist doch unglaublich verlogen, dass sich alle nur noch treffen, um tief zu stapeln. Ich meine, dahinter, toll zu sein, etwas Gutes zu machen, sich wohl zu fühlen in seiner Haut, dahinter steckt ja auch eine Menge Arbeit.
Es ist doch gar nicht leicht, sich selbst zu mögen. Es ist doch -verdammt noch mal – Betrug, alle anderen auch Scheiße zu finden, aber sich selbst am beschissensten. Das ist doch vollkommen verdreht, sein Selbstbewußtsein daraus zu stricken, negativer als die anderen zu sein.
Was für ein arroganter Rotz da verbreitet wird, mit dem ganzen Hass auf die, die sich selbst mögen und es nicht schaffen, es  zu verstecken, dass sie sich mögen.
Schande über die Vollidioten und Bastarde, die auf die Egos der anderen schimpfen, weil sie immer versagt haben in der schweren Aufgabe, sich selbst wenigstens ein bisschen zu mögen.
Maik denkt sich da nicht viel, aber jemand anderes, der vielleicht mit den Worten so ein bisschen besser umgehen kann, der würde vielleicht sagen:
“…das Problem ist: Mir liegt gar nichts an der Normalisierung der Menschen. Ich finde es super, wenn Leute super sind. Und ich finde es super, wenn Leute anders sind.
Ich könnte ausflippen, wenn alle Idioten andere nicht super finden, weil sie super sind!“
Da haben sich ja schon viele drüber geäußert, aber tatsächlich: Es gibt ein riesengroßes Problem mit der Individualisierung in diesem Land und in allen Ländern, deren Zusammenhalt nur noch ein Kunden-Anbieter-Verhältnis, ein Käufer-Verkäufer-Verhältnis ist.
Dieses Verhältnis gibt es ja nur aus dem einfachen Grund, mehr verkaufen zu können. Und da ist der beste Weg natürlich und mit Sicherheit, alles dafür zu tun, dass die Menschen nichts mehr teilen.
Und damit sie Dinge nicht mehr teilen, ist es absolut notwendig, die Menschen selbst zu teilen, zu trennen und dafür zu sorgen, dass sie einander misstrauen, damit teilen für sie nur noch die Angst vor Diebstahl bedeutet.
Die Idee, dass es den grundsätzlichen Konflikt, nämlich den Generationenkonflikt, einfach so gab, von der Natur des Menschen aus, ganz natürlich, ist doch absurd. Junge und Alte könnten sich sehr gut verstehen und sich sehr gut gegenseitig helfen und unterstützen.
Nur ist es halt sehr einfach, junge Leute schwachsinnig wütend und alte Leute sinnlos ängstlich zu machen.
Die Idee ist völlig falsch, dass solche Konflikte ungelenkt entstehen würden, oder das sie nicht innerhalb kürzester Zeit befeuert werden würden, von Unbeteiligten, die ihren Vorteil und ihren Profit, eben ihren Gewinn suchen.
Sie geht von der alten Vorstellung aus, dass Menschen, die Geld verdienen wollen, dumm sind und dass Menschen, die verführen wollen, auch dumm sind.
Aber – sie können gar nicht dumm sein!
Verführer teilen und herrschen. Und sie erzählen Kindern, dass es ihnen ohne Eltern besser geht, Männern, dass sie besser mit jüngeren, dümmeren Geschlechtspartnern gehen, und noch am genialsten: Sie erzählen Frauen, dass es ihnen besser geht, wenn es ihnen schlechter geht.
Sei du selbst, um dich gut zu fühlen, und um dich gut zu fühlen, brauchst du nur die folgenden Dinge: Mann, Auto, Karriere, kein Fett, den Busen, den es in der Natur nicht gibt, Kind, Schminke, Küche, Haus, Garten, Zeit.
Und am allerwichtigsten:
Geld.
Wie verwirrt muss ein Geist sein in der ersten Welt, bei Wein und Kerzenschein sich über Geld zu beschweren. Da muss mit der Axt auf den Tisch geschlagen werden, da muss gerufen werden: „Sagt einmal – Sapperlot, Jungvolk! -, geht’s Euch noch gut?“
Ich verdiene in diesen 20 Minuten, die ich hier sitze, nur durch Eure Getränke gerade mehr Geld als 95% der Weltbevölkerung in einem Monat. Und mich ruft das Finanzamt an und fragt mich, wovon ich denn lebe.
Geld. Ich lebe von Geld. Woher das kommt? Von irgendwo. Es wäre ja gelogen zu sagen, es gäbe insgesamt nicht genug davon.
Das Problem daran ist nicht, dass es viel oder wenig gibt oder dass es Geld überhaupt gibt, sondern ja doch nur, dass es allen so wichtig ist!
Das ist ja das eklige an der gesamten modernen Occupy-Wallstreet-Quatschbewegung, dass man ihnen genau das gleiche vorwerfen kann wie ihren Gegnern, nämlich dass sie doch auch Geld und dadurch Waren, Dienstleistungen und Macht haben wollen, genauso wie die da oben.
Dann tauschen wir halt mal, aber wer erzählt, nach fünf Jahren Millionärsdasein wäre er gerne wieder arm, der kann ja viel erzählen, aber so etwas durchziehen, das macht nur einer, der ins Bürgertum zurückgeht. Einen armen Menschen, den wird dort keiner sehen!
Es sind nicht die Armen. Es sind die Nichtarmen, die gerne reicher wären, die dort diskutieren und protestieren, denen am Feindbild einer abgeht und die bemerken, dass es einem Tag ohne Feindbild irgendwie an Struktur fehlt.
Und da man dem Feind nur schwer vorwerfen kann, dass sie die eigenen Ziele einfach nur schneller erreichen als man selbst, kann man ihnen – und damit sie sich selbst – nur eines vorwerfen:
Da waren die anderen wohl klüger!
Und zusammengefasst: Was soll man da sagen?
Wenn die, die das Geld erfunden haben, es geschafft haben, dass ihr Hauptfeind nicht das System hasst, sondern die, die das System benutzen, und somit das System weiter verfestigen, was kann man denn da noch tun, außer zu stehen und zu lachen, wie sie selbst ihr Grab ausheben, während man es selber tut, weil einen all das viel zu müde macht, und dann leise lächelnd zitieren: „Yo doc, don´t hate the player. Hate the game!“
So welche Dinge würde sich wohl jemand denken, der Maik und sein Leben etwas zu lange überdenkt.
Das Maik selbst sich so etwas denkt, das ist nicht möglich. Und wird es auch nicht sein. Seit ein paar Jahren, da hängt er im Internet herum, der Maik.
Das ist natürlich gut und schlecht.
Es ist gut, weil es wirklich, wirklich gut sein kann, das Internet.
Es ist schlecht weil, wenn einer es nicht versteht, das Internet, dann versteht er es nicht.
Witzig ist am Internet, dass es immer lustig ist, auch wenn vieles nicht verstanden werden kann.
Aber es ist dann doch mehr ein Humor, der vom Gefühl herrührt, und hat meist etwas mit der geistigen Überlegenheit der materiell Unterlegenen zu tun.
Die Zusammengehörigkeit einer bestimmten Bevölkerungsgruppe nur über das Verständnis eines Humors und über süße Kätzchen, das ist schon neu – und schön und humanistisch.
Behauptete die humoristische Oberschicht des Internets bis heute, ihr Lebensmittelpunkt, eben das Internet, wäre für Pornografie erschaffen worden, muss man sich heut umschauen und sagen, nein, tatsächlich wurde es für Humor und Pornografie erschaffen. Und das weiß jeder, der sich ein wenig mit frauenverachtender Pornografie und mit gutem Humor auskennt: Das sind zwei Dinge, welche nicht zusammengehen!
Denn, das sagt der Feminismus schon ganz richtig: Pornografie ist nicht Sex – Pornografie, das ist Macht. Und Macht ist auf sexueller, also primitiver Ebene Gewalt. Und Gewalt wird durch Humor zerstört. Durch nichts sonst. Weil Humor der Gewalt immer überlegen ist.
Denn der Mensch an sich ist mehr klüger als er stark ist.
Maik sitzt vor dem Computer. Und sucht Dinge, die ihn interessieren. Die witzig sind, denn “witzig”, das ist das neue “interessant”. Was die anderen mögen, das weiß er nicht. Man könnte es Maik verraten. Man könnte Maik helfen.
Ich werde jetzt Beobachtungen vorlesen, dann werde ich das Publikum beobachten und dies dann notieren.
Ich werde keine Namen notieren.
Keine Angst!
Neuigkeiten aus dem Internet:
Wenn man sich so die Pornos anschaut, da schreien sie ja beim Sex immer: “fuck!” Ich empfinde das so, als würde jemand beim Fussball immer „Fussball“ schreien.
Langeweile, das ist die einzige Bedrohung, die mir noch alltägliche Todesangst beschert. Auf einem Stuhl sitzen und sonst nichts machen. Das ist Anti-Mainstream, das ist Extremsport. Nichts tun und keine Angst vorm Morgen. Ja. Brrr, toll aufregend!
Ich werde die Arbeit von heute auf morgen verschieben, denn morgen bin ich älter und weiser und somit besser. Wie dumm wäre ich, heute schlechtere Arbeit und schlechtere Ergebnisse zu liefern.
Herrenloses Damenfahrrad.
Meine Welt kann heute nicht untergehen. In Australian ist es jetzt schon morgen.
Ich ändere mein Computerpasswort auf „inkorrekt“, damit mein Computer es mir verrät, falls ich es vergessen und falsch eingegeben habe.
Wenn sich auf der Straße zwei Frauen sehen: Die eine trägt einen Bikini, sonst nichts. Sieht sie die andere Frau, welche eine Burka trägt, denkt sie sich: Aus was für einer dreckigen, männerbestimmten und sie unterdrückenden Welt diese Frau doch kommt!
Wenn sich auf der Straße zwei Frauen sehen: Die eine trägt nur eine Burka, sonst nichts. Sieht sie die andere Frau, welche nur einen Bikini trägt, denkt sie sich: Aus was für einer dreckigen, männerbestimmten und sie unterdrückenden Welt diese Frau doch kommt!
Nimm keine Drogen, denn, wer Drogen nimmt, endet im Gefängnis, und im Gefängnis sind Drogen sehr teuer. Deswegen: Nimm keine Drogen!
Zum Lächeln braucht es 17 Muskeln. Um bös zu schauen 43 Muskeln.
Was rät einem die Fitnessdiktatur, in der wir leben, wohl öfter zu tun?
Die Würde des Menschen ist unangrapschbar.
Es heißt nicht: „Kein schöner Land“, es heißt: „Kein schönes
Land“!
Ihr könntet auch mal mit eurer Scheißkunst aufhören und dafür sorgen, dass mehr Straßenbahnen fahren, damit ich ausnahmsweise mal pünktlich zu meiner richtigen Arbeit komme!
Manchmal wache ich morgens auf und denke mir:
Kopfschmerzen, kein Geld mehr… Ich muss überfallen worden sein…
Wenn Adam und Eva weiß waren und es keine Evolution gibt, woher kommen dann die ganz vielen Menschen in Afrika?
…und dann erst dieser Moment, wenn du nervst und dann einer zu dir sagt: “Alter, hör’ auf zu nerven!” Aber du kannst erst aufhören zu nerven, wenn du noch kurz viel mehr genervt hast.
Eine Katze mit Butter zu bestreichen endet im Zusammenbrechen des Raumzeitkontinuums, da sie beim Wurf aus dem 13. Stock nicht mehr in der Lage sein wird, auf den Füßen zu landen.
Da eine Katze jederzeit auf den Pfoten landet, ein Marmeladen- und/oder Butterbrot jederzeit auf der Marmeladen- oder Butterseite, könnte man diese ganze lächerliche Energiedebatte beenden.
Wenn man einer Katze ein Butter- und/oder Marmeladenbrot auf den Rücken klebt, Brot und Katze dann an einen Stock bindet und das Ganze mit einer elektromagnetischen Drehspule verbindet, wird sich diese Drehspule für immer drehen. Niemals mehr gäbe es einen Energieengpass, da es für die Katze unmöglich ist, den Boden zu erreichen, ohne das sie mit den Tatzen voraus landet.
Das ist die Lösung.
Die ganze Welt wäre voll mit nützlichen kleinen Katzen: Eine Katze im Kleinwagen, ein Feld von hunderttausend Katzen für die Schwer- und Rüstungsindustrie.
Genau wurde ja niemals herausgefunden, was Hitlers versprochene Geheimwaffe nun wirklich war. Aber dass er Katzen mehr mochte als Menschen, das kann nun wirklich keiner mehr bestreiten!
Würde jemand die Falten aus seinem Hirn bügeln, es wäre so groß und grau wie ein alter Kopfkissenbezug.
Im Universallexikon ist der Mensch wie folgt beschrieben:
Der Mensch: Ein Wesen, das einen Baum fällt, ihn zu Papier macht und darauf schreibt: Rettet die Bäume!
Fuck it, ich bleib’ zu Haus und spiel’ “Jumanji”!
Eine einfache Übung zum Abnehmen ist es, seinen Kopf erst nach links und dann nach rechts zu drehen. Diese Übung wird jedes mal angewandt, wenn Essen angeboten wird.
Von allen Menschen, die jemals auf der Erde geboren wurden, leben nur 6,5% jetzt gerade.
Linkshänder sterben im Schnitt neun Jahre früher.
Alles wird gut zum Schluss, und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht zu Ende.
Danke. Notiert. Maik wird die Ergebnisse erfahren – Sie haben Gutes getan!
Maik
Ganz viele wissen ganz viele Sachen. Ich merke das, wenn ich versuche, auch ganz viele Sachen zu wissen. Das ist nicht einfach. Meistens reden die, die ganz viele Sachen wissen so, dass ich ganz viele Sachen nicht verstehe und das mich das wütend macht, weil ich diese ganzen vielen Sachen auch wissen will, das ist ja wohl klar! Mongos!
Ich kann das alles auch wissen. Im Internet. Ich kann alles wissen. Das ist einfach. Suchen. Finden. Das ist so einfach, dass jeder, der studiert hat, die Fresse halten soll und nicht immer sagen, dass er “voll so geil” wäre. Ist der nämlich nicht. Ich kann auch “”voll so alles” wissen!
Nee.
Was ich zu Killerspielen denke?
Es passiert uns im Clan mega oft, das so Typen ankommen und mitzocken wollen, labern mega viel im Teamspeak und können dann nicht schießen.
Noob.
Ich kick die vom Server, und die sind voll wütend. Wer nicht schießen kann, der kann auch nicht mitzocken.
Das ist Verantwortung für mich als Teamleader.
Ich war in Afghanistan, und glaub’ mir, mein Kommandant: Er hätte keinen mitgenommen, der nicht kämpfen kann, weil, wenn der stirbt, dann muss der Kommandant sich immer etwas ausdenken, warum er gestorben ist, also, warum er überhaupt im Krieg war. Und wenn man das seiner Frau oder seinem Mann so erklären muss, dann sagt man ja lieber von Anfang an: Nee!
Sobald ich bemerke, dass es brenzlig werden könnte, kick ich die Noobs vom Server, das ist ja auch voll eine Form von Verantwortung, die ich hier im Team hab’ – und das ist voll wichtig.
Wenn du nicht stark genug bist, dann wirst du schnell sterben. Und wenn du schnell stirbst, macht das die Gruppe schwächer. Und dann stirbt die Gruppe schneller. Und das ist dann meine Schuld, wenn die Gruppe stirbt.
Also: Verarsch mich nicht!
Geh’ Üben.
Du bist nichts wert.
Bis ich sage, das du etwas wert bist.
Solange: Geh’ Üben.
Mein Leben, es ist kurz zusammengefasst so:
Vater hab ich nicht kennengelernt, war auch Soldat, ist abgehauen.
Mutter war da, weil ihr woanders sein zu anstrengend war. Easy. Hat mich nie rausgeschmissen. Ich denk’ mal, weil, wenn ich nicht da bin, dann bemerkt se, dass se auch nicht mehr da sein muss.
Is eigentlich so:
Sie kann kochen, ich kann bleiben!
Als ich zum Bund bin, da hat sie so eine Angst bekommen. Als ich verletzt worden war, dass ich – glaub ich – nie wieder arbeiten gehen muss – oder kann.
Die Alte lässt mich ja kaum noch raus!
Wenn mir jemand die Chance gibt, nicht mehr zu arbeiten, ich mein: Wie dumm kann einer sein, dass zu wollen. Ich nicht, Alter!
Die meisten interessanten Menschen, die ich kenne, haben keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen.
Nachts, wenn die anderen aus dem Team schlafen, geh’ ich gerne raus, ans Eck, einen saufen.
Am Eck hat sich mal einer umgebracht, und alles, was er hinterlassen hat, war ein Kreuzworträtsel und die Lösung für das Kreuzworträtsel – es war der Grund für seinen Selbstmord. Irgendwie hat niemand es je versucht.
Ich auch nicht!
Ab ins Viertel.
Steffi treffen.

Tag 4 (22.12.2011)

Steffi sein ihr großer Tag

Wir sind im Viertel, irgendwo zwischen „Corona“ - das sind die mit den leckeren Pizzabrötchen – und der Sielwallkreuzung - das ist da, wo es keine richtigen Junkies mehr gibt.
Ein bisschen Schnee ist gefallen. Wie in den Wochen zuvor schon Emma und Maik und Justus, ist auch Steffi auf dem Weg in Richtung Eck.
Leise – und das ist komisch, wenn man durchs Viertel geht, leise klingt alles, wenn es geschneit hat, und geschneit hatte es – für Bremer Verhältnisse auf jeden Fall, was meistens bedeutet, dass es toll schneit, wenn man nach oben in den schwarzen Himmel schaut, aber sehr schlecht aussieht, wenn man auf den Boden blickt.
Seltsamer Weise hat Schnee für das Innere des Kopfes genau den gleichen Effekt wie für das Äußere, denn irgendwie wirkt alles ein wenig gedämpft und ein wenig wattierter, die grellen Gedanken, die einem sonst nächtens durch die Birne ballern, werden aufgefangen und prallen nicht wie sonst an der einen Schädelseite ab und machen nicht irgendwas Schönes kaputt.
Kurze Gedanken, keine langen Gedankenstränge, eine Empfindung, ein dazugehöriger Gedanke und weiter geht es. Geguckt, gedacht, gerochen, gedacht, gehört, gedacht.
Schnee geguckt: „Das jetzt aber ein bisschen kalt!“
Schlechtes gerochen: „Das jetzt aber’n bisschen eklig!“
Nichts gehört: „Das jetzt aber’n bisschen langweilig!“
So in etwa bewegt sich Steffi durch die Stadt. Weil sie immer hochhackige Schuhe anhaben muss, weil sie kleiner ist als ok, legt sie sich immer, fast immer auf die Schnauze und denkt sich die ganze Zeit: „Hoffentlich leg’ ich mich nicht auf die Schnauze!“
„Der Boden is´n bisschen hart. Ein Glück – is´n bisschen Schnee, da is der Boden nicht ganz so hart, aber is ja nur’n bisschen Schnee, da ist der Boden immer noch’n bisschen hart, nich so hart wie wenn er nich so hart wäre, aber halt immer noch’n bisschen doll hart – also:  Bloß nicht auf die Fresse legen, weil der Boden, der ist doch’n bisschen hart!”
So stapft die Steffi durchs Bremer Viertel. Und wenn einer ihr hinterher gehen würde, dann müsste er sagen: Naja, also, ganz ehrlich gesagt – und im Endeffekt, da muss ich leider bitte gestehen, also, ganz ehrlich und kein’ Scheiß: Ich glaub’, da geht die Geschichte von der Steffi in etwa so:
Zuhause in Tenever, da war das alles irgendwie ein bisschen anders, gar nicht ganz anders, weil, weit weg ist das ja auch alles nicht, das ist ja immer noch das alte Bremen, das alle immer nur als das alte Bremen kennen, denn ein neues Bremen, das gibt es ja vom Wort her schon einmal gar nicht, denn ein bisschen – auch wenn es immer einmal wieder aufglüht -, da ist dieses Bremen dann doch eine sterbende Stadt oder vielleicht sollte man besser sagen:
Diese Stadt ist ein Strohwitwer.
Früher, da gab es in Bremen-Tenever immer Bombenalarm.
Da saß Steffi im Zimmer, und es hat an die Tür gebollert. Da wollte jemand, dass sie rauskommt, und hat etwas von einer Bombe erzählt und hat gesagt, dass alle evakuiert werden müssten, aber Rainer, Steffis Vater, der hat immer geschlafen, wegen Suff, und nichts gehört, und Steffi hat nicht mit Fremden geredet wegen – naja: “Fremde”.
„Das ist jetzt aber schon so ein bisschen gefährlich!“.
Auf jeden Fall – eine Stunde später, da ist Steffi dann doch mal kurz in das Treppenhaus von ihrem Hochhaus gegangen und hat geguckt. Und zuerst hat sie gar nichts bemerkt, aber dann, dann hat sie doch gemerkt, dass da sonst niemand war: Niemand ist rumgelaufen, niemand hat rumgeschrien oder sich gehauen – niemand war da, weil alle anderen evakuiert waren.
Da hätte Steffi eigentlich Angst bekommen müssen, aber ganz anders herum war es: Da war gar keine Angst, das war ganz angenehm.
Ohne die Menschen – das war so ein Gefühl, dass sie schon okay war:  Kein Problem! Keine Erwartungshaltungen mehr, weil keine Menschen mehr, die von ihr erwarteten, so oder so zu sein. Da war Steffi okay. Kannte sie so gar nicht!
Heute, wenn man noch in Bremen wohnt, dann geht es einem meistens ganz ähnlich: Alle sind sie weg – und erst fragt man sich noch, wo sie denn sind, was sie so tun, warum sie weg gegangen sind, was man wohl falsch gemacht hat, was man hätte tun können, damit sie da bleiben, wie man ihnen denn besser hätte gefallen können.
Und dann, wenn die mit den tollen Meinungen und den besseren Einstellungen und den grösseren Talenten die Stadt verlassen haben, dann fällt einem auf, dass da auch eine Menge Druck die Stadt verlässt, um den Druck in den Schmelztiegeln der Großstädte noch zu vergrössern – aber hier, in Bremen, da erfüllt das Gehen der Menschen eigentlich den Traum von der Drucklosigkeit. Das ist ganz toll, nicht mehr jeden Tag mit denen konfrontiert zu sein, die im eigenen Feld, im eigenen Lebensweg, in dem, was man so tut und ist, einem überlegen sind.
Nicht nur in der Kunst. Witzigerweise sind ja sogar Erzieher, Maurermeister und Landschaftsgärtner der Meinung, einer überlegenen Spezies anzugehören, sobald sie einen Drittwohnsitz in Berlin anmelden.
Aber letztendlich, wenn ein Mensch, den man kennt, die Stadt verlässt, letztendlich ist es ein Gefühl, wie wenn jemand mit einem Schluss macht, zumal ja dann doch jeder der Meinung ist, dass er sinnbildlich für die Stadt, aus der er kommt, geradestehen müsste.
Wie wenn man verlassen wird, denn wer verlassen wird, sucht ja den Fehler auch bei sich selbst, obwohl vielleicht für den anderen die Zeit einfach reif für etwas Neues war. Da ist die Suche nach dem eigenen Fehler auch oft der verzweifelte Versuch, sich nicht ganz besiegt zu fühlen, der Versuch, dass man wenigstens noch ein wenig Macht in dieser Beziehung in Händen hält.
Aber wer ist schon frei von der sinngebenden Idee, dass alles mit einem selbst zusammenhängen würde.
Das ist ja auch eine Chance, nach dieser Trennung nicht komplett entmächtigt weiterleben zu müssen.
„Ist schon seltsam, dieses Bremen!“, denkt sich der Typ, der Steffi die Strasse hinunter durch den Schnee von Bremen folgt, „Seltsam ist das mit der Stadt Bremen!“
Alle sind sie weg. Und irgendwie, ohne alle, die gegangen sind, gibt uns diese Stadt das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Es gibt keine andere Stadt dieser Grösse und dieser Art, mit dieser Geschichte und diesem Angebot, aus dem die Menschen so schnell verschwinden, wie sie können. Nirgends ist die Migration höher als in Bremen, und trotzdem sind sie nirgends so stolz auf ihre Herkunft – und springen jedem innerlich ins Gesicht, der über Bremen urteilt!
Diese Stadt, sie gibt uns ein besonderes Gefühl, das auch jeder auf Heimaturlaub verspürt!
“Bitte geh’ nicht nach Berlin!”, ruft man ihnen im ersten Moment noch hinterher, aber der Ruf verschallt schnell irgendwo über den deutschen Weiten zwischen Niedersachsen und Brandenburg, denn bei einer Sache, da sind sich ja alle, die hiergeblieben sind sicher, bei einer Sache hat man immer recht:
Die kommen wieder!
Spätestens zu Weihnachten, um die neuen Pullover vor der Capri-Bar zu vergleichen. Die kommen alle wieder, oft hat das ja immer den gleichen Grund!
Die meisten gingen in die anderen, die großen Städte, weil sie glaubten, sie fänden mit den Dingen, die sie vorhatten, hier niemanden, der ihnen weiterhelfen wollte, aufgrund von Ignoranz und provinzieller Kurzsichtigkeit; ihre Pläne oder ihr Können wären zu groß, um vom kleinen Geiste der kleinen Stadt verstanden werden zu können.
Man hätte ihnen die Wahrheit sagen können. Doch die Künstler und die Kreativen zu beleidigen, wie unfair wäre das, ihrem meist eh schon schwachen Geist noch den letzten Schupps zum Umstürzen zu geben? Jedoch, vielleicht wäre es oft in ihrem Sinn gewesen, ihnen zu sagen, dass es nie daran lag, dass hier keiner wäre, der sie verstanden hätte.
Meist war es nicht die Qualität des Empfängers, sondern meist war es die Qualität des Senders!
Du bist nicht tiefgründig.
Du bist nicht intellektuell.
Du bist kein Künstler.
Du bist kein Kritiker
Du bist kein Poet.
Du bist nur ein Typ mit einem Internetanschluss, einem Macintosh-Computer und einer engen lila Hose.
Und wenn von der Anonymität der Großstadt gesprochen wird und den Menschen, die sie genießen, besteht der Genuss ja meist darin, dass niemand einen so gut kennt, dass seine Kritik an der eigenen Person ernsthaft verletzend sein könnte.
Vielleicht hätte ihnen jemand sagen sollen, dass sie für die große Stadt nie genug Talent gehabt hatten, und wie dumm die Idee wäre, dorthin zu gehen, wo alle hingehen, auch die, die etwas tun, weil es ihnen wichtig ist, und nicht nur, weil heutzutage jeder alles kann und deswegen das tut, was am coolsten ist.
Vielleicht nicht so klug, dorthin zu gehen, wo es so viele fähige Menschen gibt, dass sie für immer ein lächerliches Anhängsel aus der Provinz bleiben werden!
Nicht so schlimm wie die Schwaben, aber immer noch die, die gerne etwas Besseres sein wollten, als der Sumpf, aus dem sie sich erhoben haben.
„Dagegen, etwas Besseres sein zu wollen, dagegen kann eigentlich keiner etwas sagen“ , denkt sich der Typ, der immer noch hinter Steffi herläuft und sich anschaut, wie sie immer fast hinfällt mit ihren doofen Schuhen.
Man kann schon in die große Stadt ziehen, nur beginnt so eine Geschichte normalerweise damit, dass ein Mensch eingeladen wird, Dinge im neuen Zuhause zu verbessern. Er wird gefragt, er fragt nicht selbst. Er lädt sich nicht selbst ein. Er wird erwartet.
Die Idee, aus eigenem Antrieb dorthin zu gehen, um sein Glück zu machen, dem Gedanken, dass die Stadt auf einen gewartet hätte: Ein Quatsch und so arrogant! Und wäre es noch erlaubt, die Ureinwohner würden sie aus ihrer Stadt jagen.
Wenn es sich einer genau besieht: Tatsächlich betreiben deutsche Städte Kolonialismus in Berlin. Berlin müsste eigentlich mal wieder seine Unabhängigkeit erklären. Die elterlichen Überweisungen mit der Luftbrücke zu vergleichen, ginge vielleicht zu weit, aber eigentlich auch nicht.
So aber fristen sie ihr dummes Dasein in einer von ihnen dumm gemachten Stadt. Sie berauben die Städte ihrer Identität, und es wäre nur fair gewesen, ihnen vorzuschlagen, dass für sie, wenn in einer kleinen Stadt nichts geht, in einer großen noch viel, viel weniger gehen wird. Das sei nur nicht so schnell zu bemerken, weil in erster Linie geht da ja nicht mehr, es ist nur leichter, sich abzulenken. Denn zu Haus, da waren sie wenigsten geliebt, und, um Schmerz und Peinlichkeiten zu ersparen, wurden sie wenigstens ignoriert.
Problematisch ist ja, dass die Bevölkerung – beispielsweise Berlins, besonders in den Szenebezirken – zum größten Teilen aus den coolsten Typen der deutschen Dorf-Abiklasse besteht.
Aus den Coolsten von Norderstedt, Castrop-Rauxel, Niederfeldbach, Feldkirch, Stade und Laboe – und halt Bremen.
“Bitte, geh’ doch nach Berlin!”, möchte man oft rufen. “Bitte, Du hältst uns hier nur auf, mit deinem Dummfug, ernsthaft! Schau nach unten! Deine Hose! LILA! Und sie sieht aus wie eine Karotte!”
(Pause)
Fair wäre es gewesen, ihnen zu verraten, was mit ihnen geschehen würde, denn so wären sich nicht gezwungen, zu Weihnachten in den Viertelkneipen ihrer Jugend in Bremen etwas von Projekten zu faseln, und mit “Projekt” ihren Besuch beim Arbeitsamt zu meinen.
Und schön zu sehen ja auch:
Die, die dachten: “Ich geh nach Berlin, Köln oder München, vielleicht Hamburg, London, Stockholm oder New York – dort werd’ ich groß, ich hab’s verdient!”: Sie kamen aus gutem Hause, mit Eltern mit Eigentumshäusern, die sie einst erben werden. Dann sitzen sie in ihren Häusern. Waren sich immer etwas zu gut, um mit den Freunden von früher noch zu sprechen – sitzen allein in ihren Häusern und trauern mit sechzig wie mit sechzehn, dass keiner sie mag. Grunge will be alive!
Vielleicht ist das alles nur Neid, denn auch für Städte gilt dasselbe wie für Menschen: Nie bemerkst du, wie sehr du jemanden wirklich magst, bis zu dem Moment, in dem er beginnt, jemand anderen zu mögen.
Nun müsste jemand, der gegangen ist, zu Wort kommen und sagen:
“Naja, Stadt, jetzt mach’ Dich mal nicht so wichtig, denn so wichtig bist Du nicht – richtiger noch: Du bist immer noch wichtig, aber das solltest Du wissen: Ich kann Dir nicht mehr jeden Tag sagen, dass ich Dich liebe, denn das ist keine feurige Liebe mehr, die wir geführt haben.
Es war immer noch sehr schön und ich habe mich wohl gefühlt. Wirklich wohl gefühlt, aber: Ich hatte immer Angst, etwas zu versäumen, die Routine, ich fand sie gar nicht schlecht, daran lag es gar nicht – eigentlich mögen die Menschen Routinen, aber ich weiß sie noch nicht zu schätzen. Ich bin viel zu jung, um sie wirklich ohne Zweifel an mein Herz zu lassen.
Ich bin noch nicht so weit, zu etwas für immer ja zu sagen!
Ich werde Dich für immer lieben, kleine, liebe Stadt Bremen. Tatsächlich stimmt das immer noch, aber es ist nicht die Gigantenliebe, die größte Liebesgeschichte aller Zeiten, wie etwa eine Liebe zu New York, eine Liebe zu Amsterdam, London, Tokyo oder eben Berlin. Es ist mehr ein „Ich hab dich lieb“ geworden. Und ich glaube, das ist für uns beide sicherer als dieses ewige Auf und Ab der Gefühle.
Bitte, Bremen: Wir sind doch keine Teenager mehr!
Es ist mehr diese eine erste Liebe, von der man weiß, dass sie immer da ist.
Man liebt nur einmal, und alle späteren Lieben: Sie sind nur der Versuch, wieder so zu lieben, wie man es sich als Dreizehnjährige erträumt hat.
Bremen, Du bist kein strahlender Ritter hoch zu weißem Rosse!
Und das weißt Du auch.
Und der Roland: Er ist nur ein billiger Versuch, es zu sein!
Aber sei Dir sicher, wenn es mir richtig schlecht geht, dann steh ich bei Dir auf der Matte, dann brauch ich Dich und Deine ganze Besatzung.
Wenn ich mich verlaufen habe, irgendwo, wo keiner mir sagt, was ich zu tun habe, dann weiß ich plötzlich wieder, wo der Ausgang ist, und alle Ausgänge, alle Auswege führen zu Dir. Manchmal, wenn’s Probleme gibt, merk’ ich es erst, wenn ich schon im Zug sitze.
Nimm mir das nicht übel. Du bist für immer da. Und das weiß ich. Und ich hoffe, das ist in Ordnung für Dich. Denn wäre ich jetzt jeden Tag bei Dir, ich würde Dich nicht gut behandeln. Ich wäre kein guter Freund.
Noch nicht.
Ich will ganz viel von der Welt, ich erwarte mir ganz viel vom Leben.
Das ist eine Frage von viel, nicht von gut.
Ich will viel. Und du hast nur gut.
Du machst alles richtig – nur gerade noch nicht für mich!”
Und tatsächlich, wir haben alle Häuser und Besitz in Dir, auf Deinem Boden, aber es ist so wie mit den Eltern: Man kann nicht sein Leben lang bei ihnen wohnen. Aber wenn sie eines Tages sterben, dann ist man so lange traurig, wie man der Meinung war, es wäre nicht so wichtig, sie nahe bei sich zu haben.
„Das ist jetzt aber ein bisschen schlimm gesagt!“, dreht sich Steffi um und schaut dem Mann, der die ganze Zeit diese Sachen denkt, in die Augen.
„Hör mal auf, so schlimme Sachen zu denken. So schlimm ist das alles gar nicht. Geh’ Du doch auch mal weg in eine andere Stadt!  Rennste hier den ganzen Tag nur so rum, und denkst dir so Deinen Teil. Das ist doch auch’n bisschen feige, oder nicht?“
“Was heißt denn hier ein bisschen feige? Überhaupt nicht feige ist das – das ist total okay! Das ist halt mein Leben, das solltest du nicht beurteilen. Ich kenne dich doch noch aus Tenever. Ich hab dich da doch schon einmal gesehen: Du bist diese Stefanie, von der früher der ganze Block geredet hat!
Scheinst es ja ein bisschen raus geschafft zu haben. Jetzt wohnste auch im Viertel, oder wie? Siehst ja ganz gut aus, gar nicht mehr so Tenever mäßig!”
“Ja, danke, du bist dieser Justus, nä? Ich trag’ jetzt einfach Jeans statt Rock und wickel’ mir irgendwas Glitzerndes um den Hals und geh’ auf Lesungen statt “Frauentausch” zu gucken – da merken die hier NIE, dass ich nicht von hier komme!
Warte mal, ich muss noch Geld holen.”
So stehen die beiden vor der Sparkasse am Eck, mitten auf dem Pfennig, der in den Boden eingelassen ist, und wissen auch nicht, was sie jetzt tun sollen.
Außen/Vor der Sparkasse:
Das ist eine Sache, die müssen wir hier uns jetzt überlegen:  Wir, die dreißig Leute, die wir sind, stehen da jetzt rum mit Steffi und Justus, und die beiden haben eigentlich gerade nicht mehr viel zu bereden, aber, was sollen wir machen – wir gucken natürlich weiter hin, und Steffi und Justus sind so kulant, uns nicht spüren zu lassen, wie doof es ist, von dreißig Leuten mit Augen angeschaut zu werden, die sagen: Tut was, wir sind wegen euch hier!
Peinliches Schweigen zwischen uns und ihnen. Und nach einigen Sekunden, da fragt – ein Glück! – Justus Steffi, ob sie nicht ein Bier trinken wolle.
„Nee, lieber Sekt, oder nee, warte, da muss ich mich noch umstellen: Ich trinke irgend so ein Becks-Getränk, was so schmeckt wie Alkopop, aber nicht so schlimm ist!“
Die beiden gehen weiter, an den Kiosken vorbei und quer über die Strasse, um zu “Taco” zu gehen, dorthin, wo man Bier kaufen sollte – warum auch immer.
Vor ihnen steht bei “Taco” ein Pärchen und so ein Gespräch passiert:
“Eine Pizza!”
“Aber Schatz, Du isst doch gar nicht so gerne Pizza!”
“Doch, doch, ich esse gerne Pizza”.
“Hab’ ich aber noch nie gesehen, das Du Pizza isst!”
“Doch, doch, ich esse Pizza, ich ess’ Pizza”.
“Aber früher doch nicht!”
“Doch, früher auch!”
“Nein!”
“Doch!”
“Früher hast Du nie Pizza gegessen. Ich hab Dich noch nie eine Pizza essen gesehen!”
“Früher war ich mit meinen Freunden hier, da haben wir eine Pizza nach der anderen gefressen. Die ganze Nacht, und uns war egal, wie heiß die Pizza war; oft haben wir noch den Pizzakarton in Kerosin getränkt und angezündet, damit die Pizza noch heißer wird. Bis zu zweitausend Grad! Das hat die Zwillingstürme in New York zum Einsturz gebracht, aber meine Mundhöhle nicht! Hier guck mal, das ganze Maul, eine einzige Brandnarbe!”
“Nein!”
“Wie nein?”
“Hast du nicht!”
“Doch, hab’ ich. Ich schmeck’ schon seit ich 13 bin nichts mehr. Deswegen hab’ ich auch immer Angst, dass Du Gift in mein Essen tust!”
“Gift in Dein Essen? Das ist jetzt aber schon ein bisschen gemein! Du meinst, ich kann Dir einfach so Gift in Dein Essen tun?”
“Ja, das ist gar kein Problem. Deine Freundin ist doch Assistentin beim Selbstmorddoktor in der Schweiz. Die könnte Dir Gift besorgen, und Du könntest das in mein Essen tun. Ich würde nichts merken. Ich wäre einfach so tot, und ich hätte es nicht geschmeckt, und ich wäre nicht mal wütend auf Dich, weil ich ja nicht wüsste, dass Du das warst, weil ich das ja nicht geschmeckt habe, wegen dem Geschmack des Essens!”
“Echt?”
“Ja, echt. Das ginge. Das könntest Du machen”.
“Ich will Dich aber ja gar nicht unbedingt umbringen”.
“Bist Du da sicher? Ich wäre da nicht so sicher. Wär’ ich Du, ich wär’ mir da nicht so sicher. Nur mal was zum nachdenken. Nä? Schatz? Nä?”
Die beiden setzen sich und erstarren in Schweigen – sie grüblerisch, er gut gelaunt.
“Ein Bier!”, sagt Justus.
“Und ein so’n Beck’s „blick cuttant“, oder wie das heißt!”, sagt Steffi.
“Wie geht’s?”, fragt Steffi.
“Gut!”, sagt Justus.
“Mir fehlt Emma!”
“Und mir fehlt Maik!”, sagt Steffi.
Dann ist es leise und im Radio läuft ein Lied:
“Ich hab’ ein Schiff gesehen
in einer Winternacht.
Aus Silber war das Segel,
aus Gold der Mast gemacht.
Vielhundert Kerzen brannten,
ich sah den Steuermann.
Da wußt’ ich, daß ich Weihnacht
zu Hause feiern kann.
St. Niklas war ein Seemann.
Er liebte Wind und Meer.
Und alle Jahr zur Winterzeit
fährt er Millionen Meilen weit
vom Land der Sterne her.
St. Niklas war ein Seemann,
wie kaum ein andrer war.
St. Niklas, schütze unser Boot
vor Klippen, Sturm und Feuersnot
und jeglicher Gefahr.
Es wehte vierzehn Tage,
wir fürchteten uns sehr.
Ich stand allein auf Wache,
da legte sich das Meer.
Ich hab’ ein Schiff gesehen
und sah den Steuermann,
Da wußt’ ich, dass ich Weihnacht
zu Hause feiern kann.
St. Niklas war ein Seemann.
Er liebte Wind und Meer.
Und alle Jahr zur Winterzeit
fährt er Millionen Meilen weit
vom Land der Sterne her.
St. Niklas war ein Seemann,
wie kaum ein andrer war.
St. Niklas, schütze unser Boot
vor Klippen, Sturm und Feuersnot
und jeglicher Gefahr”.


Tag 5 (29.12.2012)

Die Vergangenheit, die Zeit, das Eck, Alltagssorgen/Zukunftsangst

Da sind sie nun, die Vier. Der Maik und die Steffi und die Emma und der Justus. Langsam treffen sie alle an der Sielwallkreuzung ein.
Der Justus er hat sich eine teure Jeans zu Weihnachten gekauft. Vor dem “Coffee Corner”, da neben “Titus”, da will er sich auf die kleine Fensterbank setzen, und in dem Moment freut er sich, dass seine neue Hose von innen mit Seide ausgekleidet ist. Das ist gut, denn von außen sieht sie alt und speckig aus – das trägt man jetzt so und entspricht ein wenig dem Zeitgeist – und dem kann auch er sich nicht entziehen, denn was ist schon so peinlich wie eine veraltete Hose. Bei Hosen muss man da immer vorsichtig sein!
Eine speckige alte Hose, deren letzte Tage schon angebrochen zu sein scheinen: Sie fällt fast auseinander, aber von innen, da ist sie mit feinster Seide verkleidet und rutscht an den Lenden, Knien und Waden entlang, dass es eine wahre Pracht ist, jedes Mal, wenn Justus sich hinsetzt. Warm im Winter, kühl im Sommer, so ist diese Hose. Außen sagt sie: “Ihr könnt mich doch alle mal!” Und innen sagt sie: “Ich bin piekfein, toll, teuer, luxuriös und insgesamt ein Traum!” Und das ist doch eigentlich ein ganz schönes Bild für Justus, denn er ist wie seine Hose – und das, das ist ja ganz wichtig bei Hosen: Sie sollen so sein, wie der Typ, der da drinnen steckt – und so, so ist diese Hose wirklich: Wie der Justus an sich!
Was das für ein Jahr war, denkt er sich: Irgendwie – und das kann man ja gar nicht anders sagen – war es kein besonders lustiges Jahr. Diese ganze Japan-Geschichte und diese ganzen Leute, die sie umgebracht haben. Den bin Laden haben sie erschossen, den Gadaffi haben sie gepfählt. Was sie mit dem Kim Jong-il gemacht haben, weiß auch keiner, und Kollegah wird wohl aufgrund von gut gemachten, aber wohl unverantwortlichen Witzchen das gleiche Schicksal ereilen – immerhin ist er der Boss der Bosse und hat Bitches mit knappen Kleidern, so wie des Ritters Gesell’!
Ansonsten, jetzt im Jahr 2011: Das wäre die erste Chance für ein Revival der Nullerjahre gewesen, wäre denn in den Nullern irgendwas gewesen. Aber, wenn man mal so nachdenkt: Nein, da war nichts. Oder da war so viel, dass man das alles gar nicht mehr auseinanderklamüsern kann, weshalb auch gut sein kann, dass gerade deswegen “gefühlt” nichts los war!
Aber daraus kriegt man ja auch keine Retrowelle gebacken. Was sollte man denn da auch machen: Zum Beispiel 2001: Das ist jetzt 10 Jahre her und davon, was sich Generationen um Generationen von Menschen für das Jahr 2001 erwartet hatten, ist ja nun wirklich gar nichts eingetreten: Nicht ein Auto ist geflogen, nicht ein Fuß war auf dem Mars, geschweige denn in fernen Galaxien. Auch nicht ein verdammtes Alien ließ sich blicken, die Schwarzen sind immer noch wie die armen Weißen – nur besser, und Frauen sind immer noch in allen Belangen überlegen, aber machen nichts und wieder nichts daraus, weil sie immer noch soviel Angst vor der brutalen Dummheit der Männer haben wie Justus in der zehnten Klasse vor den Junkieräubern, die es damals am Sielwall noch gab.
Weder Mann noch Frau will länger irgend etwas mit der Küche zu tun haben – da fragt man sich doch, wo der Ort denn nun eigentlich genau ist, wo jeder sein eigenes Süppchen kocht!
Und wenn Mensch sich vorstellt, dass all diese Dinge schon zehn Jahre her sind, dann kann man ja von sich und seiner eigenen Generation nur schwer enttäuscht und gelangweilt sein!
Aber Hauptsache – und sehr, sehr schön: Dieses Gefühl, wie eine coole Hose zu sein!
Wie das Jahr für Justus war, der auf der Fensterbank vor dem “Coffee Corner” sitzt? Nicht gut. Nicht schlecht. Nicht ganz langweilig. Nicht ganz spannend. Nicht ganz müde. Nicht ganz prickelnd.
Halt so wie eine Lieblingshose, und so ähnlich trägt Justus sein Leben ja auch!
Vor ihm steht die Steffi und denkt sich: Toll, dass ich dieses Jahr so gar nichts zu Weihnachten bekommen habe, weil: Die Leute, die ich lange genug kenne, dass sie das Gefühl haben, sie müssten mir was schenken, die haben ja gar keine Ahnung, wie ich jetzt wirklich bin – und das Gute ist, dass ich nicht so tun muss, als würde mir das gefallen, was sie mir schenken!
Das ist natürlich angenehm – und tatsächlich fühlt sich auch Steffi wie ihre Hosen: Die liegen fest am Körper an und überall sind Linien und Täschchen und Nieten und kleine Glitzersteinchen aufgenäht und über den Hintern geht eine extra Linie, die sich wie ein Bogen von Backe zu Backe schlängelt und das Gesäß optisch anheben soll. “Optik: boom!”, hat der Verkäufer dazu gesagt!
Ansprechend sieht die Hose ja aus – anders als eine Jogginghose natürlich, anders als eine verrottete Jeans und ganz, ganz, ganz bestimmt auch anders als die Hosen aus Goretex, die man so an der Wade mit einem Reißverschluss aufmachen kann, damit es dann eine Dreiviertelhose ist. Und die noch einen weiteren Reißverschluss knapp über dem Knie haben, um das Hosenbein auch dort noch mal abnehmen zu können, falls es noch wärmer wird. Und: „Alter!“ – da sind sich Justus und Steffi sehr einig: Wie Scheiße kann man denn aussehen wollen!
Viel haben Steffi und Justus ja nicht gemein, aber sehr, sehr sicher sind sie sich dabei, dass, wenn jemand in der Gesellschaft ernst genommen werden will, er sich auch so anziehen soll. Das hat ja auch etwas mit der Höflichkeit zu tun, dem Gegenüber überhaupt die Chance zu geben, ihn oder sie zu mögen.
Jemanden aus Jogginghose, Ballonseidenjacke und bescheuerten Ich-bin-ich!-Na-und,-du-Chauvie!-Haaren heraus zu überzeugen, dass man gesellschaftlich ernst zu nehmen sei, ist, wie jemanden zu einem Kuss überreden zu wollen, während man auf Scheiße kaut und sich denkt: “Naja, muss ja nicht jedem schmecken!”
Aber bei der Hose, die Steffi anhat, da ist das okay. Die ist außen aus dem gleichen Stoff wie innen. So wie Steffi selbst. Das ist eine ganz ehrliche Hose!
Wenn sie da so steht und sich Justus anschaut und so an das Jahr denkt, dann denkt sie sich manchmal schon: “Es könnte besser sein! Aber es könnte auch schlechter sein!” – das denkt sie sich auch. “Ich könnte mehr haben!”, denkt sie sich. “Aber ich könnte auch weniger haben. Und ich könnte schöner sein!”, denkt sie sich. “Ich könnte aber auch hässlicher sein!” Und das, das reicht eigentlich schon.
Sie schaut Justus an und denkt sich: Ich glaube, mir geht es besser als Justus, denn der Justus, der war schon in Tenever früher immer irgendwie anders, so ein bißchen, dass man ihn nicht verstehen konnte -  und Geld hat der auch nie gehabt. Das ist schon so!” Und dann denkt sich Steffi: “Ich hab’ doch ein bißchen Geld!” – und versucht, Justus sechzig Euro zu geben. Aber da sagt Justus nur: “Ich brauch’ Dein Geld nicht!” – und steckt das Geld ein und denkt sich: “Geil, sechzig Euro! – ich muss im Leben nie mehr arbeiten gehen – vorausgesetzt, ich sterbe am Samstag!”
Steffi muss daran denken, wie früher einmal das Blutspendemobil zu ihrem und Justus’ Hochhausblock gefahren kam, damit alle da ihr Blut spenden konnten. Da ist der Justus auch runtergekommen, und dann haben die gefragt: “Wollen sie Blut spenden?” Und da hat der Justus gesagt: “Ja, das möchte ich – bitte geben sie mir einen Eimer und eine Pistole!“
Ein bisschen ist Steffi kalt, aber das ist nicht so schlimm. Wo Maik wohl steckt, das fragt sie sich.
MAIK
Maik schiebt sich gerade den Sielwall hinunter. Langsam. Vorsichtig. Keine Eile, das muss nicht sein. Nicht entdeckt zu werden, das ist das Entscheidende – durchkommen! Es geht hier nicht um Action, es geht hier nicht darum, der Beste und Männlichste und Härteste zu sein, das ist nicht entscheidend!
Es geht darum, einen Auftrag auszuführen. Es geht darum, klar zu zeigen, welchem Herrn man dient, zu zeigen, was man zum Wohle Aller leisten kann. Auch in der Armee ist jeder nur so stark wie das schwächste Glied seiner Kompanie. Und es geht nur so. Es geht darum, nicht das schwächste Glied der Kette zu sein. So muss es sein, denn, wenn jeder versucht, der Beste zu sein, dann ist es ein Heer von Egoisten – und das schwächt den Kampfverband mit der Zeit. Wichtig ist, das jeder weiß: Er darf nicht der Schlechteste sein. Das hat den gleichen Effekt, aber untergräbt nicht die Moral der Einheit. Und Moral, das ist im Krieg das Wichtigste!
Das Interessante an der Kriegskunst ist ja immer, dass sie nur deswegen die Kriegskunst ist, weil sie sich auf den Krieg bezieht. Jedoch ist es gut möglich, auch alltägliche Probleme oder Aufgaben ebenso anzugehen.
Strategie, Plan, Durchsetzungskraft, Koordination, Disziplin, Logistik, Mut, Stärke, Kommunikation: Das ist gefragt – sowohl im Krieg als auch – wie jetzt gerade bei Maik – für die Beschaffung von Nahrung bei einem Ausländer an der Kreuzung Sielwall/vor dem Steintor.
Heute wird nicht im Team operiert: Maik ist hier alleine. Er trägt schwarze Tarnkleidung, auf deren Brust er Graffiti-Schrift, ein sogenanntes Tag, aufgebracht hat, um sich vor den Häusern tarnen zu können. Dort steht „Fishbone“ geschrieben. Er schiebt sich an den Häusern entlang, Haus für Haus, und den Graffitiwritern fällt schon auf, dass irgendein Idiot tatsächlich angefangen hat, „Fishbone“ zu taggen. Tja, ein Wahnsinns-Stylewriter, dass ist er nicht so, der Maik – aber Tarnen geht gut!
Er trägt einen Hut, der aussieht wie zwanzig Backsteine, das Fishbone-Shirt, das aussieht wie ein Altbremer Fenstersims, und eine Hose, die einem Hauseingang mit Katzentür zum Verwechseln ähnlich sieht.
So angezogen schleicht Maik den Sielwall herunter, am Körnerwall vorbei durch die Dunkelheit, an der Bernhardtstraße mit der “Lila Eule” vorbei. Er schleicht um die Ecke, an der „das Eisen“ ist, und kippt vor Schreck um, als ihm irgend jemand aus dem Fenster ins Gesicht schreit: „GROSSE BIER – EISKALT – EINSFÜNFZIG!“
Darauf hin geht Maik in den Laden und kauft sich ein Rollo “KIKERIKI” – das ist immerhin hier erfunden worden. Und ein bißchen kann man den großen Erfindungen Bremens, nämlich: Hubschrauber, Knigge, Pümpel und Rollo schon Respekt zollen. Lecker!
Da sieht er Steffi auf der anderen Seite sitzen.
Emma.
Emma tritt aus der Haustür und sieht einen jungen Mann, welcher reichlich architektonisch angezogen am Haus gegenüber vorbeischleicht. Sie trägt ein Notizbuch unter dem Arm und schlägt langsam den Weg zur Kreuzung ein. Dort sitzt Justus, den sie noch aus dem Krankenhaus kennt, als diese Sache mit der Nadel und dem Mord war. Davor steht diese Steffi, die Emma noch aus Tenever kennt. Von hinten nähert sich der Typ, den man „die Mauer“ nennen könnte, aber auch „der Idiot“: Das war der Name, den früher immer alle für Maik benutzt haben – damals in der Hochhaussiedlung.
Maik geht an Emma vorbei zum “Coffee-Corner” und setzt sich auf die Fensterbank – beziehungsweise versucht es, rutscht aber wegen seiner viereckigen Hosenverkleidung ab und landet auf dem Boden.
„Idiot!“, denkt sich Emma.
„Idiot!“, denkt sich Justus.
„Idiot!“, denkt sich Maik
„Süß!“, denkt sich Steffi.
Aus der Entfernung sieht Emma die vier Typen, die sie von weit früher kennt. Sie denkt sich: Nun gut, ich versuch’s mal, ich muß ja alle Gesellschaftsschichten erreichen!”. Sie überquert die Straße und setzt sich auf den Boden. Vor ihr sitzen Steffi und Justus, neben ihr kommt Maik zum Sitzen.
Emma:
„Folgendes: Ich werde euch jetzt eine Geschichte vorlesen. Ich will keine dummen Kommentare oder Witze hören. Ich will keine Sprüche hören, weil Euch die Atmosphäre zu intim wird oder weil Ihr nicht erwachsen genug seid, damit umzugehen, wenn Euch etwas berührt. Macht das mit Euch selbst aus. Ich hab’ mir Mühe gegeben, das hier aufzuschreiben. Also solltet ihr Euch Mühe geben, Euch das hier anzuhören. Es ist nicht lang.
XXX oder Liebste Elsa.
Warum ich den größten Teil meiner Kindheit im Schoße und in der Wohnung meiner Großmutter Emma statt bei meinen leiblichen Eltern verbrachte, weiß ich nicht.
Nach einer Weile, die ich bei ihr wohnte, vergaß ich meine Eltern fast, und ich denke bis heute, dass ich sie nie kennen gelernt habe.
Großmutter Emma sprach nie viel – sie war ein praktischer Mensch, wie schon ihr Äußeres verriet. Wenn ich mich zurück erinnere, denke ich zuerst an ihre großen weichen Hände und an ihren Busen, den sie vor sich her schob durch ihre kleine Wohnung im Bremer Stadtteil Sebaldsbrück.
Mit dem Stolz einer Überlebenden fuhrwerkte sie durch jedes Zimmer. Sie hielt sogar die kleinste, schattigste Ecke eines jeden Zimmers so sauber, dass nicht damit zu rechnen gewesen wäre, dass sich jemals Leben in dieser Wohnung befunden hatte.
Zu den zwei Zimmern und dem Flur, die meine Großmutter einst mit ihrem Ehemann bewohnt hatte, mietete sie den Dachboden hinzu, um mir ein Zimmer einzurichten.
Sie schlug den alten Spitzboden, das „alte Versteck”, wie sie ihn immer nannte, mit groben Militärdecken aus, schaffte eine kleine Matratze hinauf und lies mich bei sich wohnen, nicht ohne mir zu untersagen, die kleinen Kisten, welche ebenso wie ich auf dem Speicher verstaut waren, jemals zu berühren.
Mir ging es wie vielen anderen Kindern, die sich in der Kleinheit einer Höhle wohlfühlen: Ich genoß es, mich unter dem riesigen Berg Decken zu verstecken, bis nur noch mein Kopf herausschaute, und liebte es, in den alten, verbotenen Truhen zu wühlen, die auf dem Speicher neben meiner Matratze standen. Es schien eine Tradition meiner Familie zu sein, nach dem Tod eines Angehörigen eine kleine Truhe zu packen – eine Truhe, in die jeder Hinterbliebene ein kleines Erinnerungsstück legte. Etwas, das ihn mit  dem oder der Verblichenen verband: Ein Foto, einen Ring, einen Brief, das liebste Hemd, sogar alte, abgetragene Schuhe. Heimlich schöne, für andere nicht zu verstehende Erinnerungen.
Nicht größer als Schuhkartons waren diese Kisten. Fein säuberlich gestapelt und in Leinen gewickelt standen sie neben meinem Bett, und oft schaute ich sie mir bei Kerzenschein heimlich und leise an, um meine Großmutter Glauben zu machen, ich würde schlafen. Dann räumte ich alles genauso zurück, wie ich es vorgefunden hatte.
Zu fast jedem Stück erfand ich eine Geschichte, und nach einer Zeit wollte ich von den echten Geschichten, die sich hinter den Kisten verbargen, schon gar nichts mehr wissen.
Nur bei einer dieser Kisten, es war diejenige meines Großvaters, der einst hier gewohnt hatte, wollte mir nichts einfallen. Nicht die kleinste Geschichte.
Sie war die letzte KIste, die ich öffnete, und alles, das sich darin befand, war ein alter, vergilbter Stofffetzen, auf den in Rot drei X gekreuzt waren. Das Stück war in ein größeres Tuch eingewickelt, behutsam gefaltet und mit einem rauhen Faden verschnürt. Ich legte den Fetzen zurück und gab mich dem Gedanken hin, dass es wohl keine besondere Erinnerung war, die dort verstaut worden war, sondern eher das einzige, das von meinem Großvater nach seiner Verschleppung nach Buchenwald noch geblieben war.
Ich sprach nicht viel mit Großmutter und ihr Tod war so unaufregend und ohne Umschweife, wie sie ihr Leben gelebt hatte. Ich fand sie eines Morgens wie schlafend in ihrem Bett. Ihr Gesicht war nicht zufrieden oder glücklich, und ich konnte in ihren Augen sehen, dass ihre letzten Gedanken wohl den Worten entsprachen, die sie jeden Tag wiederholte:
“Es ist, wie es ist.”
Sie sprach die S-Laute immer scharf aus: „S is, wies is!”.
Als ich die Decke zurückschlug, fiel mein Blick auf ihre Hand, und ich sah das Stück Stoff aus der Kiste meines Großvaters. Sie musste es nachts heimlich, während ich schlief, aus der Kiste auf meinem Dachboden geholt haben.
Großmutter hatte es aufgefaltet, um ihre Finger gewickelt und die Hand unter ihre Wange geschoben, so dass das Tuch ganz nah unter ihrer Nase lag.
Das ist mein letztes Bild von ihr. Ich habe es nie geschafft, ihr eine Kiste zu machen.
Jahre späer, als erwachsene Frau, erfuhr ich von einem Ritual der jüdischen Gefangenen in den deutschen Konzentrationslagern: Aus alten Betttüchern wurden nachts kleine Stücke herausgerissen, mit drei Kreuzen gekennzeichnet und über Nacht am Körper versteckt.
Da jedes Gespräch und jeder Schrieb zwischen Mann und Frau untersagt und alles Geschriebene konfisziert wurde, waren es nur diese drei Kreuze, Kreuze ohne Unterschrift und ohne Namen, die auf den Wäschefahrten aus den Lagern herausgeschafft werden konnten.
Der Geruch, den der Stoff, über die Nächte nah am Körper getragen, aufgenommen hatte, war das einzige unverfälschte Lebenszeichen, das den im Untergrund Lebenden außerhalb des Lagers überbracht werden konnte.
Diese drei Kreuze, meist mit drei Tropfen Blut geschrieben, standen für drei Worte, die in dieser Zeit niemand zu sprechen wagte.
Erst Jahre später, beim Umbau des Hinterhofes des  Gerichtsgebäudes an der Domsheide, fanden Bauarbeiter eine kleine Metallkiste, angefüllt mit Briefen und Notizen, versteckt unter einem losen Pflasterstein hinten im Hof, wo sie heute immer den “Tatort” drehen.
Diese Briefe leben erst jetzt, 75 Jahre später, wieder auf.
Unter ihnen ein Brief des zweiten Mannes meiner Urgroßmutter. Er liegt heute mit in seiner Truhe auf meinem Dachboden.
‘Liebste Elsa,
ich hoffe dieser Brief erreicht Dich, denn wir dürfen nicht schreiben.
Wenn Du nicht alles lesen kannst, liegt das daran, dass uns Stift und Papier untersagt sind. Ich schreibe Dir dies mit einer stumpfen Gabel und schwarzer Schuhwichse, die ich von meinem Arbeitseinsatz zum Reinigen der Soldatenstiefel entwendet habe.
Es ist kalt hier in der Zelle, die letzten meiner Mithäftlinge sind fort – wohin, das weiß ich nicht. Der Versuch, es mir vorzustellen, macht mich zittern. Es war bis gestern jeden Tag das gleiche Prozedere, jeden Morgen holten sie einen von uns.
Sie begannen am Ende meines Korridors, und ich hörte das Wimmern und Schreien meiner Mitgefangenen.
Tag für Tag höre ich die Stiefel über den Korridor stapfen und das metallene Kreischen beim Aufreißen der schweren, stahlbeschlagenen Türen und das Schreien eines unserer Namen.
Kurze Zeit später dumpfe Schläge und das Schleifen nackter Füße und nackter Haut auf dem rauh verputzten Flur.
Auf diesem Flur gibt es acht Zellen, in denen 10 Menschen sind.
Sie werden jeden Tag weniger.
Jeden Tag werden es weniger, es wird immer stiller im Gang.
Seit ich hier bin, seit wir uns das letzte Mal sahen.
Das letzte Mal, als wir zusammen beim Arzt saßen, in der Schlange warteten, obwohl wir gar nicht krank waren. Wie sie Dich fortsandten. Und ich erst einige Tage später zu Dir heimkehrte.
Ich weiß, dass Du geweint hast. Und es ist mein größtes Unglück, Dir nie gesagt zu haben, warum ich nicht ganz bei Dir sein konnte, obwohl ich bei Dir war.
Sie haben mir alles genommen.
Weißt du noch, als wir am Weserwehr saßen? Als ich Dich gefragt habe, ob wir heiraten wollen?
Wie wir über die Zukunft sprachen – ich mir ein Haus und du Dir Kinder wünschtest?
Wie wir hofften, dass unsere Kinder werden wie wir.
Ganz so wie wir, nur dass sie hören könnten!
Wir haben gelacht.
Das war ein guter Tag.
Mach Dir keine Sorgen. Ich bin bei Dir.
Wir werden keine Kinder haben, denn ich kann keine Kinder mehr haben.
Sie haben mich operiert.
Die Ärzte haben sie uns genommen, noch bevor wir sie haben konnten.
Es ist uns heute verboten. Verboten, für die Zukunft zu leben.
Deswegen mein Schweigen, als ich heimkehrte. Ich kann Dich nicht verlieren. Doch ich habe keine Zukunft mehr. Nicht hier und nicht mit Dir. Ich werde sterben.
Hier oder dort.
Nichts von mir wird weiterleben.
Ein Haus kann nicht leben ohne Leben in ihm. Unser Haus, von dem ich nachts immer noch träume.
Ich habe Angst. Es ist einsam, so alleine hier. Einsam ohne Dich an meiner Seite. Ohne mich, der Dir nicht geben kann was du dir wünschst.
Ich kann es Dir jetzt sagen, da ich weiß, dass es wohl kein Morgen mehr gibt.
Ich hatte zuviel Angst und Du weißt: Reden war nie meine Stärke!
Erst in diesen Stunden finde ich den Mut, ehrlich zu Dir zu sein.
Die Schritte auf dem Korridor kommen näher. Jeden Tag.
Wir werden vor Gericht gebracht. Einer nach dem anderen, und ich wei゚ nicht mehr, ob es das Schlagen von Türen oder Gewehrschüsse sind, die ich nachts höre. Ich habe zuviel Angst, um an irgend etwas zu denken!
Und denke mir: Wozu Angst? Ich hatte alles, von dem ich geträumt hatte.
Ich hatte dich, Elsa. Und du hattest mich.
Versteck’ dich.
Doch stirb nicht.
Nirgends lebe ich, außer in Dir.
Mein letzter Herzschlag wird bei Dir sein.
Wir sind zusammen. Das kann uns keiner nehmen.
In uns sind wir beieinander.
Für immer.
Da ist keine Hoffnung mehr. Kein Mut, dass es ein Morgen gibt.
Da ist nichts mehr, auf das ich vertraue. Außer auf Dich.
Sei brav und lieb, meine Elsa. Und lebe.
Ich kann Dir nicht sagen, ob und wann wir uns wiedersehen. Ich weiß nicht, wohin sie uns alle bringen.
Es kommt keiner zurück!’
Was meine Großmutter meinem Großvater verschwiegen hatte, war, dass sie längst im dritten Monat schwanger war.
Mein Großvater würde weiterleben.
Schließlich sitze ich heut’ hier.”
Maik guckt. Steffi guckt. Justus guckt. Emma guckt.
Justus sagt: Danke!”
Im Kalten. Am Eck. Es fängt an zu regnen. Da setzen alle ihre Kapuzen auf und sagen nichts.
Heute ist heute, morgen ist morgen, und was unsere Vier nächste Woche tun, das wisst weder Ihr noch ich!
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Tag 6 (5.1.2012)

Böller statt Brot - „Ich sterbe hier vor Hummer!“


Die Vier: Justus, Maik, Emma, Steffi - sie sitzen vor dem „Coffee Corner“ am Eck - es ist am Abend, und es ist der letzte Abend im Jahr, und sie denken sich: „Nun ja, jetzt ist das Jahr zu Ende und das nächste, es wird wohl das letzte Jahr sein!“
Da drüber denkt ja jeder anders, also darüber, wie sie damit untergehen könnten, mit der Welt und dem Ende von allem.
Und noch anders denkt ja jeder, wie sie untergehen sollte, die Welt:

Vielleicht ganz in Ruhe, wie Justus es sich wünschen würde, oder irgendwie mit vielen Gefühlen, weil Emma das Ende der Menschen gerne so hätte, wie sie selbst ist: Gerne mit vielen Gefühlen!
Maik, der sich wünschen würde, dass alles wegen ihm untergeht, oder Stefanie, die es wohl am besten fände, wenn das gar nicht geschehen würde, weil sich dann ja so viel verändert, und sie weiß, dass man auch mal zu schätzen wissen muss, wie toll es ist, wenn die Dinge so gut bleiben, wie sie sind.

Aber so, im Abendlicht unter den im Wind schwankenden Straßenlaternen, so mitten im Gesicht der Menschen, da kann man sehen: Diese ganze Idee und die ganze Hoffnung von und auf den Weltuntergang, sie sind ja doch nur der traurige Versuch eines einzelnen Menschen, einen möglichst großen Unterschied in der Geschichte der Menschheit zu machen; der alte Kampf zwischen dem Künstler und dem Elternteil: Wie ist es bequemer, unsterblich zu werden?
Der größte Nachteil, den so ein Weltuntergang hätte, der wäre ja, dass man selber wahrscheinlich auch tot ist, denn tatsächlich: Wenn man selber überlebt, dann ist es ja kein richtiger Weltuntergang!
Es geht ja wie bei allem, das man erlebt immer darum, dass alles mehr Spaß macht, wenn man Leute dabei hat, die man mag. Und wenn alle auf einmal gehen, dann sind natürlich auch die, die man mag, dabei.
Tot, das ist jetzt vielleicht ein wenig unangenehm - tot geht ja ein jeder irgendwann, und tot ist tot, da ist es mit der Differenzierung ja nicht mehr so weit her, weil für einen Toten ja alle, die nicht tot sind, eher egal sind. Auch sterben ist Teil unserer Eventkultur - was für ein ökonomischer Wahnsinn wäre es, alleine zu sterben. Man feiert ja auch nicht alleine eine Party!
Ich sage: Schluss mit der Passivität der Familiengräber!
Anders herum ist dieses Dasein als Hinterbliebener ja auch meist unausgefüllt. Das, was man als Weiterleben bezeichnet, wenn man einen Sterbenden trösten will, ist ja nur der Versuch der Hinterbliebenen so zu tun, als wäre der Tote gar nicht tot.
Tatsächlich muss man den Sterbenden ja zugestehen, dass es manchmal auch einfach Zeit zum Gehen ist. Dass es jetzt genug ist. Dass es reicht. Dass Schluss ist!
Und an diesem Schlusspunkt ist, wenn man sich in den Innenstädten der Welt mal umsieht, an dem Punkt also ist nicht nur ein einzelner Mensch, sondern wohl eher die ganze Menschheit angekommen - und tatsächlich sollte man mit dem Menschengeschlecht im Ganzen eigentlich genau so umgehen wie mit einem einzelnen Menschen auch.
Wahrscheinlich ist die Hoffnung auf den Weltuntergang nur der letzte Versuch, mit noch ein wenig Würde in den Sarg zu fallen - in den Holzpyjama, wie der Österreicher sagt.

Wie mit einem Sterbenden umgegangen wird, ist aber tatsächlich doch eher so wie mit einem Künstler. Man steht vor dem schönen Ölbild eines Künstlers und sagt ihm nicht: „Das ist ein schönes Bild, da hast Du ein tolles Bild gemalt! Lass’ es so, besser wird es nicht!“
Einem Künstler wie einem Sterbenden wird dagegen gesagt: „Nein, hier noch ein Strich, hier noch ein Strich, hier ein Schatten, hier ein Lichtwurf – hör’ bloß nicht auf, mal weiter!"
Weiter, bis am Schluss das ganze Bild an Würde verloren hat und einfach nicht mehr rund ist. Man nölt ihm solange ins Ohr, dass er weitermachen soll, bis er sowieso taub ist und sich denkt: „Mein Gott, war das Leben kurz!“
Aber alles, was einer darauf antworten kann, ist ja: „Das Leben ist nicht kurz. Tatsächlich ist das Leben das längste, was Du jemals tun wirst!“
Länger als das Leben ist nur die Kunst, und wenn einer einen tollen Künstler fragt, was das Wichtigste bei seinem schönsten Werk war, dann ist die Antwort oft: „Ich wusste, wann es fertig war - und das gilt auch fürs Leben!“

Also: Zurück zu Künstler Justus.
Da sitzt er, in den schönen Hosen, mit der Seide innen, die ihm so an den Beinen schmeichelt, und besieht sich die anderen Drei: Steffi, die vor ihm steht und vom einen Fuß auf den anderen wippt, weil es ja doch ein bisschen kalt ist.
Maik sitzt da, in diesen seltsamen urbanen Tarnklamotten, die bestimmt sehr seltsam und merkwürdig aussehen, mit diesen Schuhen wie Pflastersteine und der Oberbekleidung, die aussieht wie Altbremer Häuser von vorne, nur damit er sich davor verstecken kann, so als wäre Maik selbst ein Haus.
Vollkommen außer Frage, wie doof das aussieht: Es sieht sehr doof aus, wie so vieles, was Maik tut, wenn ein Tag lang ist!
Aber einen Menschen wie Maik dafür zu verlachen, dass er tut, was er für das Richtige hält: Da würde sich doch nur zeigen, dass da ein Dummkopf über einen Dummkopf lacht!

Tatsächlich mag Justus es nicht, wenn Leute mit dummen Wörtern bedacht werden, und die Gewohnheit von früher, als Maik immer nur „der Idiot“ genannt wurde - findet er -, wird dem Maik nicht gerecht.
Natürlich ist er ein problematischer Mensch, und einfach ist das mit ihm bestimmt nicht. Aber das ist ja sowieso schwierig mit dem Zwischenmenschlichen, wo der Computer doch nun wirklich mittlerweile so viel unterhaltsamer ist als der Mensch, der direkt neben einem sitzt.
Und toller ist er, der Computer und dazu meistens nur zwei Meter entfernt, und das Tollste ist ja: Wenn der Computer einen nervt, dann kann man ihn ausschalten. Das ist bei Menschen ja oft leider strafbar!
Das was Maik passiert ist, dass er das jetzt soviel macht mit dem Surfen und dem Spielen am Computer, das ist schon ganz nachvollziehbar, denn, wenn man es nicht gerade darauf anlegt, dann ist die reale Welt nicht sehr interessant.
Anders gesagt, die Welt an sich ist immer genauso, wie man sie nicht haben möchte! 
Es ist nahezu unglaublich, wie langweilig, belanglos, dumm und beleidigend die Welt sein kann, wenn man es genau darauf anlegt, so von ihr behandelt zu werden!
Dass die Welt bunt und toll und schön, unbändig an einem interessiert, hungrig auf ihr Gegenüber und insgesamt einfach nett ist, wenn man sie auch so behandelt, das ist schon sehr schwer einzusehen!
Denn: Wenn man auch nur einmal nicht aufpasst und zulässt, dass die Welt ätzend und anstrengend und dumm und anmaßend aussieht, wenn man also selbst die Welt als ätzend, anstrengend, dumm und anmaßend ansieht - dann ist es ganz schwer, der Welt diesen „Look“, diese Maske wieder abzuziehen, denn was gesehen wurde, kann nicht ungesehen gemacht werden!
Wer gesehen hat, wie dreckig die Welt sein kann, der wird das nicht so schnell vergessen!
Anders als Schönheit.

Schönheit zu vergessen, das dauert oft genug nur einen Wimpernschlag.
Denk’ nur an die Liebe von gestern!
Es ist also tatsächlich eine Anstrengung, die Welt immer so zu sehen, dass sie einem Freude macht - und wenn man vergißt, die Welt glücklich anzusehen, da kann man keinem böse sein, denn es ist nur menschlich, sich lieber nicht so sehr anstrengen zu wollen.
„Das hat dann wohl etwas mit der Trägheit der Masse zu tun!", denkt sich Justus, als er so zuhört. „Ich habe den Menschen schon immer eher als träge und unförmige Masse angesehen. Ein einzelner Mensch ist ungefähr so sympathisch wie halt irgend so eine Masse von irgendwas. Aber wenn dann aus der Masse auch noch Massen werden - Menschenmasse zu Menschenmassen -, dann hört es ja auf, da quillt die Lust auf den Weltuntergang einem dann zu den Ohren heraus und schmeckt nach Galle.
Aber, genau gedacht, genau gedacht und ehrlich gesagt, ist wohl für die meisten Menschen das Angenehmste das Wissen, dass sie wenigstens nichts mehr verpassen, wenn alle Menschen auf einmal sterben.
Das ist ja mit der wichtigste Grund, um die Trägheit der eigenen Masse zu überwinden, um überhaupt irgend etwas zu tun: Die Sorge, etwas zu verpassen!
Deswegen haben die dummen Discos ja bis morgens um Neun auf.
Schnell noch ein bisschen Umsatz mit der Angst der Leute vor dem Verpassen machen. Das ist ja alles Geld, das gegen das Verpassen gezahlt wird - das ist ja in Kneipen und Technodiskos sozusagen ein dynamisches Eintrittsgeld in einen beschissenen Abend!
Mit einem auch nur halbwegs funktionalen Verstand ist das Verbleiben in einer Technodiskothek nach vier Uhr morgens ja wohl kaum noch zu erklären!
Wie schafft man es eigentlich, alle sieben Tage wieder zu vergessen, wie toll ein Morgen ohne Kater ist, wie schafft man es dumm genug zu sein, zu vergessen, dass die Qualität eines besoffenen Abends höchstens einmal im Jahr den Schmerz eines schweren Katers übersteigt!
Wie oft ist es mir nicht schon passiert, dass ein vollkommen verkaterter Freund angerufen hat, um mir vom Abend zuvor zu berichten. Und wie oft ist es mir da passiert, dass ist mir dachte: "Verdammt, hätte ich doch jetzt bloß auch einen Kater!"
Und das Verwegene, was im Trinken über dreißig liegen soll - es ist ja dann doch eine Legende. Schön gesagt von ihrem Erfinder: „Ihr glaubt, es wären Sex, Drugs and Rock´n´Roll - in Wahrheit ist es Aids, Chemie und Techno, und wenn nicht das, dann zu Hause in den Computer zu schauen, bis es wieder Wochenende ist - in den Computer zu gucken und darauf Spiele spielen. Und wenn jemand der Meinung ist, das würde mit dem Menschen nichts machen, Computerspiele könnten die Menschen nicht beeinflussen, dann kann man nur sagen: "Wenn uns damals „Pac-Man“ beeinflusst hätte, würden wir heute in dunklen Räumen umherlaufen, elektronische Musik hören, Pillen mampfen und ständig aufpassen, nicht erwischt zu werden!"
Wie toll wäre es, wie wichtig könnte man sich fühlen, könnte man sich beim Tod von allem und jedem denken: "Das Tolle am Armageddon, am Ende von allem - das Allerbeste ist ja, das man garantiert nichts mehr verpasst!`“

Justus besieht sich das Eck und sieht, wie sie um ihn herum, alle schon ein wenig in Neujahrsstimmung verfallen. Das neue Jahr, Sylvester, das ist so wie diese Kilometermarken beim Marathonlaufen. Da freut man sich auch, dass man noch dabei ist und trinkt etwas.

„Da möchte man einmal in Ruhe hier sitzen“, denkt sich Justus, „sich nicht immer Gedanken machen, einfach nur einmal da sitzen und an gar nichts denken. Auf einer Fensterbank sitzen, oder vielleicht auf einem Stuhl sitzen, aber immer, immer, immer kommt irgendetwas dazwischen!
Früher war das mal anders. Früher war das bei mir so: Da hatte ich mir mal gedacht: "Ein Sofa, ganz aus Leder. So ganz, ganz,  ganz aus Leder, das finde ich toll!"
Und das habe ich mir damals gekauft. Schwarz ist es, das Sofa, ein schwarzes Sofa. Oft setz ich mich gerne auf mein Ledersofa und finde das gut - einfach so.
Früher in jungen Jahren, da habe ich immer auf einem Stuhl gesessen, sonst nichts.
Da würde jetzt ja vielleicht ja einer sagen: „Nur so auf einem Stuhl sitzen? Was machst Du denn da so, auf deinem Stuhl? Einfach nur sitzen, das ist ja noch gar keine Aktivität - da musst Du doch was machen, irgend was, was man sonst so tut, wenn man auf einem Stuhl sitzt? Gucken zum Beispiel, etwas angucken zum Beispiel!“
Aber da sage ich: „Nö!“
Muss ja nicht immer etwas machen!
Zugeschrien wird einer ja heutzutage: „Aktiver Lebensstil, aktive Entspannung, neuester Trend, Meditation!"
Machen ja sogar die Arbeitslosen heute: Runterkommen vom Arbeitslosenstress, aktiver Stressabbau, Meditation.
Da sitzte da, und dann alle so: „Om!“
Aber wenn ich hier einfach nur mal in meinen vier Wänden sitzen will, einfach nur mal so auf einem Stuhl sitzen will: „Geht ja gar nicht!“, schreien die Leute. „Du verschwendest dein Leben!“, schreien die Leute.

Ich glaube, gerne würden sie sogar schreien: „Vater Staat liegst Du auf der Tasche mit Deinem Nichtstun, mit Deinem unnormalen Verhalten!“
Eigentlich mag ich das Ledersofa gar nicht.
Manchmal, da wünsch’ ich mir sogar meinen Stuhl zurück!
Der hatte so etwas Reines, Klares hatte der.
Da hat man das Nichtstun noch so richtig gespürt - das kam so die Beine hoch gekrabbelt und gekribbelt und nach nur ganz kurzer Zeit war das ein Gefühl von Ganzheit sogar.
Damals, als ich noch scharf auf Veränderung war, da blühte vielleicht sogar ein bisschen so ein Gefühl von Revolution auf!
Und das Gefühl, das ganz normale Gefühl.
Ein normales Gefühl in einem normalen Körper in einem normalen Menschen - und das alles in einer vollkommen durchrüttelten, verzerrten, verrückten und geprügelten Welt.
Wenn ich dann da so sitze, dann hat das doch schon etwas von einer Revolution, dieses Nichtstun!
Denn schön ist ja schon, einfach da zu sein und zu sagen: „Ich schulde niemandem etwas, und wenn ich keinem etwas schulde, dann, ja dann muss ich ja nichts machen.
Weil: Gar nichts - das schulde ich den Leuten! Und genau das tue ich: Gar nichts!“
Und, kein Quatsch: Der Justus, der schuldet wirklich den Wenigsten irgendwas, und wem er was schuldet - da hat er Justus aufgepasst -, denen schuldet er nur genau so wenig, dass es ihnen viel zu doof ist, da ewig hinterher zu rennen!

Da sitzt er nun hier, immer noch auf dieser Fensterbank, und eigentlich war alles gut gewesen, bis Emma um die Ecke kam und der Meinung war, eine Geschichte über ihre Großmutter vorlesen zu müssen. Und eigentlich gefällt ihm das ja auch, mit den Geschichten und den Gefühlen und den Dingen und dem Dies und dem Das – aber, obwohl ihm das gefällt, ist es doch sehr, sehr oft nicht so ganz das Richtige mit den Gefühlen. Das ist viel zu oft viel zu viel, weil: Das größte Problem, was es gibt, ist ja, das die Zeit und der Wandel der Dinge immer schneller wird - die Gefühle aber nicht!
Emma und Justus, sie kennen sich ja schon länger, und es gibt da ein Problem.

Aber das Leben an und für sich, das ist ja kein besonders schweres Leben. Natürlich muss immer jeder mit seinem Rucksack herumrennen und sich bemühen, trotzdem einen flotten und attraktiven und eigenen Schritt zu bewahren.
Man kann ja nicht immer so aus der Wäsche gucken, als wäre man komplett hoffnungslos. Aber gar nicht mal unbedingt nur wegen den anderen Menschen. Vor allem darf man nicht so aussehen, weil man ja nie weiß, wo das nächste Schaufenster ist, in das man zufällig hineinschaut und sich dann selbst anschauen muss.
Das Gefühl, sich selber bei der Hoffnungslosigkeit zu entdecken, das ist wirklich problematisch und unbedingt zu vermeiden!
Denn, sich dabei anzusehen, das steigert die Hoffnungslosigkeit ja noch, denn keine Hoffnung mehr zu haben, nicht mehr hoffnungsvoll zu sein, das ist kein Minus mal Minus ergibt Plus, sondern das ist ein ganz böses Minus mal Minus  - das ergibt Minus und mal Minus und hoch Minus und Wurzel aus Minus und was auch immer mal geteilt und sonst wie was: Das ergibt immer Minus - und tatsächlich gibt es da oft nur noch eins, nämlich ins Bett gehen!
Aber wenn man so traurig ist, dann kann es schon sein, das man vereinsamt, geschieden und betrunken ist.
Und wenn man nicht mal mehr ein eigenes Bett hat, dann gibt’s Probleme!

Das Problem mit Justus und Emma, das sind diese Rucksäcke, die sie tragen. Das Scheffel, wie man früher gesagt hat, wenn das Gewicht auf den Schultern so schwer geworden ist, dass man nicht noch mehr tragen kann - dann kann man dem anderen seins ja auch nicht abnehmen, und das macht einsam.

Einsam ist ja, wenn man in der Stadt steht und eine Glasflasche „Cola“ trinkt und dann etwas machen will und sagt: „Halt mal!“ Und dann zerknallt die Flasche auf dem Boden und die Leute lachen doof. Das ist einsam.

Mit Emma und Justus ist es ungefähr so, als hätten sie beide immer in jeder Hand eine Flasche „Cola“ und wären alleine auf der Welt. So ist in etwa das Gefühl.
Sie klammern sich dann wohl daran, dass das noch mal was wird mit ihnen, aber da geht es um die heilende Kraft des Glaubens und nicht um die strahlende Schönheit der Zukunft.

Zur Zeit.

So wie Justus da gerade sitzt - mit der Kapuze auf -, schaut er sich die andern um ihn herum an: Die haben auch Kapuzen auf.
Und da denkt er sich, wie langsam die Zeit doch vergeht, und dass sie immer langsamer vergeht, je langweiliger irgend etwas ist. Und das ist Hoffnung für alle, die da sitzen, denn besonders spannend findet hier keiner sein Leben, und tatsächlich: Das wäre es doch mal: Im Auftrag der Unsterblichkeit das Leben so langweilig zu machen, das die Zeit nur noch wie fetter, saftiger Teer durch das Stundenglas des Lebens rinnt.
„Justus, ey, Justus, was geht?“, schreit ein Teenager von der anderen Straßenseite.

Justus steht auf - er spürt wieder die schöne Hose an den Beinen und ärgert sich dann natürlich, denn so - wie eben gerade gedacht -, hat ihn diese Freude natürlich wieder teure Lebenszeit gekostet!

Erwischt man Einen beim Sterben, sagt er: „Die ersten 18 Jahre – sie sind genauso lang wie der Rest vom Leben!“
Was ja rückblickend heißt, dass man die Hälfte des Lebens als relativer Vollidiot verbracht hat und man sich eigentlich als Erwachsener nur bemühen kann, den Scheiß irgendwie wieder auszubügeln.
Aber so ist es halt, das Leben: Verstehen tut man´s erst, wenn man gleich stirbt. Und das ist ja auch ein großes Problem am angekündigten Untergang der Welt: Die Menschheit endet genau so, wie sie immer war - als ein Haufen von Klugscheißern!

Zusammengefasst ist es so, das Leben - das Leben, das ganz normale Leben, das Leben also ist doch so: Du rennst ein bisschen rum, hast keine Ahnung von nichts, und noch ehe dir das auffallen kann, da sagt dir das Leben: "Tu’ was, mach’ was, damit Du Dich nützlich fühlst!“
Und da: In dem Moment, da sagt das Leben dir eigentlich nur eines: "Such Dir eine Sackgasse aus und entspann Dich, bis Du stirbst!“

Justus steht auf.

„Ich gehe zur „Flaschenpost“, und da heute Sylvester ist, werde ich mit einer kleinen Trickbetrügerei eine Flasche Wodka klauen. Diese Flasche werde ich dann mit euch teilen. Ich möchte mit euch auf das neue Jahr trinken, denn irgendetwas sagt mir, dass wir uns dieses Jahr öfter sehen werden. Und irgendetwas sagt mir auch, dass wir nicht allein sein werden. Also werden wir alle gemeinsam trinken, solange der Wodka reicht. Und dann werden wir noch einen Wodka trinken, einfach nur so. weil wir es können!“

Mit diesen Worten steht Justus da. Die ersten Heuler zischen um ihn herum, ein Böller explodiert in einem Hauseingang gegenüber vom „Coffee Corner“ und reißt ein Türschild herunter, auf dem „Sven Regener“ steht. Aus der „Lightplanke“ gegenüber dringen schnupfende und schluckende Geräusche über die Straße. Der Besucherstrom von Zugereisten ins Viertel nimmt zu.
Justus steht noch einen Moment still und beobachtet die Menschen, die gut gelaunt und angetrunken vorbeiziehen und vorbeiwanken.
Er schaut sich seine Leute, die dort sitzen, noch einmal kurz an.
Ein kurzes Lächeln umspielt seinen Mund, er wendet sich um und verlässt laut schlurfenden Schrittes seinen Platz, vorbei an einem Schild, auf dem geschrieben steht:
„Der Cocktail der Nacht: Die Tränen unserer Feinde!“
In diesem Augenblick geht über das Eck ein geradezu unendlicher Verkehr.

Danke sehr!

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Tag 7 (12.1.2012)

Maik und das Geschenk an die Frauenwelt.


Erste Raketen verabschieden sich in den Nachthimmel und
explodieren über den Dächern der engen Strassen. Meist sehen die
Menschen die Raketen gar nicht, die sie abgeschossen haben - sie
verschwinden irgendwo hinter den Altbremer Fassaden. Die
Beleuchtung und Beknallung der Stadt, des Viertels - das ist eine
Kollektivaufgabe der Bürger, eine Aufgabe des Bremer Kollektivbewusstseins.

Es gibt Tage, da herrscht dieses Bewußtsein - meistens wenn einer
einen Ball mit ans Eck bringt und der Ball herumgeschossen wird zur
Belustigung aller solange, bis die Polizei kommt.
Die steht dann dort: In vollkommener Kampfmontur, mit Helm und
Schützern und Pistole und Pfefferspray und allem und passt auf,
dass mit dem Ball nichts Schlimmes passiert.
Manch einer würde das Fussball nennen - und tatsächlich: Wollte der
SV Werder Bremen mal richtig Werbung machen, würden sie mal in
der Nacht mit dem Mannschaftsbus vorbeikommen und zeigen, wie
Fussball geht. Einer von den Kulturmachern sollte sich einmal einen
Weg überlegen, wie man Gelder vom Staat bekommen könnte, um 
zehntausend Plastikbälle zu kaufen und einen Hubschrauber zu mieten,
um sie alle auf einmal über der Mitte der Sielwallkreuzung abzuwerfen.

Naldo nimmt den Ball an, passt zu Stefan vom "Lemans", Stefan zu
Thorsten vom "Eisen". Thorsten geht an Marko Marin vorbei, spielt
durch die Beine von Tim Borowski, geht vorbei an Clemens Fritz - 
dann Doppelpaß mit Sebastian vom "Urlaub". Thorsten zieht ab, Wiese
greift wohlfrisiert ins Leere - da kommt Frank Neubarth um die Ecke und
haut Sebastian um. Ulli Borowka stürmt aus der "Lightplanke". 
Mieser Tritt - Elfmeter für das Viertel! 
Wynton Rufer erklärt sich bereit, legt sich den Ball zurecht, läuft an, verzögert
und lässt "Katze" Meister Propper ins Nichts springen.
Die Stadt sagt "Nein" zum modernen Fussball!
Aber das ist alles nur Phantasie, leider.

Es sind heute, im wahren Leben, ein paar Stunden vor dem
Jahreswechsel, erst ein paar Böller und Raketen, die in den Himmel
fliegen.
Vor dem "Coffee Corner" sitzen Emma und Justus und Steffi und Maik.
Emma hat ihre Geschichte erzählt, sitzt noch auf dem kalten
Boden und lässt die Gefühle noch ein wenig nachwirken. Justus ist
aufgestanden und will gerade zum Kiosk gehen um, noch ein paar
Bier zu kaufen und Wodka zu klauen. Steffi wackelt komisch herum,
weil ihr kalt ist, und Maik, Maik sitzt da, schaut sich um, schließt
manchmal die Augen, hört das Knallen der Geschosse um ihn
herum und wünscht sich, ein echter Veteran zu sein, so einer, der
jetzt an Vietnam oder so etwas denken müsste, knapp vor dem
durchdrehen wäre und nun seine Geschichte erzählen könnte.

Ist er nicht. Kann er nicht. Wird er nie sein, wird er nie wissen!

Alles was er über Krieg weiß, das kommt aus DMAX-Reportagen
und "Counterstrike" und "COD" und "Medal of Honor" und all den
anderen Computer-Schiessdingern.
So ist alles, was Maik denken kann, wenn er da so sitzt und auf das
Eck schaut, wie es kracht und böllert: "Kriegsgebiet geht anders!"
Das hier, das war kein Ersatz, das war kein Krisengebiet, kein Kriegsgebiet
- das meinte er doch wohl zu kennen.
Er war ja da gewesen.
Er war ja an der Front gewesen.
Er war ja im Irak gewesen.
Das war ja schon länger her gewesen, drei Monate jetzt.

Das mit der Ausmusterung damals, das war so gewesen:
Das war an dem Tag nach seiner Ausmusterung gewesen.
Sie hatten ihn ausgemustert.
Ausgemustert! Er! Ein Wahnsinn!
Unvorstellbar! Ausgemustert!
Krieg - das hatte allem immer einen Sinn gegeben. Und jetzt?
Ausgemustert?
Ungläubiger hatte er sich noch nie gefühlt.
Noch zu Hause, vor der Musterung, hatte er sich alles angezogen
und mitgenommen, was man brauchte, um einen Krieg zu
gewinnen:
Uniform, Schutzweste, Schützer, Helm, Pistole, Granatwerfer,
Flammenwerfer, Schutzstiefel, Abzeichen, Schulterklappen,
Knieschoner, Schienbeinschoner, Unterleibsschoner, doppelte
Socken, Karbonhandschuhe, Armbanduhr, GPS-System, Headset,
Unterarmcomputer, MP3-Player, Handy, Abwehrspray, Messer,
Nasenpflaster, Knöcheldolch, Knieholster, versteckte Pistole,
Flammenwerferpistole und Brille.
Als er so zur Musterung erschienen war, hatte es keine drei
Minuten gedauert, bis die Frau ("Frau, das muss man sich mal
vorstellen - Frau bei der Bundeswehr! Unvorstellbar! Und geil!", hatte
Maik sich noch gedacht), bis die Frau von der Bundeswehr gesagt
hatte:
"Hören sie mal, Sie spinnen wohl, was glauben Sie, wer Sie sind? Die
Waffen bleiben hier - Sie sind ja wohl wahnsinnig! Wir glauben und
hoffen zwar, dass Sie sich zuerst selbst statt anderer umbringen,
aber sicher kann da ja keiner sein. Und jetzt hauen Sie ab und
hören Sie auf, nach Weinbrand zu stinken. Sie fliegen mit uns
bestimmt nicht in den Krieg. Und jetzt raus, raus, raus - Idiot!"
"Sie Idiot!", hatte sie gesagt, und das war ein Wort, welches bei Maik
einiges lostrat. Wenn einer dieses Wort sagte, das war für ihn nicht
hinnehmbar! NICHT IM GERINGSTEN!
Viel Menschen werden böse, wenn ihnen einer sagt: "Das kannst Du
nicht!" Werden böse und machen es dann doch. Viele reden dann
etwas vom guten Gefühl, unterschätzt zu werden.
Maik kannte das Gefühl nicht, unterschätzt zu werden.
Aber wenn einer Idiot sagte - dann...!

"Ich fliege trotzdem!", dachte sich Maik. "Ich fliege da hin, ich habe dort
eine Aufgabe und die will eingehalten werden. Pflicht ist Pflicht, Vaterlandspflicht
ist Vaterlandspflicht. Da helfen keine Pillen - und wenn das Vaterland das nicht will: Nun ja,
manchmal muss ich Menschen oder eben Ländern gegen ihren Willen helfen. 
Da sind ich und der Staat uns ja einig. Ich flieg' jetzt los!"

Als Maik auf dem Flughafen von Bagdad ankam, standen da schon
drei Leute, und die hatten echte Uniformen an, nicht so einen selbst
zusammengeleimten Klump, wie Maik sich da übergeworfen hatte:
Mit Phantasieabzeichen und Goldknöpfen aus Überraschungseiern.

Das freute Maik natürlich, echte Uniformen zu sehen, aber das
Problem war, dass die Drei in den Uniformen gerade nach Hause zu
fliegen schienen.
Unglaublich! Feiglinge! Netzbeschmutzer! Verbrecher!
"KAMERADEN!", schrie Maik sie an.
Die Kameraden schauten nur ungläubig den pickeligen, bleichen
und doofen Typen in seiner lahmen Uniform an.
"KAMERADEN!", schrie Maik sie noch einmal an.
"KAMERADEN! SIE VERLASSEN SCHEINBAR UNBERECHTIGT
FEINDGEBIET. ALS DESERTEURE WERDE ICH SIE MELDEN, 
UND DANN WERDEN SIE ERSCHOSSEN. ICH WÜRDE DAS
SELBST TUN, ABER TUE ES NICHT - WEGEN DER GENFER
KONVENTION!"
„Junge!“, sagte einer der Soldaten, „Junge, der Krieg ist vorbei. Da
ist keiner mehr. Was willst du denn hier. Und überhaupt: Die
Uniform: Ist die selbst genäht?“
„Ja, danke sehr!“, entgegnete ihm Maik, dem jetzt auffiel, dass von
Uniformen eine durchaus sexuelle Anziehungskraft auf ihn ausging.
„Nun ja!“, dachte sich Maik.
„WEGGETRETEN!“, schmetterte er den Soldaten entgegen und ging
auf die große gläserne Ausgangstür des öffentlichen Flughafens von Bagdad zu.
Als sich die automatische Schiebetür öffnete, erwischte eine Brise heißer
Wüstenluft ihn, und Maik sackte zusammen wie ein norddeutscher Schneemann,
den der Blitz trifft.
Ein Glück für Maik, so doof auszusehen, dass niemand etwas Böses
von ihm erwarten würde, denn so saß er acht Stunden später
wieder am Bremer Flughafen in der Besucherlounge. Die Soldaten,
welche ihn mitleidig mit nach Hause genommen hatten, schauten
ihn noch einmal traurig an und gingen mit ihren schönen
Freundinnen und Freunden nach Hause.
Kurze Zeit später ist er dann aufgestanden, der Maik, und ist durch
den Ausgang vom Bremens öffentlichem Flughafen gegangen und -
toll, wie Bremen halt so ist: Da wird keiner von warmer Luft
ohnmächtig, da wird nur jeder von nasser, kalter Luft... - naja, nass und
kalt halt! Und so ist Maik auf sein Fahrrad gestiegen und losgefahren,
und wer schon mal mit dem Fahrrad vom Flughafen nach Tenever
gefahren ist, der weiß: Das ist wirklich weit, und das schafft nicht
jeder - und da Maik nicht jeder ist, hat er es natürlich nicht geschafft,
sondern ist in der Neustadt hängen geblieben. Aber weil es da zu langweilig
und natürlich für ihn auch viel zu studentisch war, ist er rüber ins
Viertel, hat sich eine Souterrainwohnung genommen und sein
restliches Geld für Böller und Nähzeug und Pappmaché
ausgegeben, um sich eine neue Uniform zu basteln, denn wenn
man selbst nicht zum Krieg kann, dann muss man den Krieg zu sich
holen, und wenn gerade kein richtiger Krieg zu greifen ist, dann
muss man halt so tun, als ob da einer wäre.
Das machen die Rapper ja auch so!
So saß Maik lange in seiner Kellerwohnung und besorgte sich
nach und nach Knallkörper aller Art: Böller und Raketen, Fontainen
und Silberregen, Heuler und Schwärmer.

Es waren noch einige Wochen bis zum neuen Jahr, aber Maik verbrachte 
diese Zeit, indem er sich konspirativ mit Jugendlichen traf, die illegal mit
Feuerwerkskörpern handelten. Rein menschlich waren diese
"Ghettokidz" natürlich ein wahnsinnig passender Umgang für ihn. Man
könnte sagen: Hätte Maik nicht durch seine Dummheit so ein
großes Herz - etwas anderes als ein Kleinkrimineller zu sein, wäre für
ihn überhaupt nicht möglich gewesen!
Das, was er vorhatte, würde DAS Feuerwerk werden!
Er kannte noch einige, die draußen in den Vorstätten böllertechnisch richtig
loslegen wollten: Dreifinger-Mariusz oder Stummelarm-Peter etwa.
Aber im Zentrum richtig was zu starten mit Raketen und allem, was
es brauchte, das würden sie sich nicht trauen.
Dazu war nur Maik in der Lage!
Das würde DAS Feuerwerk werden!

Die Zusammenstellung eines Sylvesterfeuerwerks ist nicht
leicht. Vieles muß bedacht werden von einem Waffennarren!
Für einen Waffennarren ist die Zusammenstellung eines
Feuerwerks nämlich eine besondere Herausforderung, verlangt das
Silvesterfest doch von einem, etwas zu tun, das aussieht wie Krieg.
Und ein Waffennarr, der findet Krieg ja schön, ästhetisch, erfüllend.
Allein durch seine innere Logik findet der Waffennarr den Krieg
erhaben schön: Wegen des Fehlens der modernen Verwirrung.
Wegen der Klarheit von Mord und der Ursprünglichkeit von
Überlebenskampf.
Soldat sein ist heute - noch mehr als früher - ein Traum für die durch
den Zeitgeist gestörten Menschen, die sich nicht trauen, sich selbst
einen Mord zu befehlen.
Da hat jeder so sein Erweckungserlebnis. Bei Maik waren das die
ersten Bilder vom Krieg im Irak in den Neunzigerjahren - diese
grünen Nachtaufnahmen, die Aufnahmen von Flugabwehrgeschützen
und Leuchtspurmunition. Dieses neongrüne Geflacker, die Aufnahmen 
aus dem Hubschrauber vom Beschuß der Stadt. Das war fetzig, das hat
sich bei ihm eingebrannt, das war ein geiler Look. Geiler sah es erst
wieder am elften September aus!
Es gibt diesen Satz: "Krieg ist Scheiße, aber der Sound ist geil!"
Maik würde da wohl eher sagen: „Was soll an Krieg denn Scheisse sein -
sieht gut aus, klingt ganz hervorragend, Leute verdienen eine Menge Geld damit und es
sterben immer die Schwächsten zuerst. Wie kann jemand, der an Darwin glaubt, 
irgend etwas dagegen haben, dass die Schwächsten zuerst sterben
(Christen hassen und dann Geld für Behinderte statt für Krieg ausgeben!)?“
Genau mit diesen schönen und grünen Bildern vor Augen hat Maik
sich auf die Silvesternacht vorbereitet. Genau so. Das ist der Look,
den sein Feuerwerk haben soll!

Er hat sich diese Uniform gebastelt, die es ihm erlaubt, sich vor den
Häusern im Viertel zu tarnen. Um mit seinem Knallzeug von dem
Kellerverschlag, in dem er haust, bis zum Eck zu kommen, um dort
seinen optischen Angriffskrieg zu beginnen.
Als er am Körnerwall vorbei schleicht, sieht er Emma, die er noch
von früher aus Tenever kennt. Sie läuft da mit einem Notizbuch
unter dem Arm entlang. Er tarnt sich weiter an den Häusern
entlang, schleicht sich an Emma vorbei, wie sie an der Ampel vorm
"Taco" steht. Und auf der anderen Seite, da sieht er diesen Justus
sitzen - auch den kennt er noch von früher.
Und daneben, da steht sie, wackelt ein bisschen hin und her und
sieht so aus, als ob ihr kalt wäre. Da steht Steffi - unschlagbar, diese
Frau! Einmal hat Maik sie geküsst. Früher mal, mehr durch eine
Verwechslung - aber diese Frau hat ihn nie wieder losgelassen,
obwohl das alles Jahre um Jahre her ist.
Näher ist er nie einer Frau gekommen.

Und dass Maik alleine ist, das muss ja wohl keinem gesagt werden.

Es gibt ja diese Voraussetzungen, die einer braucht, um keinerlei
Kontakt zu bevorzugten Geschlechtspartnern zu haben, um
keinerlei Kontakt zum anderen Geschlecht haben zu können:
Ein Computer oder schlechte Gesichtshaut oder Dicksein, eine
doofe Lache oder immer schlechte Laune, schlechter Geschmack
von sich selbst oder den Eltern, Freunde, die viel, viel toller sind als
man selbst und die dem Gegenüber keine Chance lassen, einen zu
mögen. Oder einen schlechten sexuellen Geschmack oder eine
Vorliebe für abwegige sexuelle Praktiken, obwohl man den
normalen Geschlechtsverkehr noch nicht mal drauf hat - oder aber
auch einfach schlechten Geschmack, was Menschen angeht.
Ja, es gibt ihn, den schlechten Geschmack, was Menschen
angeht!
Richtig ist: Es gibt kaum schlechte Menschen, aber es gibt
schlechten Geschmack, was das Mögen von Menschen angeht.
Ja ja, das ist ein grosses Problem, das geht ganz vielen so, vor allen
denen, die mal mit Pornografie angefangen haben. Die haben die
Bilder schon im Kopf und mögen dann diese total bescheuerten
Figuren aus den Filmen und glauben tatsächlich, die wären echt. Das
ist ganz toll: Je billiger ein Porno produziert ist und je billiger er
somit aussieht, umso mehr glauben die Leute den ganzen Schrott
und suchen im wahren Leben einen Menschen, der so ist wie in den
Pornofilmen propagiert!
Da sagt ein lieber Mensch, der seine warme Seele bewahrt hat:
"Komm', laß' uns lieben, wir sie es in den Filmen tun!" Aber da denkt
der eine: "Aha! - wie in den Filmen: Kaminfeuer, ein Fläschchen Wein, das
Erkunden des weichen, warmen Körpers einer geliebten Person, das
Gefühl von Schönheit im Menschsein, die Verschmelzung des
Universums in einem Akt der endlosen Liebe zur Menschheit an
sich, der gemeinsame Rhythmus des Lebens bis zur Sternenexplosion. 
'Auf zu Supernovae der Herzen, meine Bella, mein Edward!' 
Weichzeichner und dann Kameraschwenk zu den sich in
der lauen Sommerbrise blähenden Seidenvorhängen".
Und der andere denkt sich: "Ah, wie in den Filmen Liebe machen:
Mund, dann normal, dann von hinten und dann in die Augen!"

Ganz schwierig ist das, ein pornografiertes Gehirn wieder in einen
normal menschlichen Zustand zu bringen. Eigentlich ist liebende
Sexualität dann nur noch durch Gesprächstherapie zu erlangen
oder dadurch, nur noch dann Sex zu haben, wenn man viel zu müde
für den ganzen eingebläuten Sexistenquatsch ist.
Das sind alles große Probleme, die groß auf Maik zutreffen, echte
Probleme!
Früher, da haben die Menschen ja meist ein Leben lang nur die
Menschen aus ihrem Dorf gesehen. Da war das mit der Auswahl
noch nicht so, da hat nicht jeden Tag irgendein Perfekto von
irgendeinem Hochhaus gegrinst und sekundäre Geschlechtsmerkmale
präsentiert, um überzeugend Autos oder Parfüms zu verkaufen.
Das ist ja noch gar nicht so lange so, dass Menschen überhaupt
schöne Menschen sehen können - das ist ja nur so, weil alle immer
Fernsehen und Internet gucken und in der Lage sind, sich zu
entscheiden, für welchen Quatsch sie ihr Geld hinblättern wollen.
Das war ja früher ganz normal, sein Leben lang das Dorf nicht zu
verlassen. Und wer dann mal auf einer Reise einen wirklich schönen
Menschen gesehen hat, der hat das ja nie wieder vergessen, wie
toll so etwas Schönes anzusehen war, wie anregend, das Glück zu
haben, wirklich mal jemand Schönes zu sehen.
Schön ist, sich heute vor ein Parfümgeschäft zu stellen und in das
Schaufenster zu schauen, wo sie überlebensgroß abgebildet sind,
diese wunderschönen Menschen.
Man kann sie sich anschauen und - halbtransparent - in der Spiegelung
der Scheibe die Fotos der Werbungsmenschen und die Gestalten der Bürger, 
die davor entlang gehen, vergleichen. Da wird es - trotz Großstadt - 
kaum ästhetische Überschneidungen geben.
Tatsächlich - und das wird ja auch bemängelt - sagen heute einem
Funk und Fernsehen, wie es am Besten ist, auszusehen.
So oder so auszusehen, um Erfolg oder Geld oder Macht zu haben.
Das ist differenziert - da wird sich je nach dem verfolgten Ziel
gekleidet. Und auch wenn Geld, Erfolg und Macht zusammenhängen,
ist es doch eine Absprache unter den Menschen, Fähigkeiten und Intelligenz
statt kurzer Röcke und dicker Arme zu benutzen.
Sonst wäre dieses Land regiert von Minirock und Bodybuilder. 
Aber noch ist hier nicht California!
Da aber diese Ziele - Erfolg und Geld und Macht - dem grossen Ziel
Fortpflanzung und Sex unterstehen, ist das Aussehen von
Pornodarstellern undifferenziert und eindeutig und hat einen klaren
Look, um ohne Vorspiel - nur getrimmt zur schnellmöglichsten
Fortpflanzung - und möglichst schnell möglichst viele Sinne zu
stimulieren. Was für eine mächtige Technik des Aussehens und
des Auftretens!
Das ist schon eine harte Nummer: Innerhalb von einhundertfünfzig
Jahren Menschheitsgeschichte wandelt sich die Menschheit von
der Erfahrung, nie einen überschönen Menschen gesehen zu
haben, zu dem Gefühl, immer und jederzeit von jedem Ort, zu jeder
Zeit ihres Lebens Fortpflanzung mit den überragensten
Sexmenschen mit den besten Sexmerkmalen aller Zeiten
haben zu können.
Das Leben wird nicht leichter für die kleinen Menschen!

Tatsächlich, das ist der Moment.

Da steht Maik und weiß nicht so genau, was er denn jetzt tun soll.
Er ist immer noch getarnt, obwohl ihn gerade ein Bierverkäufer
angeschrien hat: „Einsfünffzig, das Bier!“

Da hat Steffi kurz vom "Coffee Corner" herübergeschaut, aber, ob
sie ihn gesehen hat, da ist er sich nicht sicher - und was soll er denn tun?
„Ich muss da jetzt rüber!", denkt er sich.
„Was soll mir passieren, ich habe die besten Böller von Bremen, nichts kann
schiefgehen. Steffi - sie muss mich mögen, wenn sie Männer mag!“

In diesem Moment geht Emma an ihm vorbei, und er schleicht mit
ihr über die Straße, bis sie bei den beiden anderen zum Stehen
kommen.
„Hey!“, sagt er leise zu Steffi.
„Hey!“, sagt sie zu ihm.
„Hey!“, sagt Justus
„Hallo!“, sagt Emma.

Maik schaut Steffi an, und das ist jetzt wirklich nicht leicht für ihn.
Wirklich nicht leicht!
Am Anfang ist da immer noch ein Funken von Mut, wenn er mit
Mädchen sprechen will, aber nein: Wenn er es schafft, sich auch nur
den Funken einer Vorstellung zu machen, was schief gehen könnte,
dann war es das!
Dass da nichts gehen würde, das war Maik ganz schnell klar.
Tatsächlich ging es darum, dass Männer ihn mochten, denn klar war
ja: Frauen stehen auf Männer, auf die Männer stehen. Frauen
mögen Männer, zu denen Männer aufsehen. Vielleicht ist das der
Grund für die Liebe zu homosexuellen Männern, denn heimlich
ist ein jeder Mann neidisch auf den Mut schwuler Männer, sich
verletzlich zu machen. Denn was ist stärker als jemand, der in
seiner Art nicht immer so doof stark sein muß? Und als weicher
heterosexueller Mann - da sind die Achtziger und Neunziger leider
vorbei! Im normalen Mannsein geht es heute wieder um Härte - das hat
wer auch immer, wieder hart versaut. Da waren wir mal auf einem
guten Weg, aber das ist vorbei. Härte und Unangreifbarkeit,
Gefühlskälte und Stärke - das ist es wieder!
Maik hat alle diese Bücher gelesen von den professionellen
Aufreissern, die sie alle immer mit nach Hause nehmen.
Eigentlich ein geniales Ding: Bücher, die das Zwischenmenschliche als
als wissenschaftliche Disziplin beschreiben. Als eine Art von Spiel,
wie Spiele auf dem Computer heutzutage sind. Also Spielen, nicht
weil das Spielen Spaß macht, sondern weil besser sein und
Gewinnen Spass macht.
Das Ansprechen von Frauen in Bars oder Alltagssituationen,
aufgeschlüsselt in die Sprache von Echtzeitstrategiespielen.
Klare Regeln. Etwas zum Festhalten.
Es geht nicht darum, sich selbst besser zu machen als man ist. Es
geht darum, die angesprochene Frau auf sein Niveau herabzuziehen.
Es geht nicht darum, sich selbst gut zu finden. Es geht darum, das
Gegenüber dazu zu bringen, sich selbst auch nicht so gut zu finden.
Und so ist der einzige Tipp, den diese Menschen den anderen geben,
wie sie die falsche Liebe finden können: "BELEIDIGEN. Du musst die,
die Du haben willst, beleidigen! Je härter, je verletzender, umso besser!
Den Schwachpunkt suchen, um dann hineinzustechen. Und dann zu sagen:
"Hey, hab' ich nicht so gemeint!"

Das ist ein bißchen so wie bei einem Straßenkampf: Das Hemd zu heben
und seine Pistole zu zeigen!

Maik schaut Steffi an und plötzlich macht sein Mund Folgendes:
„Na, was denn mit Dir los - haste Angst bekommen, dass Du so eine
ganz normale Schlampe hinten in Tenever wirst, wa? Haste Angst, dass
jeder weiß, mit wievielen Du schon im Bett warst? Nee, Du bist echt
peinlich - außerdem bist Du mega klein und voll eklig: Du stinkst
und keiner kann Dich leiden!“
Mit weit aufgerissenen Augen schaut Steffi Maik an.
Man sieht förmlich den Dampf in Steffis tatsächlich sehr kleinen Kopf
steigen.
„Sag' mal, Du blödes Arschloch, was glaubst Du denn eigentlich, wer
Du bist? Der Idiot aus Tenever, der Schwachkopf aus Bremen-Ost!
Was fällt Dir ein, so mit mir zu reden - guck' Dich mal an, Du Vollidiot,
was willst Du denn von mir? Du hast sie doch nicht mal alle! Was ist
das für ein Müll, den Du Dir da angezogen hast? Du glaubst, Tenever
würde nicht den ganzen Tag über Dich lachen? Komm' doch mal
wieder vorbei. Ganz Bremen lacht über Dich - alle! Und ich am
allermeisten! Noch nie gefickt und so eine grosse Fresse! Du glaubst,
Du kannst mir was, Du glaubst, ich wäre das kleine Blondchen, mit
dem jeder machen kann, was er will? Guck' Dich mal an: Das glaubst
Du doch selbst nicht, dass irgend jemand Dich auch nur mit dem
Arsch angucken würde! Von allen Idioten dieser Stadt bist Du
wirklich der König! Und weißt Du was: Am Tag, an dem die Welt
untergeht, würde ich Dich nicht küssen, Maik! 
Nicht mal am Tag, an dem die Welt untergeht!“

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Tag 8 (19.1.2012)

Arme hoch! Reiche runter!


Die Nebelschwaden zogen über das Eck, Schwefelgeruch stand
über der Szenerie, es sah aus wie Krieg, es roch nach Krieg, und für
jemanden, der schon einmal im Krieg gewesen war, musste das hier
eine Anmassung sein.
Unsere vier Freunde standen am Eck und schwiegen. Knallkörper
flirrten um sie herum, aber das war nebensächlich, hatte Steffi doch
gerade Maik in einer Art in seine Schranken gewiesen, die nun
wirklich keiner von ihr erwartet hätte.
Dieser Maik stand nun dort und war bis zum Nasenansatz im
Erdboden versunken, ganz so wie er es sich gewünscht hatte - so
tief versunken, dass er nur noch unverständlich sprechen konnte.
„....Tschuldigung, ...Tschuldigung..., tut mir leid!“, flüsterte Maik, und in
diesem Moment wurde ihm irgendwas klar.
Was, das wusste er nicht genau, aber es ging „Pling!“ in seinem
Kopf - das war so ein Geräusch, das kannte er noch vom letzten
Jahr, als er auf der Hochzeit seiner Halbschwester gewesen war.
Da war sein schon sehr betrunkener Vater aufgestanden und alle
Köpfe hatten sich umgedreht. Aber so viele Köpfe waren es nicht, weil
seine Schwester ungefähr so beliebt war wie Maik selber.
Die paar blondierten und dauergewellten Strähnchenköpfe drehten
sich zu Maiks Vater um, als er - „Pling!“ - mit dem Messer an sein Glas
gestoßen hatte, um einen Toast auszubringen.
Sein „Daddy“ war aufgestanden und hatte gesagt: "Die Ehe, die Ehe
ist wie so ein Schiff, das langsam untergeht - am Ende stirbt man.
Und wenn's gut läuft, dann hat man vorher noch einen guten Song
aufgelegt!"
Tatsächlich wusste Justus, der neben Maik stand, nicht, dass er
genauso dachte wie Maiks Vater.
Es war wirklich unglaublich wichtig, dass, wenn man starb, gute
Musik zur Hand war!
Das ging soweit, dass Justus, wenn er Auto fuhr, es sich niemals
erlaubte, schlechtes Chartsradio oder überhaupt schlechte Musik zu
hören. Man stelle sich nur vor, irgendein Reh oder ein Prominenter
würden auf die Autobahn laufen: Justus würde das Lenkrad
herumreissen und in die nächste Leitplanke donnern, sich im
Funkenregen überschlagen, in eine Eiche rauschen und wäre vom
Hals abwärts gelähmt. Dann würde er blutend auf dem Fahrersitz
sitzen und plötzlich käme "Das Beste aus den Neunzigern", oder "Whigfield"
oder "aha" würden aus den Boxen plärren und Justus hätte keine
Chance, das Autoradio aus- oder umzuschalten!
All die Vorbereitung auf einen coolen Tod, mit der sich so ein
Boheme aus der Großstadt ja die meiste Zeit des Tages beschäftigt,
wäre dahin - alles verschwendet!
Ein verschwendetes leben, wenn man Leben als Anlauf zu einem
tollen Tod sähe.
Noch schlimmer als ein verschwendetes Leben wäre ja ein
unwürdiger Tod, doch vielleicht würde es in diesem Auto dann ja
soweit kommen!
Erst würden die Notärzte kommen und vielleicht - wie schrecklich! -
würde „My Way“ von Frank Sinatra laufen. Vielleicht sogar "My Way" in
einer dieser Technoversionen, zu denen der ganze Ostblock lebt!
Und dann käme jemand auf den Gedanken, dass das doch eine
tolle Idee für ein Lied auf Justus' Beerdigung wäre, weil er doch etwas
ganz Besonderes gewesen war.
„My way“ von Sinatra würde gespielt werden - was für eine Schande!
Das schlimmste Totenlied der Welt! Und dazu kam noch die
verlorene Wette, die ihm vorschrieb, dass bei seiner Beerdigung ja
auch noch „Imagine“ von John Lennon laufen würde. Mein Gott - wie
unfassbar peinlich das werden würde: "My Way" für jemanden, der
wirklich etwas Besonderes war und "Imagine" für jemanden, der die
Menschen und die Welt eigentlich wirklich mochte!
Justus würde von den Toten auferstehen müssen, um sich selbst zur
Bestrafung noch einmal zu erschiessen!
Auf die Idee, dass "My Way" das vielleicht schlimmste Lied der Welt
wäre, weil es nur Leuten gefiel, die von einem eigenen Lebensweg
soviel Ahnung hatten wie der weiße Mann vom Tanzen - auf diese
Idee wäre Maiks Vater nie gekommen.
Der Vater von Maik - er war ein kluger Mann, einer dieser klugen
Männer, die nur klug sein können, weil sie Klugsein nie verstanden haben.

„Tschuldigung!“, murmelte Maik noch einmal in Richtung Steffi, die ihm
gegenüber vor dem "Coffee Corner" stand, von links nach rechts
wippte, sich in die kalten Hände blies und ihn von oben bis unten
musterte und dann sagte:
„Ja ja, ist ja gut, so böse wollte ich nicht sein! Ich werde nur
manchmal böse, weil ich diese Art nicht verstehe, und ich werde
besonders wütend, weil ich die Art nicht verstehe, aber darauf
hineinfalle. Glaub' ma nich, dass es angenehm wäre, wenn man nicht
mehr aufhören kann, an jemanden zu denken, nur weil er Dich
schlecht behandelt hat. Wären es Hassfantasien, das wäre ja in
Ordnung und normal gegen jemanden, der mir was Schlechtes will.
Wenn ich Leute kennenlerne - das ist ja total verwirrend!
Wenn ich alleine zuhause sitze, dann - kein Quatsch! - träum' ich von dem
gefühlvollen Typen, der zuhört, nett ist und Dinge tut, weil es ihn freut,
dass es mir gut geht. Da hab' ich dann diese Prinzessinenfantasien
mit Hochzeit und mit 'für immer' und so weiter.
Aber im echten Leben, da stehen diese unterschiedlichen Menschen
in meinem Kopf dicht nebeneinander.
Man kann sich das so vorstellen:

Da steht ein Junge, nett anzusehen, nicht Hochglanz, einfach einer
der ehrlich ist, der keinen Scheiß erzählt, der einfach okay ist. Er steht
da, guckt auf den Boden, ist vielleicht sogar schüchtern, weil er
schon gemerkt hat, dass er mich mag und ich ihn angeschaut habe,
und mir geht das Herz auf, so als würde ich einen kleinen Pandabären
oder ein süßes Kätzchen sehen. Ich will sofort hingehen und
machen, dass es ihm gut geht und dass er keine Sorgen mehr hat,
und mit ihm alt werden. Und alles ist toll für immer. Keine Sorgen
mehr, keine Unsicherheit, einfach nur ein schönes Leben. So steht er
da und traut sich nicht, aber ich weiß, vielleicht denkt er sowas
ähnliches wie ich, und ein Glanz umgibt ihn, und es ist alles toll und
ich denk' mir: 'Mit DEM gegen den Rest der Welt!'
Und plötzlich kommt einer angerannt, der sich beim Fitness mit
seinen Idiotenfreunden dicke Muskeln an den Körper geschraubt hat,
moderne Hosen trägt - egal, wie unfassbar dumm die mittlerweile
aussehen! -, irgendein Hemd trägt, wo vorne möglichst viel mit
"American - Dog - Tribal - College - Westcoast - Harvard - New York College -
Coast Guard - Boom" draufsteht, und die Haare so trägt, wie die Punker und
die Alternativen vor drei Jahren, als er sie noch bespuckt und auf der
Straße mit seinen Idioten verprügelt hat, einfach nur weil er es konnte.
So wie ein starker vegetarischer Affe eine Gazelle totschlagen kann, nicht
wegen Hunger, sondern nur, weil er Lust hat, Angst zu verbreiten.

So einer kommt also reingerannt, dahin, wo auch der gute Junge steht.
Mit dieser dämlichen Art zu laufen, so wie die immer laufen, die
Idioten, mit den Fußspitzen nach außen, den Arsch so
zusammengekniffen, so als könnte sich ihre angestaute Dummheit
und Gemeinheit in einem Schlag als Durchfall entladen.
Und was passiert dann? Er bleibt genau vor dem eigentlich tollen
Jungen stehen. Haargenau verdeckt er ihn. Und was geschieht mit
mir? Ich kann nicht aufhören, den Vollidioten anzustarren, und ich
kann nicht damit aufhören, weil sein dummes Megaego alles
verdeckt. Ich würde gerne durch ihn hindurch sehen, aber nein -
kann ich nicht!
Und mit jedem dummen Witz, mit jedem peinlichen Abgeklatsche mit
einem seine Freunde steigt meine Lust. Ja, tatsächlich: Meine Lust.
Das ist doch absurd! Aber, frag' mal rum, ich bin da nicht alleine!
Es ist wohl so, dass ich, obwohl ich es besser weiß, immer und
immer wieder auf diese Idioten hereinfalle. Es tut mir leid, Maik, dass
ich Dich Idiot genannt habe! Es ist nicht fair, das Dich die Leute so
nennen, nur weil Du es nicht verstehst. Weil - Tatsache! -, ich versteh'
es auch nicht. Ich verstehe die Welt überhaupt nicht, aber mit mir
redet auch keiner - eigentlich deshalb, weil die Frauen neidisch und die
Männer zu geil sind. Das ist nicht schön, aber kurze Zeit hilft es
vergessen, dass es größere Fragen als die Farbe meines Lipgloss
gibt, wenn ich mir einen Blasemund geschminkt habe.
Ich weiß, dass es Dich gibt und dass Du nur verdeckt bist von den
Vollidioten. Ich weiß, dass es Leute wie Dich gibt, Spinner. Das bist
Du, Maik: Du bist ein Spinner, aber ich glaube auch, das Du dazu
gemacht wurdest und dass das nicht soviel Deine Schuld ist, wie die
anderen Dir erzählen!
Und ich weiß, dass ich auf Arschlöcher stehe und oft sogar glaube,
dass ich sie ändern könnte. Das hat zwar noch nie jemand geschafft, aber
mir scheint das aus irgendeinem Grund wichtig zu sein.
Aber, Maik, wenn Du dann zu mir kommst und mich beleidigst und
so sein willst wie die „Bad Boys“, die die Mädchen bekommen, dann
hörst du auf, nur ein Spinner zu sein und wirst zum Arschloch!
Und wenn Frauen wie ich auch noch das Vertrauen verlieren, dass
diese Aufreißer, Lügner, Ficker und Betrüger nur Männer verbergen, 
die eigentlich gut für mich wären, dann geht alles kaputt!
Ich weiß, das ist eine schreckliche Position für Jungs wie Dich, die
wir in eine Freundschaft zwingen. Und ich kann mich nur entschuldigen!
Immer wieder entschuldigen! Der Idiot - das bin ich!
Oder anders gesagt: Wir. Wir sind Idioten!
Denn dumm ist nicht der, der Dummes tut - dumm ist der, der
Dummes will, hab' ich mal in der "Young Miss" gelesen!“

Die Runde schwieg - Emma saß auf dem Boden, Justus stand
daneben und schaute Maik an. Ihre Münder waren immer weiter
aufgeklappt bei der Beleidigung von Maik, und bei Steffis Antwort
wußten eigentlich beide nicht mehr, was sie sagen sollten. Justus
war das alles ein bißchen zu viel, und er wiederholte seinen
Vorschlag, noch Bier bei der "Flaschenpost" „kaufen“ zu gehen.
Emma sprang auf.
„Ich komme mit!“, sagte sie hastig. „Ihr bleibt hier, wir sind gleich
wieder da!“ Sie packte Justus am Ärmel und zog ihn an der
Fensterscheibe des "Coffee Corner" vorbei in dem Moment, als
irgendein Witzbold einen kleinen Böller zwischen ihre Füsse warf.
Justus bemerkte ihn und zog Emma ein Stück zur Seite. Beide schauten
auf die brennende Lunte, die ein Geräusch machte wie verbrennender
Speck in einer zu heißen Pfanne, und als sie sich umschauten,
sahen sie noch kurz Maik, der auch aussah wie verbrennender Speck
in einer zu heißen Bratpfanne. Das Geräusch der Lunte wurde leiser,
als sich das leuchtende Ende in den Böller hinein brannte, und für einen 
Moment stand in Erwartung der Explosion alles still. Gleich musste es
knallen, und wenn es knallt, da kann man noch so sehr wissen, dass es
gleich knallt - erschrecken tut man sich trotzdem!
Das ist wie beim Kitzeln. Wenn man weiß, dass einen ein anderer
gleich kitzeln wird, dann wird das Kitzeln noch viel stärker und eine
schreckliche kichernde Angst durchströmt einen und man muß
kichernd befehlen, das Kitzeln doch sein zu lassen. Aber wie viel
wirkt ein Befehl schon, wenn er kichernd ausgesprochen wird?
Sich selber kann man nicht kitzeln, weil das Hirn schon vorher
weiß, was geschehen wird, weil man sich auf sich selbst verlassen
kann. Aber wenn ein anderer kitzelt - bei anderen, da gibt es kein
Verlassen, kein Vertrauen - da gibt es Probleme, und man zuckt und
windet sich, es ist unangenehm und schlimm, aber, wenn das
Kitzeln zuende ist, dann ist man sich, trotz des Gefühles, gefoltert
worden zu sein, näher als zuvor, auch wenn man versucht, böse zu
sein. Wer lacht, der kann schlecht böse gucken!
Und so ähnlich war es auch bei dieser Lunte, die jetzt in den Böller
hinein gebrannt war. Maik und Emma und Steffi und Justus glotzten
auf den Knallkörper und warteten und warteten und warteten, aber
nichts geschah. Da lag er, der Böller, und er wollte nicht, wollte nicht,
wollte nicht.
Nichts geschah, gar nichts geschah, und als klar war, dass dies eine
Fehlzündung werden würde, ohne den leisesten Knall, entspannten
sie sich langsam wieder, und die Aufregung, die Maik und Steffi mit
ihrem Geschrei und Gezanke ausgelöst hatten, war in der Erwartung
der Explosion dieses kleinen Chinaböllers wie in Luft aufgelöst worden.

Emma kehrte sich zur Seite und zog Justus mit sich. Die beiden
spazierten los und verschwanden schon gleich im dichten Rauch vor
dem kleinen Schnickschnackkettenundringeundpiercingladen
"Minka", keine zehn Meter weiter. Emma blieb kurz stehen und
schaute ins Fenster, und erst als sie stehen blieb bemerkte Justus,
dass sie sich noch an den Händen hielten.
Emma war nicht die Frau für Schmuck, das würde sie von sich selbst
sagen, aber Glitzern und Knallen, das scheint in Frauen und in
Männern etwas Archaisches anzusprechen.
Die Hände der beiden glitten auseinander, und das war ein
schlechtes Gefühl, aber gleichzeitig fühlte es sich richtig an, was ja
seltsam ist, weil: "Eigentlich kann es das ja gar nicht geben: Etwas
das sich gut anfühlt, aber gleichzeitig schlecht ist!", dachte sich
Emma. Und im gleichen Moment dachte sich Justus: "Etwas, das sich
schlecht anfühlt, das kann doch nicht gut sein!"
Die beiden sahen sich an, und da war ein bißchen Einheit
zwischen ihnen, diese Art von Einheit, die es früher zwischen ihnen
schon einmal gegeben hatte - in genau so einem Moment.
Es hatte diesen Abend in Tenever gegeben, auf dem Hausdach
Neuwieder Straße 46 - der letzte Abend eines schönen Sommers.
Dieser Abend, an dem eigentlich alles gestimmt hatte!

Auf dem Dach eines Hochhauses, nach einem Fest im obersten
Stockwerk mit allen Freunden aus früheren Zeiten, die noch ein
letztes Mal sie selbst waren, bevor der hinausgezögerte, aber
endgültige Abschied von der Jugend vollzogen werden musste. Ein
Abend, an dem das Betrunkensein einfach nur schön war und
nichts vernebelte, sondern eine Zufriedenheit mit sich selbst und all
den Dingen um einen herum eintrat. Ein Tanzen war es und ein Rhythmus,
den ein Mensch im Leben nur selten findet!
Eine Zusammenkunft unter Gleichgesinnten war es dort in diesem
Hochhaus, Gleichgesinnten, die am gleichen Punkt ihres Lebens
angekommen waren - in einem satten Gefühl, voll von Leben!
In diesem Moment war Justus von dem Sofa, auf dem er saß,
aufgestanden, hatte das Fest verlassen und war durchs Fenster
aufs Dach gestiegen und hatte in die entfernt blitzende Stadt
geschaut und sich zum ersten Mal gedacht: So ist es gut! Ich will
da draußen gar nicht mitspielen, ich will das alles nicht! Ich will
nicht so werden wie die Menschen, die Momente wie diesen nicht
bemerken würden!
Ich will kein Mensch sein, der das Glück nur noch in der Ablenkung
finden kann. Für den Glück nicht Glück, sondern nur die Abwesenheit 
von Ehrlichkeit bedeutet!
Doch er spürte, dass kein Mensch auf dieser Welt eine Chance
gegen die Zeit hat.
Und in diesem Moment bemerkte er, dass Emma neben ihm stand und
ebenso wie er auf die Stadt hinausschaute. Er sah, wie sich ihre
Brust hob, als sie die warme Luft einsog, und wie sie strahlte, obwohl sie
nicht lächelte. Da war irgendetwas in ihr, an ihr, um sie herum, was
nicht in Worte zu fassen war. Ein Moment, in dem eine unmessbare,
unerklärbare Strahlung von ihr ausging, die für ihn bis heute das
Bild war, an das er dachte, wenn er sich Schönheit vorstellte. Nur
dieses Gefühl, welches die beiden verband, das war wie eine Farbe -
vielleicht wie die Farbe, aus der alles gemacht ist.
So, wie wenn man alle Farben, die es je gab, zusammengießt und es
nicht braun, sondern so bunt wird, dass das Herz zu zerspringen
droht!
Justus hatte Emmas Hand genommen, obwohl das nicht seine Art
war, und sie hatten da gestanden und hatten sich nicht bewegt, so
wie die Zeit, die sie umgab.
Und dann war es zu dem einen Kuss gekommen. Ein Kuss. Mehr
nicht. Nicht die plötzliche Aufregung, der Rausch, der einem ersten
Kuss normalerweise folgt. Die Logik der Fortpflanzung trat nicht ein.
Eigentlich hätte nun die Routine einsetzen müssen, die meist einem
Kuss folgt, Handgriffe und Handlungen, wie aus Filmen erlernt.
Aber es war nicht der Moment dafür!
Ein langsamer Kuss, das langsame Annähern der Köpfe, der Augen,
die ineinander schauten. Weiche Lippen, keine Akrobatik. Nur ein
weicher Kuss, abseits von ausgetretenen Pfaden. Nur der Beweis,
dass alles gut war! 
Emma und Justus lösten sich wieder voneinander, schauten wieder in die
Stadt, und der Moment war beendet. Postkoital ohne Koitus.
Ohne Schuld und Bereuen.
Und ohne die aufgesetzte Logik, dass ein Kuss ein anderes
Versprechen für die Zukunft sein muss, als sich selbst treu zu
bleiben - sich selbst treu zu bleiben und so für immer mit dem
anderen verbunden zu sein.

Beide standen schweigend in dem Nebel vor dem Schmuckladen.
„Kustus..., ich meine Justus, sind wir Freunde?“, fragt Emma.

„Ja, Emma, wir sind noch Freunde, denn Freunde, Freunde sind
wie Bäume, sie fallen tot um, wenn man wiederholt mit einer
scharfkantigen Axt auf sie einschlägt!“
„Witzig!“, sagte Emma, wenig angetan vom seltsamen Gerede von
Justus, welches sie manchmal zum Lachen brachte, welches sie
aber viel öfter verwirrend fand und ihr ein Gefühl gab, dass es
jetzt wohl besser wäre, zu gehen. Da fing man ein ganz normales
Gespräch an und Justus machte immer, dass es irgendwo anders
endete!
„Hast du verstanden, worum es da gerade bei den beiden ging?“,
fragte sie Justus, denn heute Abend war ihr danach, seltsame
Sachen zu hören.
„Ich denke, es ging darum, dass sie es nicht schafft, etwas zu
mögen, was gut für sie wäre!“, antwortete Justus.
„Das ist aber ein ganz großes Problem dieser Tage, dass die
Menschen eigentlich wissen, was gut für sie ist, aber es nicht tun,
weil jemand ihnen Angst gemacht hat. Um es einmal ganz groß zu
sagen: Es gibt kein Problem zwischen Männern und Frauen, es gibt
auch kein Problem zwischen Christen und Moslems, kein Problem
zwischen Schwarz und Weiß und Gelb und Lila und was weiß ich
nicht, was für Hautfarben es sonst noch nicht gibt. Um es also groß zu
sagen: Es gibt ein Problem im Bewußtsein!
Es geht ja überhaupt nicht mehr um Sein - es geht um Haben, und
das Beste, was man haben kann, ist Geld.
Alle reden immer von Geld, weil sie der Meinung sind, Geld wäre
wichtig, weil es Wert hat, aber in Wirklichkeit ist Geld nur wichtig, weil
es den Menschen erlaubt, Dinge zu vergleichen. Und der einzige
Vergleich, der ihnen einfällt, ist, wie arm sie sind und wie reich die
anderen sind. Aber das ist gar nicht der Unterschied. Es geht um
Glück, nicht um Geld.
Sie sagen, man kann Glück nicht kaufen, aber man kann Schokolade,
Eiscreme und Drogen kaufen - und das ist ja eigentlich das Gleiche!
Es gibt zwei Arten von Menschen: Die einen Menschen, die es
schaffen, dass Du Dinge tust, die Du nicht willst.
Und die anderen Menschen, die diesen Menschen glauben.
Das Problem sind die Lügner, und zwar nicht die Alltagslügner,
sondern die großen Lügner, die es tatsächlich schaffen, das Du
ihnen ihre Idee von Glück glaubst.
Ein wichtiger, hinterhältiger und zum Glück gescheiterter deutscher
Verbrecher hat mal gesagt:
'Die meisten Menschen werden leichter Opfer einer grossen Lüge
als einer kleinen!'
Und das stimmt. Es gibt nur diese eine grosse Lüge, nämlich, dass
man Glück vergleichen könnte. Und sie benutzen Geld als Mittel,
um Dich glauben zu machen, dass das Glück im Vergleichen mit
anderen besteht.
Es ist ein Fehler im Bewusstsein. Jeder Mensch will glücklich sein,
aber keiner kann Dir sagen, was das ist, das Glück. Keiner kann
vorher sagen, was Du tun musst, um glücklich zu sein. Und anschliessend
von Glück zu erzählen, endet immer mit einem "aber", weil Du ja nach dem
Glück nicht mehr glücklich bist.
Und der Moment des Glücks im Hier und Jetzt endet immer dann, wenn einer
denkt: 'Jetzt bin ich glücklich!'
Es wäre schön, 'für den Moment' zu leben, wie immer alle sagen.
Aber warum hat jeder einen Fotoapparat in der Tasche, wenn nur
der Moment zählt?
Jeder, der sagt, er wüßte, was Glück ist, der müsste wissen, wie es
am Ende des Lebens ist. Sie oder Er müsste wissen, wie man es
denn macht, ein Leben zu führen, so dass man beim Sterben, wenn
man nichts mehr tun kann, glücklich ist.
Aber wie sollte das denn einer wissen? Irgendwann gehen die
Augen zu und dann geht es ja erst richtig los - da kann keiner mehr
reden, wenn es zu Ende geht. Was dann passiert, das weiß ja
keiner. Aber einen alten Menschen, der stirbt, den hat man selten
mit Angst oder Wut im Gesicht gefunden.
Was anschließend kommt, weiß keiner. Also kann man nur
Vermutungen anstellen - aber klar dürfte ja wohl sein, das niemand
stirbt und sich denkt: 'Boyakasha, das hat sich gelohnt - ich war besser
als alle anderen!'
Es gibt tatsächlich eine Krankenschwester, die den Weltrekord in
Sterbebegleitung hält. Knapp zehntausend Menschen hat sie
„rüber“ gebracht. Und immer hat sie gefragt: 'Gibt es etwas, das Du
jetzt bereust?' Und als sie gefragt wurde: 'Frau Schwester, sagen Sie,
was haben sich die Leute gewünscht, anders gemacht zu haben - 
was waren die Dinge, welche Menschen kurz vor ihrem Tod noch
bereuten?', zählte die Schwester auf:
'1.: Ich wünschte mir, ich hätte den Mut gehabt, so zu leben wie ich
es wollte, und nicht wie andere es von mir erwartet haben.
2.: Ich wünschte, ich hätte nicht soviel und nicht so hart gearbeitet.
3.: Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, zu meinen Gefühlen zu
stehen.
4.: Ich wünschte, ich wäre in Kontakt mit meinen Freunden
geblieben.
5.: Ich hätte mir gerne erlaubt, glücklich zu sein, denn Glück ist eine
Entscheidung, kein Produkt'".

Und das ist es: Da ist nichts mit Vergleich. Vergleiche enden dort,
wo die Reise einsam wird. Und da sollten sich auch Steffi und Maik
dran halten. So wie es ist, ist es halt. Man kann tatsächlich an der
Welt nicht viel verändern. Und das einzige, was man tun kann, um
sich selbst glücklich zu machen, ist, sich zu entscheiden, glücklich
zu sein. Und Glück, Glück ist in erster Linie eins: Ansteckend!

Ein Moment des Schweigens trat ein, weil Emma jetzt nichts mehr
zu sagen hatte und es Justus wieder unangenehm war, so
gesprochen zu haben, als hätte er wirklich eine Ahnung vom Leben.
Und nach einem Moment der Stille mußten tatsächlich beide
lächeln, und es war ein bisschen wie ein zweiter Moment auf dem
Hochhaus - damals in Tenever.

„Gehört der hier zu Ihnen?“, fragte der Polizist, der plötzlich neben
ihnen stand - in der einen Hand einen selbstgebastelten Sprengsatz,
an der anderen Maik, der irgendwie verzweifelt grinste.
„Ja, gleich!“ antwortete Emma, „wir haben hier grad noch zu tun,
falls das nicht auffällt!“



Tag 9 (26.1.2012)

Die Polizei!


Am letzten Samstag fanden Polizisten in den Wallanlagen im
Bremer Viertel einen 30 Jahre alten Mann bäuchlings schlafend, alle Viere von sich gestreckt mitten auf einer Grünfläche liegend. Als sie ihn erst zärtlich, dann rüde aus seinem Tiefschlaf geweckt hatten, richtete er sich schnell auf und kam mit einem militärischen 'Stillgestanden!' schwankend vor den Beamten zum Stehen. An seiner rechten Gesichtshälfte klebte noch die halbe Wiese in Form von Gras und Laub, wie die Polizei später in ihrem Bericht vermerkte.
Auf seinen Zustand angesprochen, antwortete der junge Mann:
„Ich bin nur 30 gefahren. Sie können mich nicht anhalten, weil
ich zu langsam war. Ich fahre immer hier lang, und dann die Zweite links!“
Im Folgenden nach seinem Personalausweis gefragt, zückte der
Mann seinen Führerschein.
„Mein Fahrlehrer hat mir sogar einen Strich gegeben, weil ich hier
nur 30 gefahren bin. Darf ich bitte weiterfahren? Ich möchte dringend nach Hause!“
Daraufhin stieg er in den Streifenwagen und schnallte sich an. Nach einer kurzen Phase der Perplexität fuhr die Polizei ihn nach Hause.
An der Haustür verabschiedete er sich mit den Worten: „Bis Sonntag dann, Jungs!'"
Das war das letzte Mal, dass Justus mit einem Polizisten gesprochen hatte. 
Lustige Geschichte!
Er hatte diese Geschichte später in der Zeitung gelesen und sich gut gelaunt wiedererkannt.
Doch hinderte ihn diese schöne Erinnerung daran, diesen dummen Polizisten, der jetzt mit Maik unter dem Arm vor der "Flaschenpost" vor ihm stand, auf irgendeine Art und Weise ernst nehmen zu können, zumal Maik immer noch den Anzug trug, der ihn vor den Häusern im Viertel tarnen sollte - das hatte er sich jedenfalls so gedacht.
Da standen sie nun vor ihm, der Polizist und Maik – und
tatsächlich dachte Justus sich: "Ein klares Zeichen, dass du kein Kind mehr bist, ist, wenn sogar die Polizisten schon jünger sind als du selbst. Das Gefühl war genau wie früher, wenn du in der Zehnten warst und ein Sechstklässler muckte auf!"
„Also, wir haben hier jemanden, der behauptet von sich, 'Maik' zu
heißen und zu Ihnen zu gehören - er trägt diese Bombe bei sich!",
sagte der Polizist zu Justus und Emma, die fast ein wenig dankbar waren, dass Maik es wieder einmal geschafft hatte, mit seiner unbekümmerten Art, die oft an Dummheit grenzte, die emotional aufgeladene Situation zu entschärfen!
Maik steckte im Schwitzkasten des Polizisten in Kampfmontur, und dieser drückte ihn immer weiter in Richtung Boden, in Richtung Bürgersteig, der hier aus Betonplatten bestand und voll mit alten Kaugummis, durch Schuhe zerriebene Zigarettenkippen und Spucke war.
Das waren typische Zeichen eines Ortes, an dem Menschen warteten - und Warten, Warten als Beschäftigung, dass war in diesem Szenebezirk wie in jedem anderen Szenebezirk eine der Hauptsachen, mit denen man den Tag verbrachte.
Immer sehr spannend, das Warten auf Dinge, von denen man noch gar nichts weiß, eigentlich das Warten auf Zeit, die verrinnt, das Warten darauf, dass sich irgend etwas verändern würde.
Maik wartete in erster Linie darauf, wieder Luft zu bekommen, sonst würde sich hier bald etwas ganz anderes ändern!
Ein schönes Bild gaben die beiden ab: Maik in seiner selbstgemachten Tarnuniform im Schwitzkasten des Polizisten mit der echten Uniform und einem Gewichtsunterschied von etwa 30 Kilo, die jetzt auf Maiks Kopf lasteten.
„Hmm, brbrbr, hmm!“, kam es aus Maiks Kopf, während der Polizist die Unterhaltung fortsetzte. Er hielt dabei einen Metallgegenstand in der Hand, aus dem eine Lunte herausragte.
„Sagt ihnen diese Bombe etwas?“, fragte der Polizist Justus. Er war einer dieser Menschen, die lieber erst den Mann ansprechen, wenn ein Mann und eine Frau gemeinsam herumstehen.
„Vielleicht lassen sie den Jungen erst mal los und fragen ihn selbst?“, schlug Justus dem Polizisten vor.
„Nein, das geht nicht!“, antwortete der Polizist, und schon hatte Justus keine Lust mehr, nach dem Warum zu fragen. Der Polizist hatte sein Visier geschlossen und war dermaßen verpackt, dass es sich so anfühlte, als würde man sich mit einem Roboter unterhalten. Und mit einem Roboter eine Unterhaltung zu führen, das war ja nun wohl wirklich zu dumm!
„Wenn einer mit mir reden will, dann sollte das ja wohl von Mensch zu Mensch geschehen. Wozu gibt es denn Polizisten, wenn sie eigentlich wie Roboter sind? Die sollen doch das Zwischenmenschliche regeln - Roboter sollen die Sachen zwischen Robotern regeln. Menschen sollen Menschensachen regeln, wo soll das denn sonst noch enden?“, dachte sich Justus.
Maik dachte sich auch seinen Teil, während er unter dem Panzer des Polizisten ächzte.
„Tolle Uniform!“, dachte sich Maik.
„Und gute Schwitzkastentechnik, da kann man nichts sagen!“

„Vielleicht lassen sie ihn jetzt wirklich mal los, der leidet doch!“, sagte Emma, und tatsächlich lockerte der Typ im Panzer seinen Griff um Maiks Hals und bemächtigte sich in einer eleganten Bewegung Maiks Arm und seiner Hand, um ihm die Finger umzubiegen und ihn so mit einem Polizeigriff wiederum bewegungsunfähig zu machen.
„Also, was ist das?“, fragte der Polizist Maik nun doch. „Wozu tragen sie erstens diese Bombe und zweitens die affigen Klamotten?“
„Erstens“, keuchte Maik, „erstens weiß ich nicht, welche Klamotten Sie meinen - meine ja wohl nicht, denn die sind nicht affig! -, und zweitens: Wenn sie schon böse wegen dem Zünder sind, dann sollten sie sich mal die Bombe anschauen, und drittens: Weiß ich gar nicht, was das soll? Sie und ich stehen doch auf einer Seite, wir arbeiten beide für das Volk, und Sie sind doch auch ein Polizist!“
„Erstens“, antwortete nun der Polizist, „erstens ist ihre Kleidung schon affig!“, und schaute dabei in die Runde, und sowohl Steffi, die jetzt neben Maik stand, als auch Justus und Emma mussten verschämt nicken und grinsen, denn keiner von ihnen konnte gut genug lügen, um bei Maiks Anblick keine Miene zu verziehen.
„Zweitens, was soll das heißen, ein Zünder, ein Zünder für was?“
„Für die Puddingbombe!“, grinste Maik diabolisch.

Justus schlug sich die flache Hand vor die Augen und öffnete zwei
Finger, um zu sehen, ob Maik das jetzt wirklich gesagt hatte.
„Was denn für eine Puddingbombe?“, fragte der Polizist weiter.
„Ohhh Mann! Na, für das Raumschiff - tun Sie nicht so, ich weiß,
dass die Regierung da mit drinne steckt, und Sie wissen so gut wie ich, dass das Raumschiff ohne die Puddingbombe nicht starten kann, besser gesagt: Könnte es schon, aber es könnte den 'Van-Helsing-Gürtel' nie durchdringen - und überhaupt - was ist das denn für eine doofe Frage? Warum sollte das Raumschiff ohne die Puddingbombe denn ÜBERHAUPT starten? Wer wäre denn wahnsinnig genug, diese Milliarden aus dem Rettungschirm für ein Raumschiff auszugeben, wenn überhaupt gar keine 
Puddingbombe vorhanden wäre? Ihr von der Regierung überrascht mich wirklich immer wieder!“

Justus hatte die Hand immer noch vor dem Gesicht und beabsichtigte nicht, sie so schnell wieder in die Hosentasche seiner schönen Hose zu stecken.
„Was für eine Bombe?“, fragte der Polizist noch einmal.
„PUDDING!“, sagte Maik
„WAS?“, fragte der Polizist wieder, als eine Polizistin auf einem Pferd angeritten kam und neben Maik stehen blieb.
„Was geht hier vor sich?“, sprach die Pferdepolizistin, stolz auf ihrem Pferd sitzend, die Anwesenden an.
„Es scheint hier eine Puddingbombe zu geben, ruf’ den Einsatzleiter!", antwortete der Polizist in Schutzmontur.
„Sieht ganz so aus, als wäre mir hier ein großer Fisch ins Netz gegangen!“
Er zog mit diesen Worten den Polizeigriff in Maiks Rücken nochmals an, um zu belegen, wie ernst es ihm war.
Justus beschloss, dass jetzt nicht der Moment war, die peinlich berührten Finger aus dem Gesicht zu nehmen, da er sich sicher war, dass sie wahrscheinlich augenblicklich wieder dorthin zurückschnellen würden.
Noch mehr Polizisten auf Pferden trafen vor der "Flaschenpost" ein, und ein wuseliges Gerede entspann sich zwischen den Beamten.
„Sprengzünder!“, hörte man es zwischen dem Böllergeknalle zischen und flüstern.
„Puddingbombe, Raumschiff, Zeitreise!“
„Woher wissen sie von der Zeitreise?“, fragte Maik mit schockiertem Gesicht und bemerkte die ahnungslosen und mitleidigen Mienen der Anwesenden.
„Von Zeitreise habe ich nie etwas gesagt!“, herrschte Maik den ihn
immer noch festhaltenden Polizisten an.
„Ich bin doch nicht blöd, Euch von meiner Zeitmaschine zu erzählen. Das ist ein Geheimnis, das nur Napoleon und ich kennen, und so wird es auch bleiben - Inschalla!“

Justus' Hand klammerte sich jetzt aus Fremdscham so um sein Gesicht, dass mit Sicherheit ein roter Abdruck bleiben würde, wenn er sie herunternahm.
Langsam lösten sich die Finger ein bisschen klebrig von seinem Gesicht.
Er fuhr mit Daumen und Zeigefinger an seinen Wangen entlang, öffnete den Mund, streifte mit seinen Fingern die Mundwinkel und nahm sich einen Moment Zeit, bevor er antwortete.
„Maik, ernsthaft? Das jetzt, da willst Du wirklich hin? Das wolltest Du
jetzt wirklich gesagt haben? Du willst wirklich, dass jemand glaubt, dass Du das ernst meinst?“, fragte Justus, an Maik gerichtet.
„Na, ich denke schon, dass er das ernst meint!“, antwortete der
Polizist für Maik.
„Er sagt: 'Bombe', ich sage: ‚Was?’. Das ist die Standardprozedur bei Verdachtsfällen. Und ich weiß, dass auf dem Dienstweg von oben nach unten tatsächlich viele Informationen verloren gehen. Wir sind hier in Bremen - das ist nach wie vor international der Hauptstandort für Raumfahrttechnik. Und zufällig habe ich im Internet gelesen, dass die Regierung wirklich Sachen macht, die vor uns geheim gehalten werden.
Im Vertrauen, ich als Streifenpolizist bin kein Raketenwissenschafter,
aber ein Raketenwissenschaftler ist ja auch kein Streifenpolizist. Es
kann ja nicht jeder alles können!“
„Und sie meinen, der Raketenwissenschaftler wäre Raketenwissenschaftler, weil er es nicht bis zum Streifenpolizisten geschafft hat?“, fragte Justus unbekümmert und erwischte sich dabei, sarkastisch zu werden.
„Der Raketenwissenschaftler hätte bestimmt auch mal Lust, in tollen Klamotten mit Kumpels rumzuhängen, Angst und Schrecken zu verbreiten, Omas zu verkloppen, bei der Arbeit zu rauchen und sich mit interessanten
Leuten vor dem Schnapsladen „Die Flaschenpost“ zu unterhalten?“

„Ja. Natürlich. Ist doch nachvollziehbar!“, antwortete der Polizist.

Und tatsächlich, das konnte Justus vollkommen nachvollziehen:
Polizist zu sein war natürlich das Traumcomeback eines jeden
geprügelten Teenagers, der nie die Macht besessen hatte, andere
zu quälen und zu unterdrücken, nie diese Macht besessen hatte,
von der er und eigentlich ein jeder Junge in Jugendtagen träumte.
Für die, die nie was zu melden hatten, war Polizist natürlich ein
Traumberuf!
Und die, die damals auf dem Schulhof am Drücker gewesen waren,
die hatten ja meist durchweg positive Erfahrungen damit gemacht,
obenauf zu sein und andere dazu zu zwingen, zu tun, was sie
wollten. Wozu sollten sie das aufgeben? Da war Polizist ja ein
Traumberuf. Polizist zu sein ist doch so, wie immer der Älteste in der
Raucherecke zu sein!
Für rauchende Teenager und angehende Kleinkriminelle in Bremen 
war es Usus, dass sich die gewaltbereiten Jugendlichen mit ihren
Gangs auf Spielplätzen versammelten, dort herumhingen und Scheiße
waren. Das war die logische Fortsetzung der Kindheitstage und wieder
einmal der Beweis, dass das Leben linear verläuft und für die meisten
Trottel, die sich nicht bemühen, keine Überraschungen bereithält.
Von diesen Spielplätzen übten sie ihre Macht aus - auf Schaukeln
und Klettergerüsten sitzend, immer spuckend und angebend
verbrachten sie ihre Tage, rauchend, denn Rauchen ist cool und
steigert das Ansehen in der Clique.
Und natürlich - was wäre naheliegender, als den Spielplatz gegen
ein nettes Haus zu tauschen, es Revier zu nennen und auch noch
immer frischen Kaffee zu haben, Geld dafür zu bekommen und
gleichzeitig noch der gefährlichsten Gang des Landes anzugehören?

Eigentlich sagt man das ja von Lehrern, dass die Menschen Lehrer
werden, die nie wirklich Lust auf das wahre Leben hätten, weil: Aus
der Schule zurück in die Schule, das ist ein kleiner Kreislauf - aber
die Struktur ist ja die gleiche!
Der Lebensweg vom Opfer zum Täter wohnt ja in jedem Menschen.
Wer früher geschlagen wurde, der schlägt ja wieder!
Aber genauso wenig, wie alle Lehrer hohl und geistig gewalttätig sind,
sind auch nicht alle Polizisten korrupte Schläger. Aber entweder
kennen sie es schon von früher, oder sie wären es früher gerne
gewesen!
„Da haben sie Recht - das mit dem Polizist sein, das ist wirklich
nachvollziehbar!“, musste Justus zugeben,
Jetzt mischte sich auch Steffi ein.
„Ich finde, Sie haben einen ehrenhaften Beruf, mein Vater gehörte
auch zu Ihnen!“, sagte sie.
„Na, da wird Ihr Vater aber stolz auf Sie sein, dass Sie als Polizistentochter
jetzt hier mit so einem Maik herumhängen!“, antwortete der Polizist.

„Mein Vater war kein Polizist, mein Vater IST Dieb und Einbrecher!
Und mal ehrlich, das ist ja auch ganz supergeil von Ihnen: Ich
kenne sonst keinen, der sein Geld damit verdient, seine Kundschaft
zusammenzuschlagen! Gar nicht mal schlecht - Hut ab!“, blaffte Steffi
den Polizisten an, steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel
und tastete ihre Taschen nach einem Feuerzeug ab, zog es aus der
Hose, hielt es in der Hand und fragte der Polizisten mit zur Seite
geneigtem Kopf: „Oder nicht, Mahoney?“
Da stand er nun, der Herr Polizist, und wusste jetzt auch nichts mehr zu
sagen. In der Linken den Sprengsatz mit der heraushängenden Lunte, in
der anderen Maik, um ihn herum mittlerweile drei Pferde mit drei Polizisten,
die ihn anschauten, und er bemerkte langsam, dass ihm die Situation zu 
entgleiten schien. Da erinnerte er sich kurz daran, was sie ihm auf der
Polizeiakademie beigebracht hatten: "Denke an ein Bild, das Dich beruhigt“,
hatten sie ihm gesagt, „einen Ort, an dem Du zu Hause bist!"
Und er hatte sich einen weißen Sandstrand vorgestellt, mit zwei schräg
wachsenden Palmen und einer dazwischen gespannten Hängematte, einem netten Cocktail und einer großen Tüte Gras, sein kleines liebstes Laster, das es ihm erlaubte, in dem kiffertypischen Selbstzweifel die Polizei für ein paar Minuten mal nicht so geil zu finden.
"Suche einen Ort in Dir, an dem Du ruhen kannst!", hatten sie gesagt.
Und das tat er.
Er ließ den Griff, in dem er Maik hatte, etwas locker und die andere Hand
mit dem Luntending sinken und versuchte sich zu sammeln.
Er war ein guter Polizist - zum Abitur und zur Kriminalpolizei hatte es nicht 
gereicht, aber trotzdem war er ein wichtiger Teil zur Aufrechterhaltung von 
Recht und Ordnung. Er konnte schnell laufen und gut Befehle befolgen.
Und unterschwellig war er der Meinung, dass schnell Laufen und ein guter
Polizeigriff und Befehle befolgen wichtiger war als das dämliche Rumgequatsche all der Kripoarschlöcher, die sich eh für etwas Besseres hielten!
Langsam hatte er sich gesammelt. Es gab genug anderes zu tun, um sich nicht mit diesen vier Idioten hier rumschlagen zu müssen.
Am besten verhaften, ab in den Bulli, ab zur Wache und sie dann erst mal 
schmoren lassen - konnten sie dann ja sehen, wie lustig sie es fanden, Sylvester in der Zelle zu verbringen!
Er dachte noch einmal kurz an seinen Strand und seine Palme, seine Tüte und seinen Cocktail und wollte sich einen Ruck geben, als die Tür der "Flaschenpost", des Getränkeladens hinter ihnen, aufflog.
„Was ist hier denn los?“, fragte der Verkäufer, welcher aus der „Flaschenpost" geeilt war, vor der sie alle immer noch standen, um zu sehen, was denn da los war.
„Nichts, nur ein bisschen Stress!“, antwortete einer der Polizisten auf dem Pferd.
„Was - nur ein bisschen Stress? Hier stehen drei Pferde und ein Polizist mit einer Bombe oder so was vor meinem Laden! Justus hier ist Stammkunde bei mir, da werd' ich ja wohl fragen dürfen, oder muss ich da erst was Formular ausfüllen? Steht hier ein Pferd auf'm Flur, oder was?“, fragte der Kioskbesitzer.
„Raus! Ich meine, rein!“, rief der Berittene.
„Noch wer Bier?“, fragte der Verkäufer und verschwand in seinen Laden.

Der Polizist mit Maik im Arm dachte sich nun endgültig: „Also los, Bulle!“
Bulle nannte er sich selber, weil er ja nicht nur Bulle, sondern tief in seinem Inneren ja immer noch erlebnisorientierter Jugendlicher war, und bemerkte in genau diesem Moment der Stärke, wie es an seinem Handschuh warm wurde.
„Ich spüre die Kraft in mir aufsteigen, in den Füssen, den Beinen - meine Hand wird schon ganz warm, ich spüre die Energie!“, dacht er sich, schaute auf Maik und dann auf Steffi, die mit ihrem brennenden Feuerzeug dastand und gerade den Sprengsatz in seiner Hand angezündet hatte. Sein Blick wanderte zwischen seiner Maik festhaltenden Hand und seiner den Sprengsatz umklammernden Hand hin und her.

Er blickte sich um und stopfte den Sprengsatz in den Ausgabeschlitz des neben ihm an der Fassade angebrachten Geldautomaten.
Diesmal war es nicht wie bei dem kleinen Böller, der vor zehn Minuten vor ihren Füssen verreckt war! 
Maik schrie: "WEG!", und alle machten einen Satz zur Seite und Panik 
ergriff die Umstehenden. Die Polizisten auf ihren Pferden rissen am Zaumzeug, so dass ihre Pferde sich aufbäumten und rückwärts trippelten. Die umstehenden Passanten merkten erst gar nicht, was da los war, machten aber ebenso einen Satz zurück, so dass ein Halbkreis entstand, der nun gebannt auf den Geldautomaten schaute. Justus packte Emma am Arm, zog sie zu Steffi herüber, sah Maik in dem ganzen Trubel 
grinsend stehen und dachte sich: "Was soll’s!", schubste ihn weg, und alle vier rannten auf die andere Straßenseite, bogen vor dem Lokal "Das Wohnzimmer" nach links ab und hasteten zurück in Richtung Eck.
Justus drehte sich noch einmal um, schaute über seine Schulter und sah die Menschen auf der Straße stehen, die nach wie vor mit Böllern um sich warfen und Raketen aus der Hand starteten, und er sah diesen Halbkreis um den Geldautomaten herumstehen und die Polizisten, die versuchten, die Menschen weiter zurückzudrängen, welche wiederum in ihrer Betrunkenheit anfingen, auf die Polizisten einzupöbeln.
In diesem Moment machte es "BOOOM!", und der Sprengsatz explodierte.
Der Knall ging nicht in der allgemeinen Geräuschkulisse unter, er war wie die Mutter aller Böller!
Die Explosion zerriss den Geldautomaten, und eine Staubwolke platzte aus der Wand heraus, nach vorne und nach oben, bis fast zur Höhe der Häuser, und dann wurde es still. 
Der Halbkreis hatte sich inzwischen genug geweitet, um schlimmere Verletzungen zu vermeiden, aber einige in der ersten Reihe verloren das Gleichgewicht und fielen auf den Boden.
Einen Moment lang war es noch still gewesen, dann hatten die Pferde gewiehert, sich aufgebäumt und ihre Polizisten abgeworfen, die nun verdattert auf dem Boden lagen.
Dann begann ein Kreischen und Geschrei, als wäre es schon Zwölf Uhr, nur dass hier niemand anstoßen wollte. Die Explosion war so laut gewesen, dass die meisten der im nahen Umkreis Stehenden nichts mehr hören konnten, und der Staub und die kleinen Putzbrocken der explodierten Mauer, in der der Geldautomat gesessen hatte, begannen, auf die Menschen hinabzuprasseln.
Justus, Emma, Steffi und Maik waren jetzt stehengeblieben und sahen vom "Cinema"-Kino aus, wie sich die Aschewolke senkte.
Hoch über dieser Wolke waren kleine Fetzen zu sehen, die im Wind auf Höhe der Dächer der umstehenden Häuser hin und her schwebten wie Blätter im Herbst und langsam, ganz langsam in Richtung Boden glitten.
Die Menschen auf der Straße schauten nach oben - Staub war noch in ihren Augen, die sie sich jetzt rieben, und dann sahen die Ersten den bunten Strauß Blätter, der auf sie zu sank.
Tausende Euro in allen nur erdenklichen Scheinen schwebten zu den Leuten hernieder.
Ganz langsam, verteilt über das ganze Areal zwischen Sielwallkreuzung und "Cäsar", schwebten die Scheine umher, wurden manchmal von einer Windbö erwischt und wieder hinauf getrieben.

Justus stand neben Maik, und beide mussten lächeln. Denn auch, wenn sie sonst nicht so ganz viel gemeinsam hatten: Das eben Geschehene freute sie doch beide!
Justus war sehr glücklich über die Menschen, die sich nun aufrappelten und begannen, in die Luft zu springen, um sich das Geld zu greifen. Das sah lustig aus, und es war davon auszugehen, dass dies wirklich noch ein lustiger Abend im Viertel werden würde.
"Geschockte Menschen mit Geld zum Versaufen - Traumkombi!", dachte sich Justus.
Er hielt immer noch Emmas Hand, und plötzlich fiel ihm auf, dass es vielleicht doch besser wäre, jetzt erst einmal Abstand zu gewinnen, denn immerhin - das konnte man jetzt wirklich nicht anders sagen -, das war ja denn doch ein Bombenanschlag gewesen, und – das vergisst man natürlich oft -, das Gute an Selbstmordbombenanschlägen war ja, das man nicht mehr weglaufen musste!
Sie aber begannen zu rennen. Richtung Eck, vorbei an der "Lightplanke", über den Sielwall, rüber zum Hot-Dog-Laden, an der "Sparkasse" vorbei, zum "Golden Shop", vorbei an einer Gruppe gutaussehender Ultras, die gerade irgend etwas cooles Ultra mäßiges machten, weiter die Strasse hinunter bis zu den Hinterhöfen der Häuser mit dem blauen Licht.
Außer Atem blieben sie stehen.
Plötzlich begann Steffi zu kichern. Dann Emma. Dann Justus.
Und als Maik dann begann, laut zu lachen, klang es ein wenig wahnsinnig und unangebracht.
Aber was soll's? Wer kann Maik schon böse sein?

Nächste Woche: Rasterfahndung.




Tag 10 (2.2.2012)

Rasterfahndung.


Da standen sie nun, die Vier, waren quer durchs Viertel gerannt und hatten im Schwefelnebel der Sylvesternacht die Polizisten abgeschüttelt, welche aufgrund von Maiks Bombenanschlag jetzt doch recht heiß auf sie waren. 

Sie waren auf einen Hinterhof gelaufen und waren im blauen Licht, welches es den Junkies erschweren sollte, ihre Adern zu finden, zum Stehen gekommen. Sie hielten sich die Seite und schnappten kichernd und lachend nach Luft, welche sie im nicht enden wollenden Lachanfall sofort wieder ausspuckten.

Aber so schnell wie es aufgekommen war, ebbte das Gelächter wieder ab, das Geknalle und Geböllere hatte nachgelassen,
und Streifenwagen und Feuerwehr jagten mit Blaulicht und Martinshorn in Richtung Sielwallkreuzung. Das Blaulicht warf
Schlaglichter an die Häuser, und tatsächlich sickerte langsam die Gewissheit in Steffi und Justus und Maik und Emma, dass das vielleicht doch ein bisschen viel gewesen war, mit einer Bombe ein halbes Haus zu sprengen, und dass sie so ganz anonym aus der Sache wohl nicht wieder herauskommen würden! 

Emma stand da und war es als einzige von den Vieren nicht gewohnt, "Scheiße"  im klassischen Sinne zu bauen. Die anderen hatten darin durchaus Erfahrungen aus Tenever. Justus hatte als Teenager nicht nur einmal einen Einkaufswagen aus den oberen Stockwerken der Hochhäuser an der Neuwieder Straße geworfen - einfach nur so, als Versuch, in einem sozialen Brennpunkt etwas besonderes darzustellen.

Und was Steffi damals nicht schon alles geklaut hatte! Tatsächlich hatte sie fast ein Jahr lang ihren saufenden Vater mit Pizza und Schnaps versorgt, den sie jeden Tag aus dem „Rewe“ im „Weserpark“ geklaut hatte. Und die ersten sexuellen Erfahrungen mit älteren Jungen und jüngeren Männern auf Droge in der Waschküche im Keller des Hochhauses, in dem sie lebte, trugen nicht unbedingt dazu bei, dass sie die Menschen an sich als besonders moralisch und gut empfand.

Viel Vertrauen wurde in den späten Nächten im Waschkeller nicht gelehrt, und dass Steffi dort mal einen moralisch auch nur halbwegs anständigen Menschen getroffen hätte: Pustekuchen!

Dass Maik einen reichen Erfahrungsschatz an und Berufserfahrung in Kriminalität aufwies, darüber musste gar nicht erst gesprochen werden!

Er war einer der Gründe dafür gewesen, das Tenever damals als gefährlichster Stadtteil Bremens galt, weil die Menschen dachten, dass marodierende Banden durch den Stadtteil zögen, Dinge anzündeten und Sachen kaputt schlugen. In Wirklichkeit war das nur Maik gewesen, der eine unglaubliche Energie an den Tag legte, jede Nacht das Haus zu verlassen, um sich sonst wie die Zeit zu vertreiben. Warum er in den Nächten diese verbotenen Sachen tat,  hatte wahrscheinlich hunderttausend Gründe gehabt, aber Maik war außerhalb von "weil’s Bock macht!" von selber noch auf keinen einzigen dieser Gründe gekommen. Irgendwann war es ihm zu heiß geworden, und er hatte den Stadtteil verlassen müssen - irgendwie hatte es ihn ins Steintorviertel geschwemmt.
Woher hätte er auch wissen sollen, wo die Grenzen zwischen „erlaubt“ und „verboten“ lagen? Diese Grenzen waren in seinem Umfeld und in seiner Familie mehr als verwaschen, und darum gekümmert hatte sich eh nie einer.

So ganz grenzenlos zu leben hatte natürlich seine Vor- und Nachteile, doch war Maik - in erster Linie durch Glück - noch nicht an den Punkt gelangt, an dem er gezwungen gewesen wäre, sein Handeln zu überdenken und mit dem "Scheiße bauen" aufzuhören. 

Aber vielleicht, spürte er, dämmerte dieser Punkt jetzt in ihm, und ein neues Gefühl machte sich breit, ein Gefühl, das ein weiserer Mensch vielleicht als Gewissen bezeichnet hätte. Doch von dieser Einsicht war Maik noch weit entfernt!

Zu viert standen sie in einem Kreis, und trotz der Angst ob der Dinge, die da kommen mochten, oder besser: ob der Dinge, die da bestimmt kommen würden, spürten sie doch, dass sie nun irgendwie miteinander verbunden waren. Sie steckten plötzlich alle gemeinsam in einer Geschichte, die größer war als die Probleme, die sie vorher einzeln gehabt und gelöst hatten.

Eine der blauen Leuchtstoffröhren auf dem Hinterhof flackerte leicht und schnell, und gab dem Ort, an dem sie standen, ein nervöses Flair.

Justus wollte etwas sagen, er wollte schon die Lippen zu einem Kommentar öffnen, irgendetwas Lustiges sagen - aber irgendwie fiel ihm nichts ein, um die Situation zu entkrampfen. „Was sie nun tun sollten“, fragte er sich und blickte in die Runde. Maik lächelte immer noch leicht, und ein wenig Stolz schwang in diesem Lächeln mit.

Und wäre bei diesem Scheiß mit der Bombe irgendwem irgendetwas passiert, hätte Justus ihm jetzt wahrscheinlich kurz entschlossen ins Gesicht geschlagen.

Aber tatsächlich waren nur ein paar Polizisten von ihren Pferden auf den Hintern gefallen, und letztendlich hatte die Aktion nur dazu geführt, dass es ein paar Leuten nun mächtig in den Ohren klingelte und viele Menschen um ein paar tausend Euro reicher waren.

Euros, die eigentlich einer Bank gehört hatten, die bestimmt versichert war - und dass sich nun alle mit dem Geld einer riesigen, gesichtslosen Versicherung vergnügten, daran konnte Justus nun wirklich nichts Schlimmes feststellen!

Leider war Justus auch bewusst, das wahrscheinlich fünfundneunzig Prozent der Bevölkerung seiner Meinung war, dass niemand dieses Geld vermissen würde; die Polizei und der Staat die Sache aber mit Sicherheit ein wenig anders sehen würden. Und genau diese aufgebrachte Meute von Gesetzeshütern war wohl das, worüber er und die anderen drei sich nun ernsthaft Gedanken machen mussten. 

Er schaute weiter in die Runde und sah Steffi, die ein wenig zu nah neben Maik stand - und Justus verstand, dass die Explosion, welche Maik ausgelöst hatte, so etwas wie eine Machtdemonstration gewesen war, welche natürlich nicht ohne Wirkung auf Steffi blieb. Sexy war Zerstörung schon immer gewesen!

Er blickte wieder zu Steffi, die dastand und ihn fragend anschaute. 

"Hast du eine Idee, was wir jetzt machen?", fand Justus seine Stimme wieder. 
"Ich weiß nicht, vielleicht, aber vielleicht sollte auch erstmal Maik sich was ausdenken - immerhin hat er da nun wirklich ziemlich vorgelegt. Das war schon mehr als Mülltonnen anzünden, das wird noch Probleme geben!", sagte Steffi.

"Was sagst du?", fragte Justus Maik.

"Ich hab noch zwei von den Bomben dabei!", antwortete Maik. „Emma und Steffi könnten sich Burkas überwerfen - ich hab’ da so ein paar selbst genähte dabei. Sie könnten die Bomben nehmen und sie auf die Polizisten werfen und die Polizisten, die uns erkennen könnten, eliminieren! Wie sieht’s aus Mädels, könntet Ihr das machen?"
Dabei zog er zwei kleinere Sprengsätze aus seiner Uniform und warf sie den beiden zu. Die beiden reagierten gar nicht, und die Sprengsätze prallten von ihren verschränkten Armen ab und landeten auf dem Boden.

"Nein!", antworteten Steffi und Emma und sogar Justus wie aus einem Mund, während Maik mit rotem Kopf die kleinen Bomben wieder einsammelte und zurück in die passgenauen Täschchen an seiner selbst genähten Militärweste steckte.

"Ich weiß was!", schaltete sich nun Emma in das Gespräch ein.
"Und was?", fragte Justus.

"Da vorne steht dieses Haus auf dem Bermudadreieck vor der „Capri-Bar“. Da müssen wir rein, da gibt es einen Zugang zum alten Abwassersystem - ich habe den Schlüssel. Hat jemand eine Idee, wie wir da ungesehen hinkommen?"

"Ich kann mich tarnen, an den Häusern entlang!“, sagte Maik, der noch immer seine urbane Tarnuniform trug. 

"Dann muss der Rest wohl rennen!", entschied Justus seufzend, und langsam bewegten sie sich vorwärts und schlichen gebückt an der Hecke entlang - zuvorderst Justus, dahinter Emma, dann Steffi und dann Maik, der in albernen Bewegungen versuchte, sich  unsichtbar zu machen, was ihm aber nun wirklich nicht gelang! 

Sie stoppten an der Zuwegung zur Strasse. Justus und Emma schauten nach links und rechts, zuckten kurz hinter die Hecke zurück und ließen einen Streifenwagen passieren. 
Sie warteten einen Moment, und als das Blaulicht des Streifenwagens hinter der nächsten Häuserecke verschwunden war, spurteten sie los, den Bürgersteig entlang, duckten sich hinter die Autos, die dort am Straßenrand standen, blieben kurz stehen, lugten durch die Scheiben der Fahrzeuge und überzeugten sich, dass sie noch ungesehen waren.

Emma holte den Schlüssel, der an einem riesigen Schlüsselbund baumelte, aus ihrer Hosentasche, und Justus schaute sie verdutzt an. 
"Nur ein Hobby!", flüsterte Emma. Sie schauten noch einmal nach links und rechts und sprinteten die letzten paar Meter hinüber zum kleinen Haus mit den Säulen, bei dem sich Justus schon oft gefragt hatte, wozu das denn da wohl eigentlich stand. Nur noch ein kleines Stück hatten sie zu laufen, als Maik - während er der Meinung war, sich zu tarnen - in ein Fahrrad stolperte, welches scheppernd umfiel, genauso wie Maik selber. Er rappelte sich wieder auf und konnte es sich nicht verkneifen, „Aua, aua!“ zu rufen. Dann raffte er sich wieder auf, stolperte noch einmal über das Fahrrad, drehte sich um die eigene Achse, stolperte vorwärts und kam mit den Händen auf der Motorhaube eines um die Ecke biegenden Polizeiwagens zum Stehen. Er schaute auf und blickte dem Polizisten hinter dem Lenkrad direkt in die Augen.

Dieser wiederum sah Maik in die Augen und erkannte ihn augenblicklich anhand der herausgegebenen Fahndung, in der klar stand: „Verdächtiger trägt ein Art Pyramide aus Pappmaché auf dem Kopf, angemalt wie der Sims eines typischen Altbremer Erdgeschosses“. 

Maik und der Polizist blickten sich in die Augen, dann machte Maik sofort kehrt und erblickte die anderen, die schon beim kleinen Haus angelangt waren und zuschauten, was da mit ihm geschah. Er rannte wieder los, direkt in ihre Richtung, und in diesem Moment rannten auch die drei anderen um die Säulen des Hauses herum. Emma versuchte, den Schlüssel in das Schlüsselloch zu stecken, aber verfehlte. Justus schaute um die Ecke und sah Maik angerannt kommen und sah auch, wie die Polizisten aus dem Streifenwagen sprangen. Emma versuchte es noch einmal, während Maik und die Angreifer näher kamen, fand das Schlüsselloch und riss die Tür auf. Justus und Steffi schlüpften herein und mit einem Gewaltsatz flog Maik an ihr vorbei, Emma machte einen schnellen Schritt ins Haus hinein, brach den Schlüssel ab und riss die schwere Brandschutztür hinter sich zu.

Die zwei Polizisten - der eine dünn, der andere dick - rannten auf die Tür zu, was bewirkte, dass der eine zwar früher da war, jedoch rechtzeitig zum Stehen kam, während der andere mit seiner ganzen Wucht gegen die Brandschutztür rannte und mit seiner Nase fast einen Abdruck in ihr hinterließ. Er stolperte rückwärts und kam mit dem Rücken an einer der Säulen zum Stehen, sackte in die Knie und begann in sein riesengroßes Funkgerät zu schimpfen, dass man den Bombenidioten und seine Freunde fast erwischt hätte, diese sich aber nun in diesem seltsamen Häuschen an der Humboldtstraße versteckt hielten.

Der dünne Polizist zog seinen Schlagstock und begann damit, gegen die Tür zu hämmern.

"Kommen Sie heraus, Sie haben keine Chance, das Haus ist umstellt!", rief er gegen die Tür und freute sich, denn das war etwas, was er schon immer einmal gesagt haben wollte. 

"Kommen Sie heraus - wenn Sie jetzt aufgeben, werde ich beim Richter ein gutes Wort für Sie einlegen!", sagte er dann und freute sich noch mehr. Auch darauf, dass er den sich im Haus versteckenden jungen Mann gleich "Sportsfreund" nennen würde. Jemanden „Sportsfreund“ zu nennen, war für ihn eigentlich, wenn er ehrlich war, immer das Highlight seines Tages!

Drinnen rührte sich nichts. Noch einmal schlug er gegen die Tür, aber es kam keine Antwort. Er horchte an der Tür und hörte nur ein gleichmäßiges Summen.

Im Haus war schon lange niemand mehr. Emma hatte mit einem an der Wand lehnenden Brecheisen den Deckel zu einem Schacht im Boden geöffnet, durch welchen man zu einer Leiter gelangte, die ins Dunkel darunter führte. Emma presste den Finger an die Lippen und bedeutete den anderen, dort hinunter zu steigen. Steffi zuerst, dann Maik, dann Justus und zuletzt sie selber verschwanden in der Dunkelheit. Emmas Arm tauchte noch einmal auf, griff sich die Taschenlampe, die sie dort schon vor Wochen positioniert hatte und verschloss die Klappe hinter sich.

Emma kletterte als letzte die Stufen herab, hörte die Schritte der anderen und folgte ihnen ein paar Meter ins Dunkel hinein.

"Pssst, bleibt stehen!", zischte sie in die Dunkelheit und stand nun mit den drei anderen in der undurchdringlichen Schwärze des Bremer Untergrunds. 

"Seid Ihr alle da?", fragte sie.

"Ja!", "ja!", "ja!", zischten ihre Freunde ihr entgegen.

Sie ließ eine Taschenlampe aufflammen und leuchtete von unten in die Gesichter der Umstehenden.

"Wo sind wir?", fragte Steffi.

"Ich hab’ das hier mal vor ein paar Monaten entdeckt. Ich hatte Schnaps getrunken im „Wiener Hofcafé“, und dann hat mir ein besoffener alter Kerl erzählt, dass es angeblich ein Tunnelsystem gibt. Dann habe ich ihm noch einen Schnaps gekauft, und er hat mir erzählt, wo man einsteigen kann. Dann noch einen Schnaps, dann hat er mir erzählt, wie das Einsteigen geht, noch einen, dann hat er mit einem riesengroßen Schlüsselbund vor meiner Nase rumgeklimpert und mir erzählt, dass ihm früher der größte Bremer Schlüsseldienst gehörte, und dass er im Auftrag vom Senat beim Regierungswechsel alle öffentlichen Schlösser ausgewechselt hätte. Und dass er doch nicht doof sei und von allen Schlüsseln heimlich Zweitschlüssel angefertigt hätte. Dann noch ein Schnaps, und dann war seine Hand an meinem Hintern, und dann noch ein Schnaps, und dann lag er mit heruntergelassenen Hosen und einer gebrochenen Nase ohnmächtig auf der Herrentoilette und hatte plötzlich gar keinen Schlüssel mehr - ich dafür aber umso mehr!"

"Hätte ich nicht von dir gedacht!", sagte Steffi. "Ich kannte dich eher so als die Brave!"

"Ach, weißt du", antwortete Emma, "Scheiße bauen, das hat ja viele Ebenen. Ich hab’ euch damals in Tenever schon gesehen, mit den Einkaufswagen im obersten Stockwerk, wie ihr die da runtergeschmissen habt. Dich hab ich mit den Typen im Waschkeller gesehen, und Maik: Tatsächlich bin ich ihm nachts manchmal nachgeschlichen und habe mir angeschaut, wie er so ganz einsam herumgelaufen ist und Sachen angezündet hat und sich das dann angeguckt hat. 
Immer. wenn irgendwo was gebrannt hat in Tenever, dann konnte man das von Maiks Kinderzimmer im achten Stock aus sehen. Ich hab’ ihn mir dann von unten mit dem Zoom von meinem Handy angeschaut, wie er da am Fenster saß und ins Feuer geblickt hat. Ich hatte gedacht, er würde da wie ein Verrückter sitzen und grinsen und lachen, aber das war gar nicht so! Wenn ich ihn mir angeschaut habe, dann saß er da immer, den einen Arm flach auf der Fensterbank, den anderen Arm auf den Ellenbogen gestützt und die Wange auf der Faust, und er sah eher aus wie ein kleines Kind, das endlich ein bisschen Ruhe findet."

"Wie wenn man an einem Lagerfeuer mit Freunden und der Familie sitzt!", flüsterte Maik."Und alles ist ganz leise, und alle sind zusammen, und man muss keine Angst haben, weil alle zusammen sind, und keiner ist besoffen, und keiner schreit rum, es ist alles ganz leise, um mich herum und so, in mir drinne. So fühle ich mich, wenn ich ins Feuer gucke. Ganz ruhig. So als wäre alles in Ordnung. So als müsste ich nichts machen, damit die Leute mich mögen. So als müsste ich GAR nichts machen, damit die Leute mich mögen!"

"Das hab’ ich mir auch gedacht," sagte Steffi, "aber ich hab’ gemerkt, dass das gar nicht stimmt. Vielleicht früher mal. Ich glaub’, ich kann mich daran erinnern, dass mich auch mal jemand einfach so mochte, mich vielleicht nur mal kurz in den Arm genommen hat, ohne sich irgendwas davon zu erwarten. Früher ist meine Mutter manchmal nach Hause gekommen von der Arbeit in der Wurstverarbeitung - da ist sie nach Hause gekommen und sah ganz traurig aus, aber als sie mich gesehen hat, da war in ihren Augen drinne wieder alles gut. Und ich war glücklich, dass alles ganz ruhig war, und ich habe gemerkt, dass wir da ganz stark waren. Nicht dieses stark sein, was heute alle von Mädchen und Jungs verlangen! Heute ist stark sein ja immer so wie zu allem „Nein!“ zu sagen. Aber früher, da gab es Momente, da war alles nur „Ja!“, und das war gut so, weil keiner dir was Böses wollte, nur damit es ihm besser geht. Aber das ist vorbei. Das hab ich in der Waschküche gelernt!"

Da standen sie nun in diesem Abwasserkanal, irgendwo unter der „Capri-Bar“ im Schein von Emmas Taschenlampe, und in der Entfernung bollerte die Polizei an die Tür vom kleinen Häuschen, durch das sie eingestiegen waren.

"Wir müssen weiter!", sagte Emma und riss so die anderen aus der Ruhe, die kurz eingekehrt war. Sie leuchtete mit der Taschenlampe den Tunnel entlang. Er war hoch genug, dass Justus, als größter der Vier, knapp aufrecht stehen konnte, so hoch also, dass der Tunnel auch für die anderen genug Platz bot, außer für Maik, dessen komischer Hut, welcher mit einem Riemchen an seinem Kinn fixiert war, an der Decke entlang schleifte.

"Maik, nimm dieses Ding endlich mal ab!", sagte Justus, der hinter Maik durch den Tunnel ging.
Sie wateten ein Stück durch das knietiefe Wasser, bis sie zu einer Weggabelung kamen und den rechten Tunnel betraten, welcher in Richtung Stadtmitte führen musste. Als sie sich unter einer stählernen Querstrebe hindurchbücken mussten, machte es "Klong!" 

Justus platschte Wasser ins Gesicht, Emma drehte sich mit der Taschenlampe um, und leuchtete auf Maik, welcher jetzt im Wasser saß und sich die Stirn rieb. 

"Nimm das verdammte Ding ab!", herrschte Justus ihn genervt im Flüsterton an.

"Nein, der ist cool!", gab Maik ächzend zurück.
"Ach, der ist cool?", ätzte Justus Maik an.
"Ja, der ist cool, was weißt Du denn von cool?", gab der zurück, und jetzt wurde es Justus dann doch zu bunt.
"Hör’ mal, wir könnten jetzt schon längst weg sein, aber aus irgendeinem Grund, den ich langsam immer weniger verstehe, schleppen wir Dich hier noch mit. Was ich von cool weiß, mein lieber Maik, Du willst wissen, was ich von cool weiß? Cool ist es zum Beispiel, andere nicht zu nerven, weil Nerven so ziemlich das Uncoolste ist, was es gibt! Was cool ist, fragst Du mich? 
Du kriegst da was in den falschen Hals: Nur weil ich es cool fand, dass vorhin der Geldautomat explodiert ist, heißt das noch lange nicht, dass Du cool bist. Cool ist es nämlich, Sachen entweder absichtlich zu machen, oder Dinge die passieren, gelassen hinzunehmen und nicht wild kichernd daneben herum zu stehen. Das ist cool! Cool ist es auch, sein Leben so zu führen, dass es halbwegs erträglich ist und nicht den ganzen Tag Sachen zu machen, damit andere einen bewundern können. Cool ist es, sich einen Stil erarbeitet zu haben, den andere als angenehm und interessant ansehen, ohne das du die Menschen dazu zwingst, sich immer und ewig eine neue Meinung über dich bilden zu müssen. Cool ist es, immer gleich zu sein. Wirklich cool ist es, man selbst sein zu können, ohne das jemand merkt, wie viel Arbeit das war. Das ist wie bei allem. Wenn du etwas wirklich kannst, dann sieht das, was du tust, früher oder später wahnsinnig leicht aus, wenn du es tust. 
Und das ist ein cooles Leben. Den fucking Rucksack, den jeder durch sein Leben schleppt, wie eine lässige Innentasche in einem lässigen Anzug aussehen zu lassen. Das ist cool!"

"Und wer von uns beiden hat den cooleren Anzug an?", fragte Maik spitz, zeigte auf sich und seinen Tarnanzug und dann auf Justus und seine schwarze Anzughose, sein weißes Hemd und seinen Mantel.
"Also, siehst du!“, zischte er. “Der Hut bleibt auf!" 

"Halt die Schnauze!", sagte Emma, und die beiden wussten nicht, welchen der streitenden Jungs sie jetzt meinte. Sie leuchtete Maik ins Gesicht, packte ihn am Kragen und richtete ihn auf. 

"Weiter jetzt!", sagte sie. Und so stapften sie weiter durch das Wasser zu ihren Füssen.
"Ich weiß, wo wir hin müssen!" 

„Irgendwie riecht’s hier wie Weltuntergang!“, bemerkte Justus.
„Woher willst Du das denn wissen?“, fragte Emma, die jetzt vor ihm ging.
„Weiß nicht, riecht irgendwie so!“, antwortete er.
„Wie denn?“, fragte sie.
„Irgendwie umgedreht wie dieser Geruch am Morgen, den man manchmal riecht, wenn man weiß, dass es ein guter Tag wird!“, sagte er.

„Nach Kaffee? Oder wie?“, fragte Steffi.

„Nein! Doch nicht nach Kaffee - irgendwie nach Metall. Das riecht so, wie es schmeckt, wenn man sich auf die Zunge beisst!“, sagte Justus.

„Quatsch! So riecht das da nicht. Wenn die Welt untergeht und alle sterben auf einmal, dann ist das ein freudiges Ereignis - und dann riecht es nach Kuchen!“, sagte Maik.
„So, nach Kuchen riecht das dann also, Maik, nach Kuchen! Und den bäckst Du dann, oder wie?“

„Vielleicht!“, sagte Maik. „Vielleicht backe ich dann einen richtig coolen Kuchen. Aber den wirst Du dann ja wohl nicht mögen!“

„Weiter!“, drängelte Emma und richtete den Lichtkegel wieder nach vorne. Justus und Steffi stapften weiter. Dumpf klangen die Schläge der wieder aufkeimenden Böllerschlacht auf den Straßen über ihnen zu ihnen hinunter. Der Schacht weitete sich, und sie standen plötzlich in einem Raum. Emma wandte sich zur Seite und drehte an einem Schalter und gelbliches Licht quoll aus alten Glühbirnen, welche unter der Decke hingen und leicht hin und her schwankten wie im Bauch eines alten Schiffes. 

„Cool!“, sagte Justus.
„Stimmt!“, sagte Maik.

Nächste Woche. Subkultur und Underground, Polizei und Fußball.

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Tag 11 (9.2.2012):

Bremer Underground: Geschichte, Gegenwart, Zukunft.

"Cool!", hatte Justus gesagt und das tatsächlich auch so gemeint.

Der Ort, an dem sich Justus und Emma und Steffi und Maik hier
befanden, war vollkommen abstrus. Irgendwie war alles sehr
schnell gegangen. Irgendwie war das alles jetzt gerade mal vierzig
Minuten her, dass Justus - gewollt gelangweilt, wie er halt
normalerweise durchs Viertel stapfte - zum Eck gegangen war, nur
um ein bisschen Sylvester zu gucken.
Was dieses ganze Neujahrsgedöns sollte, fragte er sich. Das war ja
der gleiche Unsinn wie Geburtstag zu feiern - vollkommen sinnlos!

Hätte Justus selbst die Zeitrechnung erfunden, dann wäre das was
anderes gewesen, dann würde es Zweitausendzwölf nach Justus heißen,
und dann hätte er sich überlegt, alljährlich zu seinem Geburtstag in eine
Hochstimmung zu geraten - aber so? Wofür denn?
Der Mensch feiert in der Mitte seines siebenundzwanzigsten
Lebensjahres den zehntausendsten Tag seines Lebens - das
bedeutet, er hat Zehntausend mal die Sonne aufgehen gesehen. Das
wäre doch ein Wert, an dem man sich erfreuen könnte!
Quellen munkeln, dass dies der Grund war, dass so viele Große mit
Siebenundzwanzig gestorben waren: Cobain, Hendrix, Winehouse,
Joplin, James Dean.
Aber für Justus war der zehntausendste Tag schon vorbei, und er
hatte sogar das zu feiern vergessen!
Heute war er wie immer hinausgegangen, um sich so ein bisschen
die Menschen anzuschauen und die meisten von ihnen nicht zu
mögen. Das war irgendwie ein bisschen sein täglich Brot gewesen
und hatte ihn in seiner Einstellung der Welt gegenüber bestätigt.
Und Bestätigung, das war ja immer eine gute Sache - absolut
zweitrangig, ob jetzt im Guten oder im Schlechten.
Wenn einer annahm, dass die ganze Welt und ihre Menschen in
erster Linie doof und anstrengend waren, und sich vornahm, diese
Annahme jeden Tag zu bestätigen, dann war das eigentlich ein
ebenso gutes Gefühl wie das Gefühl eines Menschen, der alles toll
und bunt und schön und angenehm finden wollte.
Wenn so einer vor die Tür ging und alles als toll und bunt und
schön und angenehm empfinden und fühlen wollte, dann war das die
gleiche Bestätigung!
Im Großen und Ganzen geht es ja darum, sich bestätigt zu fühlen,
ob im Guten oder im Schlechten. Das wichtige ist ja, Recht zu behalten
und zu wissen wo man steht.
Sich selbst zu kennen und der Meinung zu sein, mit der Art und
Weise, in der man lebte, Recht zu haben, das war ja ein großer
Schritt hin zur Zufriedenheit - und Zufriedenheit und Glück - das
lernte man ja im Alter -, das ist ein und dasselbe, denn zufrieden zu
sein bedeutete, das Beste aus allem, was man konnte, gemacht zu
haben.
Was heute Abend geschehen war, war wirklich alles sehr schnell
gegangen:
Justus kam ans Eck. Zufällig waren da diese Leute aus seiner alten Heimat, die er nun tatsächlich schon lange nicht mehr gesehen und deshalb fast vergessen hatte. Aber da bestand ein Band zwischen ihnen, so ein Band, was irgendwie nur eine gemeinsame Herkunft schmieden kann.
Jemanden aus Tenever in der Innenstadt zu treffen, das war
ungefähr so, wie in Nepal oder Thailand andere Deutsche zu
treffen: Es ist anstrengend und peinlich - man lehnt ihre
Einstellungen ab und kann sich herrlich darüber aufregen, wie sie
ihr Leben verschwenden. Herrlich kann man sich aufregen über
Leute, die so sind wie man selber und doch alles falsch machen.
Man hat das Recht, sie abzulehnen, man hat das Recht, sie zu
Beurteilen - in erster Linie aber hat man das Recht, sie abwertend zu
beurteilen. Man hat das Recht, sich über sie lustig zu machen und
ihnen Dummheit zu unterstellen, aber irgendwie wird man das
Gefühl einer gewissen Nähe trotzdem nicht los. Das ist wie in einer
großen Familie, die sich zerfleischt und sich hasst, sich gegenseitig nur
das Böseste unterstellt und dennoch nicht von einander lassen
kann, weil jeder in dieser Familie das Leben des anderen
nachvollziehen kann. Und dieses Verständnis, die Fähigkeit, den
anderen zu verstehen, genau diese Fähigkeit, die eigentlich niemand
haben will, schweißt zusammen!
Ob nun Menschen irgendwo auf dem Globus, die aus einem Land
kamen und sich peinlich waren, sich aber trotzdem wie durch Zufall
zum Beispiel auf Goa trafen, oder eben vier seltsame Leute, die
aus Tenever kamen und sich wie durch Zufall am Eck trafen, das
war egal, das war eine Suppe. Ob man nun eine Familie war, ein
Stadtteil, eine Region, ein Land, ein Kontinent, ein Planet, das war
egal, das war immer ein existentes Gefühl der - meist unangenehmen -Zusammengehörigkeit – und zwar desto unangenehmer, je größer die Gruppe war. Das war der Grund, warum Justus sich als
Mensch immer ein wenig schmierig und verlogen vorkam!

Also: Im Viertel gewesen, Steffi getroffen, zum Eck gegangen, kurz
gestanden, dann Emma gesehen, emotional geworden wegen
diesem einen Kuss auf einem Hochhaus in der Neuwieder Straße
48. Dann kommt Maik in dulligen Klamotten um die Ecke, setzt sich
dazu, Emma erzählt eine ernste Geschichte - alle hören gebannt zu.
Dann streiten sich Steffi und Maik, Justus geht mit Emma zum
Schnaps- und Bierladen "Flaschenpost" - die beiden unterhalten sich,
berühren sich an der Hand. Das fühlt sich gut an. Dann kommt ein
Polizist mit Maik unter dem Arm durch den Böllernebel gestapft. Der
Polizist hat einen Sprengsatz von Maik dabei, sprengt damit
aus Versehen und doch heldenhaft einen Geldautomaten in die Luft.
Tausende Euro regnen aufs Viertel hinab. Justus und Maik und
Steffi und Emma rennen weg, übers Eck, an der „Sparkasse“ vorbei,
an den Leuten vorbei, die dort geschockt und vergnügt Geld aus
der Luft grabschen und debil lachen.
Sie laufen bis auf einen Hinterhof, dann weiter zu dem kleinen
Häuschen am „Bermuda-Dreieck“ - die Bullen hinterher. Ab ins Haus,
runter in die Kanalisation - die Bullen ausgeschlossen vor der Tür.
Dann durch die Tunnel. Maik stößt sich den Kopf, die Vier rennen
weiter die Tunnel hinunter, und plötzlich stehen sie in einem Raum,
irgendwo unter dem Eck, wie Justus vermutet.
So waren sie hierher gekommen. Und jetzt?

Emma schaltete das Licht ein, und ein paar Glühlampen unter der
Decke flammten auf und wiegten sich leicht im Zugwind. Im
aufglimmenden Lichtschein wurde ein großer Raum sichtbar.
Der Fußboden war hier trocken, und sie hatten die Nässe der
Kanalisation hinter sich gelassen. Tatsächlich lag hier ein leicht
muffiger Geruch in der Luft, aber nicht der muffige Geruch eines
Abwasserkanals - es roch eher wie in einer alten, staubigen
Bibliothek. Sogar warm war es – kurzum: fühlte sich das hier
irgendwie gemütlich an.
"Cool!", sagte Justus und "Stimmt!", sagte Maik.
Sie standen, schauten sich um und wunderten sich.
"Was ist das hier?", fragte Steffi, an Emma gewandt.
"Mach’ erstmal die Tür hinter Dir zu!", sagte Emma.
"Habt Ihr zu Hause Säcke vor den Türen?"
"Witzig!", sagte Steffi und ging zu der Tür, durch die sie den Saal
betreten hatten, packte den kalten Türknauf und drückte die Tür in
Richtung Schloss.
Es war eine schwere Tür, ganz aus Stahl gefertigt, die schwer in
den Angeln ächzte, als Steffi versuchte, sie zu schließen.
Erstmal bewegte sich die Tür auf dem Boden krächzend nur ein wenig,
und hinterließ eine kurze weiße Kratzspur auf dem aus Beton
gegossenen Boden. Maik kam ihr zur Hilfe - mit vereinten Kräften
drückten sie gegen die Tür und schafften es, sie so weit zu
bewegen, dass sie frei lief und in das Schloss fiel. Maik zog den
großen metallenen Riegel herunter, und das Teil fiel in seinem
Scharnier in die dafür vorgesehen Aussparungen. Der Riegel rastete
ein und verschloss die Tür, die nun irgendwie unwiederbringlich
geschlossen schien. 
Es war nur noch das leichte Sirren der Glühlampen zu hören.
Justus blickte sich um.
Das ganze hier, der ganze Saal, in dem sie standen, wirkte wie ein
Bunker, aber wie ein Bunker, dem jegliche militärische Strenge
abging. Es war ein großer, runder Saal, in dem sie sich befanden -
vielleicht fünfzig Meter im Durchmesser, etwa vier Meter hoch und
tatsächlich kreisrund. An der Wand standen metallene Betten, deren
Fußenden in den Raum ragten.
Die Betten waren nicht, wie Justus es aus Kriegsgeschichten
kannte, mit rauhen Felddecken bezogen. Auf den Betten lagen vielmehr
wohl geordnete Berge aus Bettdecken und Kissen mit gestrickten
Tagesdecken in bunten Farben, daneben kleine Bettkonsolen mit
Nachttischlampen darauf, und einmal rund um die Halle herum war ein durchgängiges Regal in Kopfhöhe angebracht, vollgestopft mit allen möglichen Sachen.
Verdutzt und ein bisschen beleidigt bemerkte er, dass sich in dem
Regal eine viele Dinge befanden, die er auch in seine eigene
Sammlung aufgenommen hätte, hätte er Geld und Muße für eine
eigene Sammlung gehabt. 
Er trat näher heran.
Da standen Bücher von Jack Kerouac, eine komplette Werkausgabe von Erich Kästner, Biografien über Heisenberg und die Tagebücher von Robert Crumb, Dazu LPs mit Musik von Schubert, Bach und den Stones, den Beatles und Robert Johnson, auch Filmografien von Kubrick und Truffaut - und das war nur das, was Justus im ersten Moment auffiel. An den Wänden waren Bleistift- und Kugelschreiberzeichnungen von seltsamen Geräten und alte Graffiti, die davon sprachen, dass Kordula eine dumme Kuh wäre, dass sich irgendwer die Bremer Räterepublik zurück wünschte und dass man - auch wenn der Donnerstag in der „Lila Eule“ nervig war - auf keinen Fall ins „Stubu“ gehen sollte.
Justus wandte sich um und sah, dass im Raum verteilt ein Sammelsurium von ziemlich coolen Sachen stand und ein Stück weiter eine Bar aus gedrechseltem Holz an die Wand gebaut war, in deren Regalen anstatt Büchern Schnapsflaschen standen.
Davor stand ein mit Perlmut besetzter Globus, der halb geöffnet war
und einige Flaschen Whiskey, Wodka und andere Alkoholika
beherbergte. Justus schnappte sich eine Flasche, ging weiter an der
Wand entlang und stieß fast gegen einen originalgroßen Kopf
des „Roland“, der aber ein Frauengesicht zeigte. Erschreckt ließ er die Flasche fallen, doch schaffte er es noch, einen Fuß darunter zu
bekommen, so dass die Flasche nur umfiel und ein Stück wegkullerte.
"Was ist das hier?", rief er Emma zu.
"Was das ist? Ach so, das ist der Originalkopf von Roland!", rief sie zurück.
„Aber das ist ein Frauenkopf!“, schallte es von Justus herüber.
„Ja, stimmt wohl - was dagegen? Und jetzt ganz vorsichtig mein Freund!“, antwortete sie.
Justus machte kehrt und ging zu den anderen zurück, die jetzt in der Mitte des Raumes rund um einen wunderschön gemaserten Konferenztisch saßen, über dessen Mitte ein alter Kronleuchter und ein Brett mit einem Kasten Bier unterhalb einer schweren Stahlklappe hingen.
Alle schnauften noch von dem Gerenne und Gekrieche in den Abwasserkanälen.
"Dieser Raum - was ist das für ein Raum? Wo sind wir hier?", fragte Justus
noch einmal in Richtung Emma.
"Ich glaube, das ist eine lange Geschichte. Ich weiß es auch nicht
genau. Aber ist ganz cool, oder?", antwortete sie.
"Ja, ganz cool ist er, aber what the Fuck…?", sagte Justus noch einmal mit Nachdruck und streckte die Hände wie nach Antwort flehend in Emmas Richtung aus.
"Also, ich kann auch nur sagen, was da vorne in dem Buch stand!", sagte Emma und deutete zu einem Podest, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Sie stand auf, ging zur Bar mit dem Globus und kehrte mit einer Flasche Wodka und vier Gläsern zurück. Sie schenkte ein und stellte jedem ein Glas vor die Nase.
"Auf was auch immer!", sagte sie, erhob das Glas und prostete den
Anwesenden zu.
"Also", holte sie aus, "anscheinend gab, oder besser: gibt es in Bremen
so etwas wie eine alteingesessene Clique, man könnte vielleicht auch Loge sagen - wie die Leute, denen das hier alles gehört, sich selber genannt haben. Die „Loge der Spinner“ steht außen auf dem Buch.
Das früheste, was ich an Aufzeichnungen gefunden habe, datiert auf
das Jahr 1560. Das war so ungefähr die Zeit, in der sich hier in Bremen auch das „Schaffermahl“ gründete und diese ganzen anderen Logen und halb-geheimen Gesellschaften dieser Stadt.
Dieser ganze Krams, der auf die Hanse und so weiter zurückgeht.
Damals hatten sich die besser gestellten, die Handelsleute und die Aristokraten zusammengetan, um irgendwie ihr Ding zu drehen.
Wenn man es so sagen will, Vettern und Bekannte, die sich
gegenseitig das Geld und den Handel zuschoben und sehr schnell
sehr reich geworden waren. Die haben mit Pfeffer und Salz und was weiß ich nicht gehandelt. Die „Oberen Zweihundert“ hier in der Stadt, sozusagen.
Damals entstand auch das Wort „Pfeffersäcke“ - das sagt man ja hier bis
heute zu so reichen Leuten. Also einfach ein paar Leute, die es besser fanden, wenn das Geld und der Besitz der Stadt in ihren Händen blieb. Da hat sich bis heute nicht viel getan!
Diese Herrschaften trafen sich schon damals im „Ratskeller“, haben Wein gesoffen, in ihren kleinen Kabuffs da rumgehangen und genau das gemacht, was die Bremer aus "bestimmten" Kreisen immer noch machen: 
Bruderschaften und so.
Nur was man nicht vergessen darf, ist ja, dass es immer schon die Anderen gab. Es waren ja nicht nur alles Bauern oder reiche Leute!
Man stellt sich immer vor, dass die Spinner und die Träumer und die
Freidenker ein Phänomen der modernen Zeit wären, aber das stimmt nicht. Auch damals gab es Leute mit einem Denkorgan der Marke ‚Das etwas andere Gehirn’!"
So sprach Emma und schenkte noch einmal nach, erhob das Glas
und trank - die anderen machten es ihr nach.
"Aber, was man nicht vergessen darf, wenn man sich Bremen jetzt
Anschaut: Es gibt da ja immer einen Wechsel in den Generationen.
Die erste Generation ist gezwungen zu arbeiten, um die Familie
über Wasser zu halten - und wenn sie sterben, bleibt ja immer was
über. Und von dem, was überbleibt, kann die folgende Generation
ganz gut leben und muss deswegen nicht mehr soviel arbeiten -
keine „Scheiß-Jobs“ mehr machen, würde ich sagen!
Wenn man sich jetzt umschaut, sind die Spinner und Künstler und
die, die etwas anderes im Kopf haben als immer nur zu arbeiten,
eigentlich nur solche Leute, die es sich erlauben können.
Erlauben kann sich die Boheme das alles nur, weil sie - auf welchem
Weg auch immer - Geld von ihrer Familie und ihren Freunden
bekommt.
Das würden ja nicht viele zugeben, aber von der Seele her weiß
eigentlich jeder, der Geld hat, dass er ein Stück davon den
Spinnern geben sollte, weil es ansonsten gar keinen Spaß mehr in
der Stadt geben würde. Heimlich wissen Reaktionäre und Spießer 
nämlich, dass sie Geld ausgeben müssen, damit Leute Dinge tun, 
gegen die sie dann wieder etwas haben können. Sonst müssten sie ja
irgendwann etwas gegen sich selber haben.
Die Spinner müssen gefüttert werden.
Man muss die Leute am Leben halten, die den Kopf nicht nur mit
Arbeit, Familie und Kindern voll haben, sondern tatsächlich Zeit und
Kraft haben, mal herumzuspinnen. Falls es Euch mal aufgefallen
ist, das Wort Spinner hat in Bremen gar keinen schlechten Klang -
so richtig als Schimpfwort benutzt das niemand; da schwingt immer
noch so ein bisschen Anerkennung mit.
Wie auch immer!
Die Leute damals, die geerbt hatten, oder von wohlhabenden
Menschen - aus welchem Grund auch immer - mit Geld versorgt
wurden, hatten im „Ratskeller“ nichts zu suchen und wurden da
rausgeschmissen, nicht ernst genommen oder verlacht.
Und wer ist schon gerne in der Nähe von Menschen, die ihn nicht
ernst nehmen und über ihn lachen. Also gingen die Spinner
heraus aus der Altstadt und suchten sich ein wenig außerhalb
Orte, an denen sie in Ruhe gelassen wurden. Das scheint ganz
wichtig zu sein bei der Geschichte dieser Stadt.
Das ist eine Stadt, in der es reiche Leute gibt, die Wirtschaft als
Spaß betreiben, und Leute, die davon leben, weil sie lieb gehabt
oder zumindest respektiert werden. Irgendwie sind hier ja alle
reich und haben keine Sorgen, aber die Stadt selbst ist bettelarm.
Auf jeden Fall haben sich die Spinner der Stadt irgendwann
zusammengefunden, Die Künstler und die Schreiber und die
Träumer und die Macher von Dingen, deren Geldwert man nicht
unmittelbar ablesen konnte. Und denen war es ja dann natürlich
auch vollkommen egal, ob sie nun mit dem, was sie taten, Geld
verdienen konnten.
Zuerst trafen sie sich in den Wallanlagen in einem kleinen
Privathaus, da, wo jetzt das Willhelm-Wagenfeld-Haus steht, tausend
Meter weiter in die Richtung!", sagte Emma und deutete in Richtung Altstadt.
„Tatsächlich treffen sich die Leute ja bis heute in dem Keller da. Das
ging fast vierhundert Jahre so - eine Art alternativer „Ratskeller“ war
das. Kreative Subkultur über vierhundert Jahre, wenn man so will.
Aber dann mussten sie da raus, weil die Nazis den Keller als Gefängnis
haben wollten; also sind sie weitergezogen.
Einer von denen, die da rumhingen, einer von den Spinnern also, war
der Sohn vom "Wassermeister", wie es damals noch hieß. Und der
hat seinem Sohn gesteckt, dass er früher, bevor der Deich oben an
der Weser richtig aufgeschüttet war, ein Wassersammelbecken
direkt in der Talsohle der Sielwallkreuzung gebaut hatte, falls die
Stadt doch mal überflutet werden sollte. Noch früher floss hier nämlich der
„Dobbengraben“ entlang. Darüber war eine Zugbrücke, die das reiche
„Ostertor“ vom armen „Steintor“ trennte. Das merkt man auch heute
noch - ganz grün sind sich die Leute auf beiden Seiten nicht.
„Ostertor“ gegen „Steintor“ - da kommt sich das „Steintor“ immer noch
besser vor als das „Ostertor“, und das „Ostertor“ schimpft auf die
Bonzen vom „Steintor“. Früher gab es sogar mal Straßenkämpfe -
wegen des Flusses - zwischen den beiden um die Vorherrschaft über die
Zugbrücke, die den „Dobbengraben“ überspannte.
Den Graben haben sie dann aber irgendwann zugekippt und Frieden
geschlossen.
Zwei Jahre nachdem das Hochwasserauffangbecken gebaut worden war, wurden die Deiche dann doch erhöht, und es war klar, dass die Flut nicht mehr bis hierher kommen würde, und die Strasse „Vor dem Steintor“ wurde befestigt. 
Die Pläne hat der „Wassermeister“, der heimlich auch ein Spinner war, verbrannt, weil er die Pfeffersäcke von der Stadtregierung auch nie leiden konnte. Und so geriet der Raum, in dem wir hier sitzen, in Vergessenheit.
Wer zur Nazizeit alles gejagt worden ist, dass weiß ja kaum einer
noch - die meisten denken ja, dass die Nazibastarde ausschließlich die Juden, die Schwulen, die Behinderten und die Nicht-Arier fertiggemacht hätten. Tatsächlich haben sie aber einfach einen Universalstempel gehabt, den sie quasi jedem auf den Kopf gedrückt haben, der ihnen nicht passte. Alles, was nicht ins Bild passte, wurde weggestempelt: Intellektuelle, Künstler, Spinner, Humoristen, Schnacker - Leute eben, die sich eine andere Welt vorstellen konnten. Stempel, Stempel, Stempel.
Die Gestempelten waren natürlich in erster Linie die Töchter und Söhne der Pfeffersäcke in der Stadt - die Töchter und Söhne, die es sich erlauben konnten, Spinner zu sein.
Die Pfeffersäcke selbst hatten natürlich die Befürchtung, dass ihnen all der wertvolle Unrat, den sie angesammelt und aufgestapelt hatten, von den Nazis weggenommen werden würde - deswegen hatten sie eine verteufelte Angst, irgendwo anzuecken.
Und auch wenn die meisten den Faschisten nach dem Maul geredet haben und Unmenschliches verbrochen haben, waren sie doch zumeist nicht so sehr von Sinnen, nach ihrer Moral und ihrer Menschlichkeit auch noch ihren eigenen Nachwuchs zu opfern.
Und so sind die Spinner zu diesem Raum hier gekommen, wo sie sich versteckt haben und wo wir uns jetzt verstecken. Spinner finden Spinner immer, das ist so ein Gesetz - Spinner finden Spinner immer: Gib ihnen einen Raum, stell’ ein paar geistige Getränke hinein und sie werden kommen. Das Leben findet seinen Weg!"
"Cheers!", sagte Justus, erhob sein Glass und trank erstmal noch einen. „Tatsächlich ein bisschen ärgerlich!“, dachte sich Justus. „Ärgerlich, doch nicht so einzigartig zu sein, wie man sich das immer gedacht hatte!“
Bei diesem Gedanken kam er sich sehr dumm vor, denn irgendwie war das doch gut, wenigstens ein bisschen Tradition im Rücken zu haben, aber es widersprach leider dieser Idee, etwas Neues, Besonderes zu sein -  einzigartig zu sein!
Das war ja schließlich eine Energieleistung, das war ja Arbeit gewesen, anders als die anderen zu sein. Aber vielleicht, vielleicht waren die, die
anders waren, genauso gleich wie die, die gleich waren.
Wenn sich viele einzigartig fühlen, dann gibt das Probleme!
Der Mob der Einzigartigen: Für eine Kulturrevolution ist das ein
bisschen wenig!
Die Vier saßen am Tisch, schauten sich um, blickten ins Leere und
sagten nichts.
"Was ist denn mit den Bullen?", fragte Steffi.
"Na, weiß ich nicht - kann man nur hoffen, dass die heute Abend ein
bisschen zuviel zu tun haben, um die Abwasserkanäle zu
durchsuchen. Aber Du hast recht, hierbleiben können wir nicht. Es
wäre irgendwie unfair, wenn das hier alles auffliegen würde, weil
Maik Blödsinn machen musste. Maik, könntest Du da rausgehen
und Dich stellen?", wandte sich Emma an Maik.
"Ne, mach’ ich nich!"
"Ne, mach’ ich nich!", äffte ihn Justus nach.
"Ne, mach’ ich nich! Und was machen wir dann? Sag’ doch mal was, Maik, sag’ doch mal was!"
"Ich weiß auch nicht – lass’ mal abhauen!"
"Wie, abhauen, wie meinste denn das?"
"Lass’ mal Auto besorgen und abhauen."
"Hast Du ein Auto?"
"Nee, hab’ ich nich! "
"Und wie willste dann abhauen?"
"Weiß nicht!"
"Na, das ist ja geil! Und wohin willst du irgendwie abhauen?“
„Österreich!“, antwortete Maik.
„Österreich? Wieso denn Österreich?“, fragte Emma.
„Ich kenn’ da wen, der hat eine Hütte. Auf einem Berg. Den kenn’
ich. Aus dem Internet. Der ist in meiner Gilde!“, antwortete Maik.
„Ich hab’ ein Auto!“, sagte Steffi.
„Steht bei der ‚Eule’!“
„Und wie kommen wir dahin?“, fragte Justus, und Emma zeigte nach
oben an die Decke. Dort war neben dem Kronleuchter eine
Vorrichtung angebracht: Ein Brett mit einem Kasten „Hemelinger“ und
darüber eine Klappe. Justus hatte das ja vorhin schon gesehen.
„Das ist noch ein schönes Geheimnis!“, sagte Emma.
„Direkt in der Mitte der Sielwallkreuzung ist eine versteckte Klappe, und unter der Klappe steht immer ein Kasten Bier. Wenn die Spießer die Spinner am Leben erhalten, müssen die Spinner doch wenigstens die
Trinker betrunken machen!“ 
Sie stand auf, holte eine Leiter, kletterte hinauf, drückte mit der Schulter gegen die Klappe und öffnete sie ein Stück. Emma schaute hinaus, sah Füße um sich herumstehen und ließ die Klappe wieder zufallen.
„Maik, hast Du noch Rauchbomben?“, fragte sie von der Leiter herunter.
„Na klar, was denkst Du denn?“, antwortete er, griff in seine Weste
und holte zwei Röhren heraus.
„Justus, Du machst das Licht aus, Maik, Du kommst hierher, machst
die Klappe ein Stück auf und wirfst die Rauchbomben raus, damit
keiner uns sehen kann. Das merkt niemand bei dem Geböller. Wir
warten einen Moment, und dann: Klappe auf und raus - erst Maik, dann Steffi, dann ich, dann Justus. Justus, Du schmeißt die Klappe hinter Dir
zu. Steffi, Du läufst zum Auto!“
„Ok!“, sagten die anderen. Maik stieg auf die Leiter, machte die
Klappe eine Handbreit auf, riß die Rauchbomben an, ließ sie auf
die Straße kullern, schloss die Klappe wieder. Dann wartete er einen Moment, stieß die Klappe erneut auf und sprang hinaus - Steffi direkt hinter ihm, dann Emma, dann Justus. Justus schmiss die Klappe zu, und die Vier
rannten durch den dichten Nebel los in Richtung „Sparkasse“. Sie
hetzten an den Geschäften, an den Kiosken und den Kneipen
vorbei, bis Steffi stehen blieb - und plötzlich machten alle große
Augen!
Da stand ein Fiat Panda, pink lackiert, mit einer großen „Diddelmaus“
auf der Motorhaube, „Hello-Kitty“-Figuren am Rückspiegel und
Kuhfellsitzbezügen.
Die Vier standen einen Moment nur da und glotzten.
„JA, JA! ICH WEIß, IST NOCH VON FRÜHER! REIN DA!“, rief
Steffi und schloss die Tür auf, öffnete sie und klappte den
Fahrersitz nach vorne.
„Ich kann das nicht, ich kann nicht in dieses Auto steigen!“, wimmerte Justus - bis Emma ihm in den Hintern trat und er auf die Rückbank flog. 
„Du bist wirklich ein Spinner!“, rief sie und sprang hinterher.
Steffi schmiss den Sitz zurück, setzte sich hinter das Lenkrad, griff
hinüber und öffnete den Verschlusspinökel an der Beifahrertür, so
dass Maik hastig in das Auto gleiten konnte. Sie steckte den mit einem
„Tamagotchi“ bestückten Autoschlüssel in das Zündschloss und trat
aufs Gaspedal.
„Wo lang?“, rief sie.
„Richtung Süden!“, schrie Emma.
Die kleinen Reifen quietschten, und sie schossen los.

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Tag 12 (16.2.2012)

„I am from Austria“!


Die Windräder zwischen Hannover und Kassel flogen an den Autofenstern vorbei, und der Atem der vier im Auto sitzenden Menschen schlug Eisblumen an die Fensterscheiben. Die Windräder, welche auf den Feldern längs der Autobahn A7 standen, blinkten rot und gleichmäßig - sie wirkten wie ein Kommunikationssystem zwischen Raumschiffen, die dieses Signal benutzen, um einen gemeinsamen Angriff auf die Erde zu koordinieren. 
Aber das war eher unwahrscheinlich, denn, mal ehrlich: Was für ein Weltuntergang sollte das denn wohl werden, wenn er zwischen Hannover und Kassel begann. Das Ende der Welt - es würde anders anfangen müssen! Und da Emma, Steffi, Maik und Justus für eine Woche nicht in Bremen sein würden, sollte das Ende der Welt, das Ende von allem und jedem noch ein paar Tage warten müssen.

Die Vier saßen in diesem Auto, auf dem Weg nach Österreich und hörten das Geräusch der Räder auf der Strasse.
Das Geräusch der Räder war leider kein sattes Brummen, das Geräusch dieser Räder erzeugte aufgrund ihrer lächerlichen Winzigkeit ein hohes Singen, etwa so wie das gut gelaunte Singen eines Kastraten. Dass dieser Sound für eine Verfolgungsjagd mit der Polizei nicht besonders erfolgversprechend klang, das war klar.

Justus fand das alles nicht besonders lustig. Das einzige, was ihm gefiel, war die Tatsache, dass Emma neben ihm auf der Rückbank eingeschlafen war, ihr Kopf auf seine Schulter gesunken und dort liegen geblieben war. Justus hörte das leise Schnarchen aus Emmas Nase brummen. Das war ein leises Schnarchen, das Emma nicht eklig, sondern nur menschlich machte. Und auf der anderen Seite: Eine wirkliche Verfolgungsjagd war das hier ja eigentlich doch nicht so richtig. Dass sie gesucht wurden – geschenkt! Aber so wild war es dann wohl doch alles nicht, und deswegen war es auch nicht sonderlich verwirrend, dass in diesem Fahrzeug, in dem Auto, das sie gerade die Autobahn hinunterfuhr, eine gewisse Ruhe aufkam - diese Art von Ruhe, welche sich nur auf Autobahnen in der Nacht einstellt. 

Emma richtete sich an Justus’ Seite ein bisschen auf und rieb mit der Wange an seiner Schulter auf und ab, was Justus gefiel. Dann fuhr Steffi über eine kleine Unebenheit in der Autobahn, und Emmas Kopf wurde behäbig von seiner Schulter gegen die nasskalte Fensterscheibe auf der anderen Fahrzeugseite geworfen. Leise machte es "Dong!" - Justus schaute hinüber und sah, dass Emma überraschenderweise immer noch sanft und leise vor sich hin schnarchte. 
„Süss!“
Er blickte sie noch einen Moment an, dann nahm er eine von den „Diddl-Mäusen“, die hinter ihm auf der Hutablage lagen, schob sie zwischen Emmas Kopf und die nasskalte Fensterscheibe und ließ Emma weiterschlafen.

"Was ist das denn für ein Auto?" fragte Justus an Steffi gewannt.
"Na, ist halt ein Auto, ist besser als Dein Auto. Oder, Justus?" sagte Steffi.
"Welches Auto denn?" fragte Justus.
"Na, dein Auto!" sagte Steffi.
"Ich hab’ doch gar kein Auto!" antwortete Justus.
"Na siehste! Im Vergleich zu Deinem Auto ist mein Auto doch ein ganz gutes Auto!“ sagte Steffi.

Tatsächlich saßen sie in einem Auto in Richtung Süden, tatsächlich war es spät in der Nacht, und sie jagten die A7 in Richtung Österreich hinunter! 
Ohne weitere Zwischenfälle waren sie bis Hannover gekommen. Justus saß auf der Rückbank des Autos - das, was man bei einer Limousine wohl den Font genannt hätte. Aber das hier, das war keine Limousine!
Kurz zusammengefasst war es dies: Fiat Panda, pinker Lack, „Diddl-Maus“ auf der Motorhaube, „Hello Kitty“ am Rückspiegel, ein Tamagotchi am Zündschlüssel, Kuhfellbezüge auf den Sitzen – eben ein Desaster, nichts anderes war dieses Fahrzeug. Nichts anderes als ein einziges Desaster!

Justus wünschte sich so sehr, in einem anderen Auto zu sitzen, aber er saß nun einmal nicht in einem anderen Auto, sondern genau in diesem Fahrzeug, und sie rauschten mit knallschnellen fünfundneunzig Sachen in Richtung Süden, weil Emma gerufen hatte: "Richtung Süden!", was tatsächlich sehr cowboyartig geklungen hatte. 

„Nach Österreich!“ hatte Maik vorgeschlagen, und dass sie jetzt wirklich auf dem Weg nach Österreich waren, das war eigentlich gar nicht zu fassen, hatte Maik doch in der üblichen Maik-Art davon gefaselt, dass er einen kennen würde, der da ein Haus hatte in den Bergen, in den Alpen, irgendwo auf der Alm, und dass sie da wohnen könnten, bis über die Sache mit der Bombe in Bremen im Viertel ein bisschen Grass gewachsen wäre. 

Was für eine Vorstellung: Auf der Alm im Haus von einem Freund von Maik! Die Vorstellung, dass überhaupt jemand mit Maik befreundet sein wollte, war schon absurd. Aber dass dieser „Freund“ dazu bereit sein sollte, Maik auch im Leben außerhalb des Computers zu treffen, das war wirklich schwer vorstellbar!

"Wer ist denn dieser Typ, zu dem wir da jetzt in die Berge fahren?" fragte Justus Maik.

"Er ist ein klassischer ‚Level-80-Paladin’. Ein Paladin der ersten Stunde, ein Schurkenjäger vor dem Herrn. Ich würde vorschlagen, dass Du ihm den Respekt zollst, den er verdient, Justus!
Wo er steht, davon träumst Du! Das war harte Arbeit. Er leitet Missionen mit bis zu vierzig Kriegern. Ich hoffe, eines Tages sein Nachfolger werden zu können. Aber ich weiß, dass das noch ein harter Weg sein wird, eines Tages dort zu stehen, wo er jetzt steht. Aber ich denke, wenn ich alles gebe, dann kann ich es schaffen. Ich werde alles dafür tun. Er ist der Anführer unserer Gilde, er hat uns auserwählt, er hat uns erwählt, uns zu führen. Ich habe ihn noch nie im Real-Life getroffen, doch ich kenne seine Legende: Auf einem Berg soll er leben, in einer einsamen Hütte - um ihn herum nur die Alm. Er sagt, das sei der einzige Ort, an dem er sich konzentrieren könne. Ich habe mit ihm gechatet. Ich bin der erste Mensch, den er zu sich einlädt.  Er wohnt am Laschennippelberg. Er ist eine Legende, eine Legende. Er ist unter dem Namen Krüger berühmt!" 

"Natürlich werde ich ihn respektieren, Maik. Ich wollte ja nur wissen, wohin wir fahren und wen wir treffen, Maik. Wir fahren zu Krüger, Maik. Wir fahren zu Krüger am Laschennippelberg. Und da treffen wir ihn dann. Krüger vom Laschennippelberg, ne, Maik?"
Justus war ein bisschen laut geworden, so laut, dass Emma aufgewacht war.

"Ja, den treffen wir da, Justus - wir treffen Krüger am Laschennippelberg in Österreich!" sagte Maik zu Justus, welcher sich die flache Hand vor die Augen schlug und nur noch dachte: "Ach Gott, was soll’s!", sich zurücklehnte, die Augen schloss und sich in sein Schicksal fügte, während er über Maik nachdachte.

Mitleid. Irgendwie war das die Form, wie er von Maik denken konnte.
Es ging Justus einfach nicht in den Kopf, dass ein Leben vor dem Computer nicht unbedingt ein verschwendetes Leben sein musste!

„Natürlich“, dachte er sich, „ein Leben ohne wirkliches Leben, zu leben ohne das Draußen, ohne das Schöne der wirklichen Welt, ein Leben vor dem Computer - das musste ein verschwendetes Leben sein. Ein Leben ohne Drinks und das Rumhängen in Lokalen und Kneipen, ohne dummes Gequatsche und spätnächtliche Schnapsunterhaltungen, das konnte doch gar kein Leben sein, das auch nur einen Cent wert wäre!
Das war doch anders gar nicht möglich!“

Justus, der seine  bemitleidenden Gefühle eigentlich immer ganz gut unter Kontrolle hatte, hatte oft fast angefangen zu heulen, wenn er durch Zufall Leute miterlebte, bei denen es offensichtlich war, dass sie - außer irgendwas mit Computer - überhaupt gar nichts im Leben hatten! 

Er zog sein Hemd über die Hand und wischte mit dem Unterarm den Beschlag - die Hauche, wie er sich dachte - von der Scheibe und starrte in die Nacht hinaus. Ein kleiner Unterschied in der Helligkeit des Mondscheins zeigte die Grenze zwischen Himmel und Erde. Es war nicht viel zu sehen, aber schön war sie ja irgendwie doch, die Welt - und auch, wenn sie meistens nervte: Justus wäre nie auf die Idee gekommen, sie abzuschalten und einfach nicht mehr hinaus zu gehen. Er lehnte sich mit der Stirn gegen die kalte Scheibe und hatte dieses nachdenkliche Gefühl, das man tatsächlich nur hat, wenn man auf der Rückbank irgendeines Autos durch die Nacht fährt und seine Stirn an die kühle Seitenscheibe drückt. Der kalte Fleck am Schädel gab den Gedanken eine gewisse Bedeutung.

„Eigentlich ein Wahnsinn, wie solche Menschen ohne ein reales Leben überhaupt überleben konnten! Ein Wahnsinn! Vollkommen abgeschnitten von der realen Welt! Ob man überhaupt noch von Überleben sprechen konnte, wenn man gar kein Leben mehr führte?“ 

Aber wer war Justus denn selber, irgendjemandem zu sagen, was Glück sei?  Wer war er denn, irgendjemandem vorzuschreiben, wie man ein gutes Leben zu führen hatte?
So eine bittere Einsicht! Aber vielleicht war sie auch nur für Justus bitter, denn wenn er sich selber einmal genau anschaute, hatte er ja auch nicht so sonderlich viel, um darauf stolz zu sein! 

(Eigentlich bezog er seinen Lebenssinn eben so stark wie einer, der nur Computerspiele spielt, aus der Lösung künstlicher Probleme. Denn wirkliche Probleme, die hatten doch die wenigsten, mit denen er sich umgab. Alle Probleme um ihn und die anderen westlichen Großstädter herum waren ja selbst ausgesuchte Probleme, denn - mal ehrlich! - wer war dort schon einmal wirklich in der Gefahr gewesen, zu verhungern oder zu verdursten? Oder wessen Leben war schon einmal wirklich bedroht gewesen? Vielleicht kam mal ein  Autounfall vor oder so, aber das war ja Zufall, das konnte ja jeden erwischen - für einen Autounfall muss ja niemand arm geboren sein!)

Also, etwas wirklich Schlimmes - „offiziell“ schlimm - wie man sagen könnte, das war wirklich noch keinem um Justus herum passiert. Da war das größte Debakel der Tod der Eltern, und das war ja nichts Außergewöhnliches - das war nur ein weiteres Problem, durch das jeder einmal durch muss. 

Aber solange das einzige Problem ist, dass man Leitungswasser statt „Latte Macchiato“ oder Bier statt Cocktails saufen muss, da sollte man doch den Mund halten statt über das Leben anderer zu urteilen. Wenn das Interessante eines Menschen darin besteht, dass er Erfahrungen gemacht hat und interessante, außergewöhnliche Probleme gelöst hat, dann sollten verlauste Großstadtgören wie Justus und Emma und Steffi mal ganz leise sein.
„Tatsächlich“, dachte sich Justus, „tatsächlich war Maik da eine Ausnahme, denn der hatte wirklich Probleme!“

Es wusste eigentlich jeder, dass es ihm selbst gut ging, aber trotzdem rannte man durch die Strassen und tat so, als hätte das eigene Handeln irgendeine Wichtigkeit. Aber tatsächlich: Wichtiger als das Handeln eines Computerspielers war es nicht, und schlimm war die Einsicht, dass die dekadente Boheme des Westens im Niedergang begriffen war im Vergleich zu den Menschen mit den Computern, denn tatsächlich: Wollte irgendwer behaupten, die Zukunft würde von Menschen gestaltet werden, die sich mit Gefühlen statt mit Technik auskannten? 

Insofern war es schon in Ordnung mit dem Maik da vorne, weil - das musste man so sagen, auch wenn es weh tat -: Die Zukunft gehörte Leuten wie ihm, und damit musste ja ein jeder erst einmal klarkommen. Und die Art, in der Justus damit klarkommen würde, war auch schon relativ klar: Zurücklehnen und sich freuen, dass keiner mehr etwas von ihm wollte, dass keiner mehr etwas von ihm erwartete. Ein super Gefühl, wenn alles, was übrigbleibt, die Chance ist, alle um einen herum positiv zu überraschen!

"Wir müssten langsam mal tanken!" sagte Steffi, schlug den Blinker nach rechts ein, und verließ die Autobahn in Richtung Tankstelle, schaltete herunter, rollte im Leerlauf zur Tanksäule und kam neben einem alten Mercedes zu stehen. Neben dem Fahrzeug stand eine Frau, die gerade versuchte, den riesigen Dieseltankstutzen in die viel zu kleine und enge Zuleitung des Tanks zu stecken. Sie rutschte ab, warf lachend den Kopf in den Nacken und wandte den Kopf dann in Richtung Justus, der hinten in Steffis pinkem Fiat Panda saß, und schaute ihm genau in die Augen. Er rutschte zur Seite und verschwand nahezu komplett hinter der Türverkleidung der Rückbank, schaute nach oben und sah, wie Emma ihn seltsam ansah. Steffi stieg aus dem Wagen, umrundete die Motorhaube und öffnete den Tankdeckel, führte den normalgroßen Normalbenzinstutzen ein und drückte so fest, dass das Benzin in den Tank sprudelte.

Maik öffnete die Beifahrertür des Wagens und stieg aus. Er stand neben dem Fahrzeug und blickte sich um. Es nieselte leicht, und er überlegte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, den anderen von Krüger zu erzählen, und ob er nicht tatsächlich großen Ärger mit seinem Clan bekommen würde, wenn er Krüger vor den Kopf stieß. Aber auf der anderen Seite: Er hatte mit Krüger zusammen schon große Kämpfe bestritten, mächtige Gegner besiegt und auch schon, wenn auch nur virtuell, mit ihm zusammen so gesoffen, dass sie beide nicht mehr stehen konnten. Besoffen im Internet, aber nüchtern in der Realität zu sein, das fühlte sich immer ein wenig dumm an. Besser war es, in Wirklichkeit besoffen zu sein und im Internet nüchtern, und eigentlich war es am besten, immer besoffen zu sein, also sowohl Online als auch im RL.

Zusammengefasst: Krüger würde damit klarkommen müssen. Steffi wäre mit Sicherheit beeindruckt, dass er so einen Prominenten wie Krüger kannte, und die anderen - naja, was willste machen -, die gehören halt dazu. „Eine Hand wäscht die andere!“ dachte sich Maik, und bestimmt würde sich das alles noch mal auszahlen! 

Er schaute hinüber zum Mercedes und sah die Frau, die ihn betankte, und er sah Steffi, die das gleiche mit dem Fiat Panda machte. "Scharf!" dachte er bei sich und betrat den Tankstellenshop, ging zum Verkäufer und bezahlte das Benzin, ging wieder hinaus und setzte sich ins Auto, in dem Steffi und Emma und Justus bereits warteten. 

"Danke!" sagte Steffi.
"Woher hast du denn eigentlich Geld?"
"Ich habe viel Geld!" sagte Maik.
"Ich habe viel Geld!"
Steffi zündete den Motor, schaltete in den ersten Gang, trat mit ihren Chucks auf das Gaspedal und gurkte los und fuhr zurück auf die Autobahn in Richtung Süden. Regen pladderte gegen die Scheiben des Autos, und Justus schlief ein.

Als er wieder erwachte, hatte sich die Umgebung verändert. 
Die Sonne ging gerade auf und lugte über einen der Berggipfel, die nun am Horizont aufgetaucht waren und auf denen - wie durch ein Sieb gedrückter Puderzucker - Schnee lag. 

Manchmal, wenn man durch die Frontscheibe eines Autos die Autobahn hinunterschaut, dann weiß man ja gar nicht, was jetzt echt und was nur Himmel ist. Die Berge, die Justus links und rechts sah, erschienen mit all dem Schnee heller als der Himmel, und so zeichnete sich vor dem Sonnenaufgang der Himmel ab wie ein riesiger Baum, der direkt vor ihnen am Ende der Autobahn stand. Der größte Baum der Welt! 

Wie schön das alles war, mit dem Schnee! Es war lange her, dass Justus Schnee gesehen hatte, und Schnee in der Stadt, das war ja nichts Gutes, das hatte überhaupt keine Vorteile, außer den Sound vielleicht. Der Sound in der Stadt, der war nämlich gut, wenn Schnee gefallen war, keine Frage. Alles klang dann immer ganz gedämpft, und eigentlich klang die ganze Stadt dann wie das eigene Wohnzimmer oder die eigene Küche. 

„Deswegen sind die Menschen immer so freundlich, wenn Schnee gefallen ist: Alle denken, sie wären bei sich zu Hause. Und zuhause, da ist man zu Fremden ja immer freundlich! Bei den meisten Menschen ist es ja so: Je besser man jemanden kennt, um so unfreundlicher ist man zu ihm, wenn man zuhause ist und um so freundlicher, wenn man unter anderen Menschen ist!“ dachte sich Justus und starrte weiter aus dem Fenster. 

Die Sonne stieg weiter herauf, und die kleinen Schatten, die die kleinen Grate und Felsvorsprünge warfen, bewegten sich - etwa so wie bei einer Sonnenuhr. Es war unglaublich, wie man die Zeit hier an den Bergen sehen konnte! Wenn einer Bremen gewöhnt ist, dann ist es schon seltsam, so etwas wie das hier zu sehen, und der Bremer fragt sich schon manchmal, was denn der große Vorteil am Norden sein soll. Und viel mehr als dass man im Norden besser Fahrrad fahren konnte, fiel Justus jetzt auch nicht ein.

Maik saß auf dem Beifahrersitz und schaute auf seine Schuhe. Steffi saß am Lenkrad und schaute auf die Straße. Emma saß hinten und schaute aus dem Fenster, und Justus sah, wie sie die Fensterscheibe berührte.
Justus machte es ihr nach, und er war erleichtert als er merkte, dass er wirklich in einer schönen Welt herumgefahren wurde und nicht nur vor einer Fototapete in irgendeiner Kneipe in Bremen aufgewacht war. Tatsächlich -nein, wie schön! Ein Glück! Alles echt, alles richtiger Schnee! 

Ein Wahnsinn!

Steffi schaltete das Radio ein, und da sang jemand:


„Dei hohe zeit is lang vorüber
und a die höh' hast hinter dir
von ruhm und glanz is wenig über
sag ma wer ziagt no den huat vur dia
ausser mir“

„Mach’ lauter!“ sagte Justus, und Steffi machte lauter.

„Do kann i moch'n wos I wül
Do bin i Herr do kea I hin
Do schmützt des Eis von meiner Sö
Wia von am Gletscher im April
A wenn ma's schon vergessn ham'
I bin dei Apfel du mei Stamm.

So wia dei Wasser talwärts rinnt
unwiederstehlich und so hell
fast wia die Tränen von am Kindwird a mei Bluat auf amoi schö
Sog i am Mensch der Welt vio stolz
und wann ihr woits a ganz allan 

Do kann i moch'n wos I wül
Do bin i Herr do kea I hin
Do schmützt des Eis von meiner Sö
Wia von am Gletscher im April
A wenn ma's schon vergessn ham'
I bin dei Apfel du mei Stamm.“

I AM FROM AUSTRIA! 


Laut schallte das Lied aus dem Auto, während sie ins Tal einbogen.
An der Strasse standen vier schöne Österreicher.
Einer sagte:
„Jo, so sans hoid, di piefkes!“ 




Tag 13 (23.2.2012)


„Ich bleibe oft lange auf, trinke viel und schäme mich für uns alle!“


„Ach Gottchen - Österreich!“ dachte sich Justus auf der Rückbank von Steffis pinkem Fiat Panda.

 „Ach Gottchen – Österreich!“
„ Herrlich!“

Das war nicht das erste Mal, dass er das hier alles erleben durfte, so schön wie es war. Und das war es tatsächlich im Vergleich zur Norddeutschen Tiefebene, in der er geboren worden war. 
Der eigentliche Unterschied bestand hauptsächlich in der Topografie, zumindest in den bergigen Regionen.
Am Fuße von Bergen aufzuwachsen, das war schon etwas Besonderes, das war so ein Gefühl von Geborgenheit. Im Grunde genommen das Gleiche wie ein Kinderzimmer mit Ausblick auf eine Wand in einem Hinterhof, nur halt eine wunderschöne Wand - ein Berg eben, oder eine schöne Wand, auf die man immer und immer wieder schauen konnte.

Häuserschluchten und wirkliche Schluchten oder auch Täler - in ihnen zu wohnen sprach ein ähnliches Gefühl an, nur das man auf Berge hinaufklettern konnte - die Möglichkeit bestand jederzeit. 
Die Möglichkeit, auf das Mehrfamilienhaus gegenüber in der Großstadt zu klettern, bestand zwar auch, aber das machten dann doch die wenigsten, was daher kommen mag, dass die Stadtbevölkerung im Grunde ihres Herzens sehr viel langweiliger ist als die alpine Dorfbevölkerung. 

In der Großstadt, da ging man nicht mal eben hinüber, um zu klingeln, um zu gucken, wer da denn so wohnt. Einfach mal eine Zeit damit verbringen, sich die Gegend von oben anzugucken - in den Bergen tun sie das durchaus!

Man tat es halt viel zu selten, aber die Möglichkeit, die war immer gegeben - aber irgendwas kam ja dann doch immer dazwischen. Man macht ja doch nie das, was gut für einen wäre, wenn man nicht damit aufgewachsen ist. Ärgerlich, aber: Ist halt so! Was willste da machen?

Tatsächlich war es das erste Mal seit Jahren, dass Justus sein Zuhause verließ, seine Heimat, wenn man so wollte. Man denkt da ja oft daran, wegzugehen, für eine kurze Zeit oder für eine lange. Wer träumt denn nicht davon, alles hinter sich zu lassen? Oder, vielleicht nicht alles hinter sich zu lassen, aber – was ja auch schon schön wäre - nur die guten Sachen mitzunehmen und die schlechten daheim zu lassen! 

Eigentlich kann man Mietnomaden ganz gut verstehen, weil irgendwo in sich drin, da ist ja eigentlich jeder ein Mietnomade, allemal was die Gefühle angeht, weil: Wenn einer stirbt, sprich: aus seinem Körper auszieht, dann ist zwar meistens die Wohnung, in der er stirbt, aufgeräumt, aber im Körper und im Kopf drinnen, da ist ja alles unaufgeräumt, da ist ja bei weitem nicht alles geklärt, wenn man stirbt.

Da ist es ja meistens eher so, dass es einem ziemlich egal ist, wie es in ihm aussieht, weil: Wenn du stirbst, dann ist das mit der Unordnung ja egal. Wer wohnt schon noch in deinem Körper, wenn du tot gehst? Maden und Würmer. Und die räumen bei sich zu Hause ja auch nicht auf!

Sagt man ja so: Das letzte Hemd hat keine Taschen, und man sagt ja auch, dass das einzige, was von einem nach dem Sterben noch bleibt, dasjenige ist, was man verschenkt hat. Und wenn einer sowas sagt, dann wird das von den Hinterbliebenen ja als weise oder wenigstens als klug empfunden.

Aber sag zu deinem Vermieter mal: „Ach, wissen sie, ich zieh’ aus. Bei mir zu Hause, da sieht es ziemlich übel aus, aber ich schenke ihnen meine Sachen einfach, weil ich das alles nicht mehr brauch’ und ich gerne nur mit frischer Unterwäsche und ein paar Wechselhemden umziehe!“ 

Da musst du dir dann mal das Gesicht von dem Vermieter anschauen - das findet der gar nicht lustig. Da sagt auch keiner: „Mein Gott, was für ein kluger und weiser Mieter!“ Da sagt der Vermieter eher zu seiner Frau: „Schatz, such mal die Nummer von RTL2 heraus - wir haben da was für die Schweine!“

Justus schaute aus dem Fenster des Autos. Langsam war es tatsächlich sehr hell draußen geworden, und die schneebedeckten Berge spiegelten das Licht auf die Straße. Es war eisig kalt, das sah Justus an den weiß qualmenden Auspuffen der Fahrzeuge vor ihnen, die sich ebenfalls mühsam in die Höhenregionen der Alpen schleppten. 

Ein Wasserfall versuchte von einer Steilwand zu stürzen, aber ließ sich von der Eiseskälte aufhalten und stand jetzt einfach so gefroren in der Landschaft herum, so als hätte er sich nach einem anstrengenden Jahr gedacht: "Es reicht jetzt aber auch mal, ich muss nicht immer ein schönes herunterfallendes Wasser sein - ich mach’ jetzt mal Pause. Ich mach’ das nächstes Jahr fertig!" 

Maik, der vorne im Auto neben Steffi saß, zückte sein Telefon und schaute in den Routenplaner, drückte ein paar Tasten, und sogleich fing eine Stimme an zu quatschen, dass sie rechts abfahren sollten.

Es war nicht die typische Navigationsstimme, die sie im Auto hörten, sondern eine mächtige, tiefe Stimme, die vor lauter Hall kaum zu verstehen war:

„HÖRT IHR SCHLECHT? FAHREN SIE JETZT RECHTS AB. SIE HABEN GLEICH IHRE BESTIMMUNG ERREICHT!“

„Was ist denn das für eine Stimme?“ fragte Steffi

„Tz, tz, tz!“, sagte Maik arrogant überlegen.

„Irgendwann“, antwortete er, „irgendwann haben sie mal eine Umfrage gemacht, beziehungsweise haben sie tausend Menschen darum gebeten, sich mal vorzustellen, wie Gott klingen würde, wenn er direkt mit ihnen reden würde. Fast alle haben ihre Stimme ganz tief gemacht und gesagt: „Ich glaube, wenn Gott redet, klingt das immer, als würde er in einem riesengroßen, verlassenen Hallenbad sitzen! 
Dann haben sich so App-Programmierer überlegt: ‚Das kommt ja gut!’

Normalerweise hört ja kaum einer auf diese automatischen Ansagen.
In den Achtzigern haben die meisten Straßenbahnen ja schon ihre Ansagen umgestellt von Männer- auf Frauenstimmen, weil man immer eher drauf hört, wenn die Mama was sagt, als wenn der Papa was sagt. 

Aber das ist ja mit den vielen alleinerziehenden Vätern auch anders geworden - da muss man dann halt manchmal auf den Papa hören, als wäre er eine Mama. Also, was willst du machen: Du brauchst ja eine Stimme, die alle ernst nehmen, falls es mal brennt oder der Krieg anfängt oder halt auch, wenn so ein Navigationsgerät mal wirklich will, dass man nach rechts fährt, weil: So ein Navi, das kommt sich ja auch dumm vor, wenn es immer sagt: ‚Rechts, rechts, rechts!’ Und jeder Mensch glaubt: ‚Pah! Das weiß ich ja wohl besser, Computer - ich bin ein Mensch und du kannst mir gar nichts!“ sagte Maik.

Von hinten schaltete Justus sich ein:

“SCHAU DICH UM, GOLDENER ROBOTER, SIEH DIE HERRLICHKEIT DES MENSCHEN, DEN KRISTALLKLAREN SOUND SEINER STIMME, DEN VERSTAND, DEN GEILEN BODY. GOLDENER ROBOTER, SO KANNST DU NIE, SO WIRST DU NIE SEIN KÖNNEN. DENN WIR, WIR SIND DIE MENSCHEN. UND WIR, WIR SIND UNBESIEGBAR!”

„Richtig“, sagte Maik, „so sind sie ja manchmal drauf, die Menschen. Und wenn sie schon keine Angst mehr vor Robotern haben, dann ist die Idee ja sehr gut: Man nimmt die Stimme von Gott im leeren Hallenbad auf. Da hört ja jeder drauf, weil: Glauben, das will ja jeder gerne. Und weil: Glauben an Gott, das tut ja jeder, dem keiner die Chance gegeben hat, mal anständig an ihm zu zweifeln!“
„Ich“, sagte Maik, „ich hab jetzt die Stimme von Gott für das Navigationsgerät und für meinen sprechenden Terminkalender, weil ich oft keinen Bock habe, Sachen zu machen, die ich mir schon lange vorgenommen hatte. Wenn dann aber die Stimme von Gott zu mir spricht, da kann ich nicht anders, weil: Mit Gott zu streiten, das bringt nichts. Frag’ mal die Verrückten im Irrenhaus!“

„JETZT AUF DER RECHTEN SPUR BLEIBEN UND IN RICHTUNG LASCHENNIPPELBERG ABFAHREN!“ gröhlte Gott quer durch das Auto - so göttlich, dass Emma auf der Rückbank endgültig aufwachte.

„Wo sind wir denn?“ fragte sie in die Runde.
„Krüger hat mir geschrieben“, antwortete Maik.
„Wir fahren hier auf den Parkplatz - unten an der Talstation liegen Skioveralls für uns bereit. Krüger schreibt, wir sollen die anziehen, erstens weil’s kalt ist da oben, und zweitens, weil er jeden erschießt, der sich ohne diese speziell gefärbten und designten Overalls seinem Haus auf dem Berg nähert!“

„Erschießen? Soso!“ sagte Justus und wollte sich damit über Maik lustig machen, aber tatsächlich hatte er schon mal darüber nachgedacht: „Wenn nämlich mal Krieg ist, dann ist aber hier im Westen ganz schön was los. Wenn sonstwo auf der Welt Bürgerkrieg ist, dann ist das anders als hier, weil: Da sind sie dann irgendwie skrupelloser und schicken irgendwelche Kinder mit Kalaschnikows in den Dschungel, und die haben dann Angst und verstehen gar nicht, was sie da tun und rennen einfach planlos rum und ballern sich auf irgendeine Art und Weise gegenseitig um. Und denen wird das ganze Leben versaut, weil: Auch wenn der Krieg zu Ende ist, haben sie ein Trauma, und was sie da getan haben, als Krieg war, das verstehen sie bis sie sterben nicht. 

So wie im Zweiten Weltkrieg hier in Deutschland haben ja auch alle gewusst, was passiert, aber verstanden haben sie es ja bis zum Ende nicht - also nicht Kriegsende, sondern Lebensende, und wenn ein Mensch mal einen anderen erschossen hat, dann ist das mit dem guten Leben ja auch vorbei. Musste ja immer dran denken! Da ist dann nichts mehr mit Unschuld und eine gewisse Menge Kindlichkeit bewahren. Wenn du willst, dass einer ganz schnell erwachsen wird: Knarre in die Hand, Feind vor die Flinte, abdrücken und ‚good bye’ schöne Kindheit! 
„Schockreife“ nennen das die Psychologen.

Aber das ist heute und in der westlichen Computerwelt ja irgendwie anders, weil die ganze Jugend zuhause sitzt und übt für den Krieg: Die sitzen da und bilden freiwillig militärische Überfallkommandos, sitzen stundenlang rum und machen Strategien und sprechen sich ab und sind unglaublich organisiert. Da waren Hitlerjugend und Militärakademie ja Haupt- und Sonderschule dagegen!

Wenn da einer kommt und sagt: „Jetzt ist Krieg in Deutschland!“, dann springen die ja auf und wissen - zumindest theoretisch - was sie tun müssen! 

Weil: Lustig ist ja, das ist ein besonderer Blick, den die entwickelt haben, so eine spezielle Ansicht auf die Straßen und Häuser, in denen man sich im Alltag halt so aufhält.
Graffiti-Leute kennen das, Skateboarder kennen das auch: Die gucken dann, was man anmalen kann oder wie man wo auf dem Skateboard hoch und runter fahren kann, aber die mit den Computerspielen, die gucken immer, wo kannste dich verstecken, wo ist gute Deckung, von wo kannste wen gut erschießen, wo müssen die anderen Soldaten hin, um so einen Krieg zu gewinnen?“
„Gruselig!“ dachte Justus noch und schaute weiter aus dem Fenster in die Berge hinein und musste an die österreichischen Gebirgsjäger denken, die immer wieder in Umfragen zur besten militärischen Sondereinheit weltweit gewählt wurden. 

Wer solche Umfragen startete, war natürlich immer wieder fragwürdig: Bestimmt die Leute, die immer in Fußgängerpassagen stehen und Umfragen machen.

„Junge Dame, sagen sie doch einmal, was ist ihre liebste militärische Sondereinheit?“

„Die Gebirgsjäger!“

„Ja, das sagen viele!“

„Und Mossad!“

„Ja, sagen auch viele, also insgesamt: Die hier in Deutschland eher nicht!“

„JETZT ENDLICH RECHTS!“ schrie jetzt das göttliche Navigationsgerät in Maiks Handy, und Steffi bog von der Autobahn in Richtung Talstation Laschennippelberg ab. Sie fuhr auf einen Parkplatz, die Sommerreifen drehten durch, und sie kam in einer Parkbucht zum Stehen. 

Maik öffnete die Tür, setzte einen Fuß aus dem Wagen und wollte aufstehen, doch rutschte sein Fuß aus und ließ ihn aus dem Auto fallen - halb überschlug er sich und kam mit dem Kinn auf dem Beifahrersitz zum Liegen. 

„SIE HABEN IHRE BESTIMMUNG ERREICHT!“ schrie das Telefon, dass er noch in der Hand hielt. Er rappelte sich hektisch auf und schaute auf das Smartphone in seiner Hand. 

„Krüger hat geschrieben. Wir müssen erstmal in die Station zu den Schließfächern. Das muss irgendwo dahinten sein!“ sagte er.

Steffi stieg aus dem Wagen und klappte ihren Vordersitz um, damit Emma und Justus das Fahrzeug ebenfalls verlassen konnten. Alle liefen um das Auto herum und standen vor der Hinterklappe des pinken Fiat Panda. 

Als Justus die Heckscheibe in der Reflektion der Sonne gedankenversunken noch einmal genau anschaute, bemerkte er, das dort noch die letzten Klebstoffreste eines alten „Böhse-Onkelz“- Aufklebers klebten, und - da hatte er noch gar nicht drüber nachgedacht -:  Wenn er jetzt durch die Rückscheibe hindurchschaute, sah er durch die dezenten Klebereste hindurch die „Diddl-Maus“ auf der Hutablage sitzen, und wirklich: Auf eine wirklich gruselige Art war es ja ein Schlag Mensch, der „Diddl-Mäuse“ und die „Böhsen Onkelz“ sympathisch fand! 

Ein „Onkelz“-Fan, der sich zu sehr betrunken und dann irgendwen  tot geschlagen hat, schenkt seiner Freundin, meist auf dem Lande, um sie um Verzeihung zu bitten, eine „Diddl-Maus“ von der Dorftankstelle  mit einer dieser „Liebe ist...“-Karten aus der BILD. Da schreibt er dann auf die gepunktete Linie hinter dem „Liebe ist“: „Liebe ist, wenn ich dich nicht auch tot schlage, weil ich dann obdachlos wäre!“ und überreicht das alles zusammen mit einer einzelnen roten Rose.

„Diddl“ ist alles, was dem Nationalisten noch bleibt, wenn er sein Junggesellendasein aufgibt!

Justus stand zusammen mit den anderen auf dem verschneiten Parkplatz, hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und war seinem Leben dann doch dankbar, weder in „Diddl“ noch in Dummheit einen Hafen gefunden zu haben. 

„So was geht schnell,“ dachte er sich. „Zum Beispiel, wenn einer sich über Dialekte lustig macht, dann ja immer nur so lange, bis er sich in einen Menschen mit Dialekt verliebt, denn die Liebe - da kannste ja nichts machen -,die ist einfach so!

Wenn ein Mensch die Schwulen hasst, dann kann er nur solange hassen, bis er einen trifft, der zu toll ist, um ihn zu hassen, und wenn einer die Schwarzen nicht mag, der muss nur mal ohne seine dummen Freunde in die Lage gebracht werden, von Idioten ungesehen sich vergucken zu können. Dabei ist der Liebe das ganze Rumgebumse und Geflirte und Gesexel (BILD) ja egal. 
Die Größe einer Liebe kann man ja direkt daran messen, wie egal ihr etwas ist.

Liebe und Sex lassen sich ja nur so einfach vertauschen, weil mal jemand gemerkt hat, dass sich mit Sex mehr Geld verdienen lässt, weil: Die Liebe, die braucht kaum käufliche Hilfsmittel. 

„Vielleicht ist das Wort Liebe ja auch einfach nur ausgelutscht!“ dachte sich Justus. Vielleicht war das der Grund, warum Justus immer der Meinung war, das ihm „cool“ wichtiger wäre. „Cool“ war für Justus gleichbedeutend mit Liebe. Eine unabschirmbare Kraft, die jedem innewohnt, der sie zulässt, weil es ihn nicht mehr juckt, was die anderen sagen. 
„Ins ‚cool’ sollte man sich nicht reinquatschen lassen. Genauso wenig wie in die Liebe!“ dachte er sich und schaute Emma an, die fröstelnd neben ihm stand.

Maiks Handy quatschte wieder los:

„LOS, ICH HAB EUCH DAS LEBEN NICHT ZUM RUMHÄNGEN GESCHENKT!“ quäkte die Gottstimme aus dem Telefon, und Justus wollte Maik das Ding aus der Hand reißen und in die nächste Gletscherspalte schmeißen. Doch der zog die Hand zurück und Justus griff ins Leere. 

„HA!“ rief Maik.
„HA!“

„Ach, leck' mich!“ sagte Justus und hatte - wenn er sich diesen Typen ansah - all die netten Liebesüberlegungen wieder vergessen. 

Die einzige noch unbesiegbarere Macht als die Liebe blieb immer noch der Alltag und die nahezu unendliche Menge an Idioten auf dem Erdball!

„Pff!“ sagte Maik. „Du mich auch! Wir müssen gehen! Nerv' nicht!“

Er stapfte los und stieß die Tür zur Skistation auf. Die anderen folgten ihm und durchquerten den Hauptflur, in dem sie fast von den anwesenden Skifahrern umgerannt wurden.

Justus schaute sich um und war wie immer, wenn er sie sah, verblüfft, wie wenig sich die Skifahrer darum scherten, wie sie aussahen. Das war so ähnlich wie im Freibad: Da waren auch alle plötzlich nackt, obwohl sie nur zwanzig Meter von der Strasse entfernt waren, wo sie für ihre Nacktheit wahrscheinlich innerhalb kürzester Zeit verhaftet worden wären! 

Einen Skifahrer würde niemand verhaften! Zum Glück für diese Leute war das mit dem seltsamen Aussehen ja nicht verboten, aber lustig waren sie schon, diese Menschen, die ihre riesengroßen Skistiefel nicht auszogen und wie Cowboys durch die Talstation schritten! 

Es klackerte rund um die Vier herum, als wären sie auf einem Ball, auf den allerdings nur Schwergewichtige mit hochhackigen Schuhen eingeladen zu sein schienen, denn das Geräusch von riesigen Skischuhen:  Es ist schon ähnlich, aber doch nicht das gleiche wie das Geklacker der Stilettos einer stilvollen Dame. 

Ganz verwirrt standen sie im Gang herum, bis Maik den Raum am Ende des Ganges entdeckte, der bis unter die Decke mit Spinden vollgestopft war. 

„Die Nr. 263 ist es!“ rief er und bahnte sich seinen Weg durch die Umkleide, welche, wie es schien, bis unter die Decke vollgestopft war mit Wintersportlern in Unterwäsche und Skistiefeln. Das war absurd genug, um Steffi und Emma zu verwirren und Justus leicht sexuell zu erregen. 

Maik aber hatte nur Augen für den Spind 263. Alle vier drückten sich mit viel Körperkontakt an den halbnackten Sportlern beider Geschlechter vorbei in Richtung ihres Spindes. 

Maik duckte sich zum Zahlenschloss des Spindes 263 hinab und klemmte die Zunge in seinen Mundwinkel. Das war sein typisches Gesicht, wenn er der Meinung war, etwas Hackermäßiges zu tun, obwohl er nur wieder etwas Alltäglich-Langweiliges mit Tasten machte.

Die Köpfe von Emma und Steffi und Justus scharten sich um die Spindtür, Maik drückte die Zahlentasten „4 8 15 16 23 42“. Anschließend berührte er den kleinen grünen Knopf, und die Tür sprang mit einem leichten Summen auf.

Eine Flut von Farben sprang den Vieren aus dem Spind ins Gesicht.

„Nicht dein Ernst!“ sagte Justus.
„Quatsch nicht! Welche Farbe?“ sagte Maik und nahm die vier quietschbunten Dinger aus dem Spind: Vier Overalls mit den dazugehörigen Helmen und großen, puscheligen Schuhen.

„Nein!“ sagte Justus.

„Man, jetzt nerv nicht, ich bin nicht bis nach Österreich gegondelt, um mir Dein Genörgel anzuhören! Ich nehm’ Gelb!“ sagte Steffi.

„Ernsthaft, sei mal nicht so eitel, du Vogel!“ lachte Emma und drückte ihm den lilafarbenen Anzug in die Hand. „Hier, Lila, da steht Ihr depri Künstlertypen doch drauf!“ sagte sie, während sie schon in Unterwäsche da stand und ein Bein in den roten Overall steckte. 

Maik entledigte sich sorgsam seiner urbanen Tarnkleidung, die er immer noch trug, die aber mittlerweile sehr mitgenommen aussah. Er nahm den mit Backsteinen bemalten Hut ab und platzierte ihn vorsichtig im Spind - dann stieg er in den grünen Overall. Die anderen taten es ihm gleich, legten ihre Kleidung ebenfalls in den Spind und klemmten sich die Skihelme unter den Arm. 

Maik schloß den Spind und schaute auf sein Telefon.

„Gut!“ sagte er. „Wir steigen nun in den Sessellift und fahren zur Bergstation rauf. Wir verlassen die Bergstation in Richtung Südwesten, wandern um den Grat herum, und wenn wir dann in Richtung Berggipfel schauen, müssten wir dort schon Krügers Haus sehen. Dann rufe ich an, und er gibt uns ein Zeichen.“
„Na denn!“ sprach Justus, der jeden Widerstand aufgegeben hatte und jetzt tatsächlich den lilafarbenen Anzug trug. Ihm war das alles zu blöd, um überhaupt noch irgendein Gefühl von Scham verspüren zu können. 
"Bloß weiter!" dachte er sich - vielleicht hörte das ja alles irgendwann von alleine auf!

Sie begaben sich zur Seilbahn, kauften Tickets am Schalter und drängelten sich in ihren wirklich wahnsinnig bunten Skianzügen zu den Gondeln. 

„Bitte setzen Sie ihre Helme auf!“ sagte der jugendliche Liftboy, als die Vier vor den Drehkreuzen standen und auf ihre Gondel warteten. Die Helme! Vor lauter Aufregung hatten sie vergessen, dass sie diese immer noch unter dem Arm hatten! 

„Keine Mitfahrt ohne Helme!“ rief der Liftboy.

Maik im grünen Anzug setzte als erster seinen Helm auf, und erst da fiel ihnen auf, dass oben auf dem ebenfalls grünen Helm ein langer grüner Stachel angebracht war, ebenso auf dem gelben Helm von Steffi ein gelbes langes Schweineschwänzchen, auf Emmas rotem Helm ein großer roter Kreis und auf Justus’ lilafarbenen Helm ein doch sehr auffälliges lilafarbenes Dreieck. 

„HAHAHA!“ lachte der Liftboy, und Justus schaute ihn giftig an.
„Auf die Dinger! Helmpflicht ist Helmpflicht!“ rief der Liftboy dann, und bevor Justus ausfallend werden konnte, kam der Sessellift angegondelt und schlug den Vieren, die nebeneinander standen, in die Kniekehlen und schleppte sie schwankend und knarzend in Richtung Gipfel.

Schön war er schon, der weite Ausblick über die Berge!
Und als Justus nach links und rechts blickte und die bunten Menschen neben ihm sah, hatte er diese Einsicht, die göttliche Vision, dass das Leben eigentlich viel zu albern war, um nicht gut gelaunt zu sein.
Das bedeutete allerdings nicht, dass er in Lage gewesen wäre, gut gelaunt bei dem alpinen Sportalbereien mitzumachen, mit denen Emma und Steffi und Maik jetzt begannen! 

Tatsächlich hatten sie sogar plötzlich irgendwoher eine Flasche Sauren und zwitscherten in bester Aprés-Ski-Manier erstmal einen. „Was soll’s?“ dachte sich Justus und nahm einen tiefen Schluck, als Emma ihm die Flasche unter die Nase hielt.

Der Lift stockte abrupt an der Bergstation - sie stiegen aus, und begannen durch den Schnee zu stapfen, Richtung Südwesten. Sie versanken mit den großen Schuhen, die zu ihren Skianzügen gehörten, kaum im Schnee und liefen eine Viertelstunde um den Grat des Berges herum, bis oben am Kamm ein Blockhaus in Sicht kam.

Maik zückte das Telefon.

„Rufe Krüger an!“ sagte er ins Telefon.

„Rufe Mutter an!“ gab das Telefon zur Antwort, und hektisch hämmerte Maik solange auf der Auflegetaste herum, bis die Stimme aus dem Telefon antwortete: „Nur Spaß - rufe Krüger an!“

„Krüger?“ sagte Maik ins Telefon.
„Krüger, wir sind da!“

Die vier schauten zum Haus hinauf, und eine Tür mit „World-of-Warcraft- Schnitzereien öffnete sich. Ein blasser, dünner, nackter Mann, der eine Schrotflinte bei sich trug, stapfte heraus und näherte sich ihnen den Berg hinunter. Er tapste auf die vier bunt gekleideten Freunde aus dem Club der Spinner zu, zeigte mit dem Finger auf sie, fing schreiend an zu lachen, rief „TIPSY! LALA! TINKY WINKY! PO! - DAS WAR ES WERT!", lud seine Schrotflinte durch, steckte sie in den Mund und drückte ab.

Ein Knall erschütterte den Berg, und mit aufgerissenen Mündern schauten Justus, Emma, Maik und Steffi auf den kaputten Einsiedler, der bis vor ihre Füße gerollt war.
Dann hörten sie ein dumpfes Grollen und hoben den Blick.

Staunend sahen sie die meterhohe Schneelawine auf sich zu rasen.




Tag 14 (1.3.2012)

Träume oder so etwas in der Art


"FUCK!" dachte sich Justus.
Sehr laut dachte er es, so laut, dass er sich albern vorkam, es nicht
laut zu brüllen. 
„Fuck!“ 
Aber wie sagt man: Der Gentleman hält sich auch allein im Dunkeln beim Niesen die Hand vor Nase und Mund. Und auch im Angesicht des bald anstehenden Ablebens brüllt er nicht herum wie ein Gangbanger auf „Tilidin“!
Der Schuss des Einsiedlers donnerte noch über die Schluchten, als
sich das Schneebrett löste und anfing, in Richtung Tal zu rutschen.
Vier Leute in knallbunten Skioveralls standen verloren nebeneinander herum und guckten doof.
Die massive Schneewand raste den Berg hinab. Weiß in seiner
reinsten Form. Nur eine Wand. Eine wahnsinnig laute, sehr, sehr
weiße Wand!
Unaufhaltsam wie ein rauschendes Meer, das beschlossen hat, es
der Evolution gleichzutun und sich dachte, dass es doch jetzt auch
einmal an Land gehen könnte, nur um mal zu sehen, was die
Fische denn wohl damals vorgehabt hatten, als sie ans Trockene 
gegangen waren.
Ein weißes Rauschen zitterte über Justus’, Emmas, Maiks und
Steffis Welt.
Menschen, die von einer Lawine getroffen werden, sagen, es sei wie
ertrinken. Weil man innerhalb von kürzester Zeit bemerke, wie stark
die Natur eigentlich sei. Eine Art von Stärke, vor der zwar immer alle
gewarnt hatten - aber was diese Stärke wirklich bedeutete, das blieb
für jeden abstrakt.
In etwa so, wie der Tod an sich - von dem wusste auch jeder, dass er
mal kommen würde, aber wenn er dann kam, wusste ja auch
niemand, was jetzt genau zu tun war. Wenn man gleich stirbt, dann
weiß auch kaum einer, wohin mit den Händen. Sterben, das ist ein
bisschen so, wie zum ersten Mal ein Mädchen küssen.
Diese übermenschliche Art von Stärke, die jeden menschlichen
Versuch des Handelns einfach lächerlich erscheinen lässt.
Diese Art von Stärke, die man manchmal bemerkt, wenn man in der
Natur steht und einen kurzen wachen Moment hat und für einen
Augenblick in der Lage ist, die ganze Schönheit wahrzunehmen,
weil diese Schönheit so überwältigend und allumfassend ist, dass sie
vergeht, wenn man versucht, sie zum Bleiben zu überreden und
versucht, sie zu verstehen.
Manche Menschen schaffen es, diese Schönheit oft zu sehen, weil
sie nicht mit den staunenden Augen eines Fremden auf die Natur
schauen, sondern mit den Augen des Alltags, mit Augen und Sinnen,
die noch wissen, dass sie dazu gehören und dass sie in der
Natur keine Fremden sind, sondern Geschöpfe unter ihresgleichen.
Das alle Geschöpfe miteinander verbunden sind, das kann keiner
so richtig erfahrbar machen. Das kann nur die Natur. Würde man
sich die mal wieder so richtig angucken, dann würde man schon
spüren, das hinter allem ein Zusammenhang steckt.
Da kommt der Mensch mit Gaia-Theorien um die Ecke und verliert
viele Worte über Nachhaltigkeit, aber was bleibt, sind Leute, die den
Film „Avatar“ im Kino gucken und in erster Linie auf den 3D-Effekt
abfahren. Muss man sich mal vorstellen!
Ein Film beschreibt die Regeln der Natur hier auf der Erde, der
Heimat des Menschen. Ein Film beschreibt die Natur, indem er von
einem anderen Planeten erzählt und dabei technische Tricks
benutzt, um das Ganze realistisch und echt aussehen zu lassen.
Dann ist der Film zu Ende, und die Pärchen, welche im Kino waren,
gehen über betonierte Parkplätze zurück zu ihrem Auto, und dann
sind sie sich einig, dass sie den Film unbedingt noch mal sehen
müssten, weil er ja so zauberhaft wäre. Dann treten sie aufs
Gaspedal und fahren durch den Beton zurück ins Hochhaus.
Der Mensch ist zu dumm, als dass er diesen kosmischen
Zusammenhang anders als mit Kitsch beschreiben könnte.
Es gibt ja keinen großen Streit darüber, was Schönheit ist. Tatsächlich
muss ja jeder, der von Verstand ist, zugeben, dass Schönheit ihren
Ursprung in der Natur hat. Ob in der wahren Natur oder im
schöpferischen Werk des Menschen. Wie aberwitzig muss ein
Mensch denn sein, zu behaupten, die Natur wäre nicht die
Mutter aller Schönheit!

Die schöne Schneewand raste weiter auf Justus und Emma, Steffi
und Maik zu. Dabei hatte sie gar keine überwältigende
Geschwindigkeit, wie sie dort den Berg herunterfloss.
Was viel überwältigender war, war die sofortige Klarheit, dass es
kein Entkommen gab. Nicht links, nicht rechts - es gab einfach
nichts mehr zu tun. Nur noch stehen und gucken. Doof gucken.
Wirklich doof gucken. In etwa so, wie man doof guckt, wenn man
eine interessante Dokumentation über eine Lawine im Internet
guckt.
Als Justus die weiße Wand auf sich zurasen sah, war ihm das
Wort "Lawine" überhaupt gar nicht in den Sinn gekommen. Weil es
eben nur ein Wort war, und nicht das, was eine Lawine eigentlich
war. Aber was war es dann?
Denken ohne Worte, das war für einen modernen Menschen, der
nicht viel kannte außer andere Menschen, natürlich eine
schwierige Frage.
Wenn Worte nicht mehr passen, wenn sie sogar ihre Bedeutung
verlieren, was soll man denn dann tun? Wie denkt man denn, wenn
man keine Worte mehr kennt. Wie ist man denn traurig, wenn man
das Wort traurig gar nicht kennt?
Wie alle Menschen kannte Justus das Gefühl, wenn es für etwas
keine Worte mehr gibt. Nicht, weil sie einem nicht einfallen würden.
Eher, weil sie plötzlich keinen Sinn mehr machten, oder besser
gesagt, weil sie keine Kraft mehr besaßen, irgend etwas zu ändern.
Und tatsächlich fiel Justus das Wort Lawine nicht mehr ein, weil das
Wort ihm überhaupt nichts mehr bringen würde.
Plötzlich hörte er es wieder in seinem Kopf: „La-wi-ne, Lawine“.
Er sprach es langsam im Geiste aus - es klang wie bei einem
Fünfjährigen in der Grundschule!
Manche Menschen sagen ja, es wären die Worte, die Namen, die
uns die Macht über die Dinge geben. Das mag im Kleinen ja
stimmen, aber wenn eine drei Meter hohe Lawine mit geschätzten
zwei Millionen Bruttoregistertonnen, also etwa dem Gewicht von
einer Million Indischer Elefanten auf einen zugeballert kommt,
dann kannst du noch so oft "Lawine-Lawine-Lawine" denken,
besonders mächtig kommt man sich da nicht vor!
Wenn so eine Welle auf einen zurast, dann stellt sich da eine
gewisse Akzeptanz ein, weil  - machen, machen kannste dann eh
kaum noch was!
Justus kannte Naturgewalten nur von Gesprächen mit nervigen
Menschen. Und nervige Menschen konnten nun wirklich auch eine
Naturgewalt sein. Wenn man aus Versehen in so ein Gespräch
verstrickt wird, da gibt es ja nicht viele Möglichkeiten, da wieder
herauszukommen. Bei Menschen war oft eine spitze Bemerkung
oder pure Ignoranz oder ein dummer Witz sehr hilfreich, um die
eher nervige Gefahr zu umgehen.
Wenn man vor einer Lawine steht, dann ist das nicht so. Blöde
Witze helfen da wenig!
"Ey, Justus, was ist weiß und stört beim Essen?" hörte er eine
seltsame Stimme aus dem Himmel schreien.
Tatsächlich stand Justus da und wusste eigentlich gar nichts mehr.
Das wäre der Moment gewesen, um sich zu ärgern, dass man im
Internet Videos von süssen Kätzchen angesehen hatte, statt auch
nur einmal die drei Minuten zu investieren, um das Video zum
„Verhalten in einer Lawinensituation“ zu schauen.
Zu spät!
Die Lawine erwischte ihn mit voller Breitseite: Erst schossen ihm die
feinen Eiskristalle wie Nadeln in die Augen, dann knallte ihm die
Schneemasse in den Brustkorb.
Er überschlug sich und sah drei andere knallbunte Figuren, die
kurz vor seinen Augen umherwirbelten, ehe sie sich im Nebel der
Lawine verloren.

EMMA

Als Emma den Schuss des Einsiedlers hörte, kapierte sie
erst einmal überhaupt nichts mehr.
Sie stand da, hatte die Flasche mit dem Sauren in der Hand, da
steckte sich der nackte Mann die Schrotflinte in den Mund und
drückte ab. Sein Blut und was auch immer er da mit dem Schrot
durch seinen Kopf in die Luft geblasen hatte, zerstäubte sich
einfach und verlor dadurch seinen Schrecken. Diesig schwebte
eine sattrote Wolke über ihm, als er in die Knie sank und zur Seite
kippte.
Die Wolke stand einen Moment in der Luft, dann begann sie sich zu
senken. Der klare Sonnenschein brachte die kleinen Tröpfchen zum
Leuchten. Ein kleiner rosa Regenbogen spannte sich dort, wo der
Mann, den Maik "Krüger" nannte, noch vor einer Sekunde
gestanden hatte.
Dann hörte sie langsam das Rauschen, welches schnell zu einem
Grollen und dann zu einem Brüllen anstieg. Dann sah sie, wie sich
eine schwarze Linie quer über den Berg oberhalb der Hütte bildete
und zu rutschen begann. Als sie begriff, dass sie sich konfrontiert sah
mit ihrem wahrscheinlichen Ende, machte sich ihr Geist so schnell er konnte vom Acker.
Tatsächlich sah sie sich selbst von oben, wie sie da vor der Lawine
stand. Sie stieg immer weiter in den Himmel hinauf bis zur Kante
der tief hängenden Wolken, und ohne dass sie wirklich etwas tun
konnte, liess sie sich auf der Kante der Wolke nieder und schaute
ihren Beinen beim Baumeln zu.
Als ihre Beine da so baumelten, fühlten sich ihre Füsse und Knöchel
und die Zehen, mit denen sie jetzt wackelte, kalt an - sie fühlten sich
kalt an, obwohl ihre Beine warm waren!
Das erinnerte sie daran, wie es früher war, in einem See zu
schwimmen, wenn es noch nicht ganz Sommer war. Wenn die
Sonne morgens schien, aber nicht so warm war, wie sie aussah.
Wenn man lächelnd ins seichte Wasser stieg und fast lachen
musste, wenn das Wasser an den Bauchnabel spritzte. Wie wenn
man in diesem See schwamm und aufhörte, sich vorwärts zu
bewegen, nur noch auf der Stelle paddelte und die Beine soweit
herabsinken liess, dass die Füsse die tiefere, kältere Wasserschicht
berührten.
Dieser kurze Moment der Kälte, der im ersten Moment lustig
kitzelte, aber schnell die Beine hinaufstieg, die Oberschenkel
erreichte und plötzlich einem Entsetzen Platz machte.
In dem Moment, in dem die Kälte den Unterleib berührte und einen
auf den Gedanken brachte, dass das Wasser eigentlich nur an der
Oberfläche bekannt und angenehm, doch alles darunter
vollkommen unbekannt war. Was für Monster und Dämonen
konnten sich wohl da unten am Grunde des Sees verstecken?
Dieser Gedanke, diese Angst veranlasste Emma dann immer, zum Ufer zurück zu schwimmen, zu schwimmen, nicht zu strampeln - man soll den
Dämonen ja seine Angst nicht zeigen! Ganz diszipliniert zum Ufer
zurück schwimmen, um bei Ankunft am Strand das Gefühl eines
Überlebenden zu geniessen!
Was sie von hier oben, von der Wolke aus, mit kalten Füssen sah,
war, wie die weiße Wand, auf sie selbst zuraste. Sie sah, wie sie da
unten stocksteif stand und sich nicht regte, neben ihr die drei
anderen in den bunten Klamotten. Sie hatte erwartet, dass ihr das
einen Schock versetzt hätte, vielleicht ihren eigenen Tod zu sehen.
Aber dem war nicht so. Es war eher eine Gelassenheit, die sie
durchströmte. Ein Wissen, dass, wenn sterben so war: auf einer
Wolke sitzen und sich das alles angucken wie Kino, es sich wohl
lohnte, der Welt noch eine Chance zu geben.
Sogar etwas Fideles machte sich breit. Sie legt die Hände an den
Mund und rief hinunter: "Ey, Justus, was ist weiß und stört beim
Essen?"
Sie stützte sich auf die Hände, hob sich selbst ein Stück hoch,
pendelte einmal vor und zurück und stiess sich nach vorne ab,
segelte ein Stück zwischen den Wolken und schlüpfte dann hinab
in ihren Körper, der immer noch da stand und auf die Lawine
wartete.

MAIK

Maik stand da und es war, als hätte ihm jemand einen Headshot
gegeben. Als hätte Krüger ihm einen Headshot gegeben. Krüger aber lag
mit wenig Kopf vor seinen Füssen und starrte ihn mit aufgerissenen
Augen und einem Grinsen im Gesicht an. Maik machte einen Schritt
nach vorne, schob seinen Arm unter Krügers Schulter und hob ihn
ein wenig an, seine zweite Hand lag auf Krügers nackten Bauch. Er
warf den Kopf in den Nacken, starrte in den Himmel und schrie aus
voller Brust: "WARUUUUM???". Dabei liess er den toten Körper sinken, und seine Hand rutschte an Krügers Bauch herunter und glitt über das Glied seines Anführers hinweg. No Homo.
Dann hörte Maik das leise Rauschen, das langsam lauter wurde. Er blickte Krüger noch einmal in die Augen.
"Warum, man, warum denn nur, Krüger? Wir waren so knapp davor,
die letzte Schlacht zu schlagen. Herr ‚Majordomus Executus in
Molten Core’, das war unser Ziel, man, Alter! Da wollten wir doch hin!
Immer haben wir gekämpft, bis zum Ende wollten wir beieinander
stehen, Du, ich, die Gilde - was bleibt denn jetzt noch? Ich bin nichts
mehr ohne Dich. Level 85. Du warst ein Paladin. Du warst mein
Paladin!" rief Maik, der nun gegen die heranrollende Lawine anschreien musste.
"Du warst wie mein Vater. Du hast mich gerettet. Du hast mich da rausgeholt. Aus der ganzen Scheisse! Du hast mir das Leben geschenkt. Ich bin nur ein Schurke, Level 48 – aber ich war Dein Schurke! Ich werde Dich rächen!“
„RACHE!" brüllte Maik der Lawine entgegen, dann riss er seine Hände in die Luft und schrie, weil ihm nichts Besseres einfiel: "Bei der Macht von Grayskull  - ich habe die Kraft!" und hielt dabei eine Zigarette in die Luft, weil er in seiner Tasche nichts anderes gefunden hatte.
Er stand da, die Zigarette in der weit in den Himmel gereckten Hand. Dann öffnete er die Augen wieder, die er voller Pathos geschlossen hatte, und als er die Naturgewalt der Schneemassen auf sich zu rasen sah, dachte er sich nur noch: "Wow - geilste Grafik!"

STEFFI

Als Steffi ihr Ende auf sich zurollen sah, machte plötzlich alles einen
Sinn. Keinen guten Sinn. Aber wenigstens irgendeinen Sinn. Und
das war ja auch schon einmal was! Tatsächlich rauschte ihr Leben
an ihr vorbei, wie wenn jemand an seinem Mausrad drehte und eine
Facebook-Timeline an sich vorbeilaufen ließ. Und als Steffi am
oberen Bildschirmrand angelangt war, stand da nicht: „Was machst
du gerade?“ sondern da stand: „Wofür hast du das alles gemacht?“
Und das war eine schwierige Frage, weil  - warum das alles? Da hatte sie sich ja noch nie Gedanken drum gemacht!
Wofür das alles? Das war ja mal interessant, und das hatte so auch
noch nie jemand Steffi gefragt!
Die Bilder ihres Lebens schossen an ihr vorbei, von den Kindertagen, als noch alles in ihrem Kopf ganz ordentlich und schön war.
Kindheitserinnerungen, die immer so ein bisschen wie sepia und erdfarben wirkten, seit sie einen Film über eine schöne Kindheit gesehen hatte, in der alles so sepia und erdfarben war. Weil ihre Kindheit eher von Neonröhrenlicht als von Erdfarben bestimmt war, hatte sie beschlossen, ihre Kindheit auszutauschen.
Schön war das, aber dann bekam sie doch Angst und suchte wie verzweifelt in ihrer Vergangenheit nach etwas, das ihr irgendwie ein
bisschen Mut oder, ja, vielleicht sogar Hoffung geben könnte.
Menschen, die sie kannte, kamen ihr in den Kopf, aber da war niemand, der mit dem Leben in einer Art klar kommen würde, die Hoffnung versprach. Werbejingles fielen ihr ein. Ihr fielen immer Werbejingles ein, aber diesmal kein passender.
Und dann, plötzlich, fiel ihr etwas ein: Sie hatte sich doch mal von ihrer Mutter überreden lassen, am Konfirmandenunterricht teilzunehmen.
Weil man damit „die Mongos und Versager aus der Verwandtschaft noch mal richtig ausschlachten" könnte, hatte ihre Mutter ihr besoffen vom Sofa aus zugebrüllt, als auf RTL II gerade ein Werbespot für Hoffnung gelaufen war, den Steffis Mutter aber auf lautlos geschaltet hatte.
Also war Steffi da hingetapert, jeden Donnerstag um siebzehn Uhr
und hatte sich vom Jungpfaffen das mit Gott und so angehört; und
 - um Himmels Willen! - war ihr das egal gewesen! Das war die große
Zeit von „Tamagochi“ und Aaron Carter und Schnullern am Rucksack
und „Buffallo“-Schuhen an den Füssen und Vorne-glatter-Scheitel-hinten-
hoch-toupierte-Haare gewesen. Und genauso wenig wie sich Jesus für Mola Adebisi und Nils Bokelberg interessierte, interessierte sich Steffi für Jesus! Und als dann endlich Konfirmation war, hatte sie achthundert Euro bekommen, woraufhin ihre Mutter großen Teilen der Familie ins Gesicht gespuckt und sich selber von den achthundert Euro Kondome und ein BMX-Rad gekauft hatte.
Nein, eine besonders tolle Mutter war Steffis Mutter wirklich nicht gewesen!
"Nichtsdestotrotz - ach Gott, was soll’s!" dachte sich Steffi, faltete die Hände und fing an zu beten:
"Lieber Gott im Him..."
"Ja?" antwortete Gott
"Hä?" machte Steffi
"Was hä? Du wolltest doch irgendwas!" sagte Gott
"Hä?" machte Steffi noch mal.
"Nix hier, hä. Hier ist Gott, was gibt’s denn. Sieht so aus, als würdest
Du gleich sterben, sonst hätten die Dich gar nicht zu mir durchgestellt!"
"Hä?"
"Pass auf! Ich habe viel zu tun. Ich hatte mit knapp achttausend Menschen gerechnet. Jetzt seid ihr acht Milliarden. ACHT Milliarden! Ich hab’ nicht mehr für jeden Zeit. Weißt Du, was das für ein Stress ist? Nein, weißt Du nicht! Also, was gibt´s?“ rief Gott.
„Ähh, ich weiß nicht!“
„Na, das solltest Du aber schon wissen! Rufst Du denn normalerweise
Leute an und weißt nicht wieso?“
„Ähh, nein, mach’ ich nicht!“ sagte Steffi.
„Also, Steffi: Einatmen, ausatmen. Wie in der Schwangerschaftsgymnastik!“
„Ich war noch nie schwanger!“
„Ich weiß, das ist das, was wir hier oben ein Wunder nennen!“
„Hä?“
„Also, mit dem ‚Häh?’ ist jetzt mal Schluss - das führt doch zu nichts!
Was gibt’s denn?“
„Also tatsächlich rauscht hier gerade eine ziemlich riesige Lawine auf mich zu!“
„Ja, das ist stressig, was kann ich denn da für Dich tun?“
„Ich will nicht sterben!“
„Ja, gut, das ist jetzt nicht so was, was man sich unbedingt aussuchen kann. Um ehrlich zu sein, hab ich das ja so gemacht, dass ihr euch das nicht aussuchen könnt!“
„Und jetzt?“
„Hör erstmal auf, so einen Stress zu machen!“
„Ich glaube, Du wärst in dieser Situation auch gestresst!“
„Soll ich Dir mal was von Stress erzählen? Folgendes: Ich hatte
zwei Menschen: Adam. Eva. Ich hab’ die beiden schon nicht
hinbekommen! Und nun - ich kann mich nur wiederholen: ACHT!
MILLIARDEN! Und jetzt erzählt mir die kleine Steffi was von
Stress?“
„Tu was, man, das Ding kommt auf mich zu! Mach was!“ rief Steffi.
„Glaubst Du, ich hab Zeit für so was? Die ganze Zeit sterben
Menschen. Meine Menschen. Jede Sekunde stirbt ein fucking Teil
von mir. Das ist Stress. Was glaubst Du, wie ich das durchhalte?“
antwortete Gott.
„Weiß nicht, Drogen vielleicht?“ antwortete Steffi schnippisch, die
sich trotz ihrer aussichtslosen Lage jetzt langsam genervt fühlte.
„UND OB DROGEN! Glaubst Du, ich könnte das Alles ohne das gute
Kokain durchhalten? Schau die Welt doch an! Ganz am Anfang war
mir langweilig. Ich hab’ Dope geraucht und bin überhaupt erst auf
die Idee hier gekommen. Chillig wollte ich es haben mit der Welt
und den Tieren und den Menschen. Achttausend, dachte ich mir,
achttausend Menschen kannst du handlen. Klingt viel, aber – hey! - ich
bin ja immerhin Gott! Und dann: Guck Dich mal um! Erst waren es
ein paar Millionen, und ihr habt mich schon nicht mehr pennen lassen.
Also hab ich Speed gezogen. Zum Durcharbeiten. Was habt Ihr
draus gemacht? Industrialisierung und Weltkrieg! Da hatte ich noch
Hoffnung, dass Ihr weniger werdet, aber nix, und jetzt seid Ihr acht
Milliarden - ACHT MILLIARDEN! Ihr habt sie doch nicht mehr alle!
Erst Dope, dann Speed, jetzt Koka, und ich hab’s jetzt endlich
halbwegs im Griff mit Euch. Aber erst jetzt, mit Kokain, fällt mir auf:
Ich hab’ das richtig geil gemacht! ICH HAB’ DAS RICHTIG GEIL
GEMACHT!“
„Stimmt!“ dachte sich Steffi. 
„Die ganze Welt ist auf Kokain. Deswegen ist sie so gierig, unsympathisch und immer pleite!“
Der Nebel der Lawine erreichte bereits Steffis Gesicht.
„Ok, ich verstehe das. Ich würde trotzdem gerne noch einen
Moment hier bleiben!“ sagte Steffi in Richtung Gott.
„Klar, das kann ich verstehen!“ antwortete Gott.
„Könnte interessant werden: Ich wollte morgen mit LSD anfangen!“ sagte er und lachte.
Dann knallte die Lawine in Steffis Körper. Sie überschlug sich und sah
die anderen drei Freunde wie Bowlingpins wild umherwirbeln, als
die Schneewand auf sie prallte. Dann wurde es zuerst ganz weiß, dann ganz schwarz und dann wieder ganz weiß. Und wieder schwarz. Wieder weiß. Schwarz. Weiß...
Diep, Diep, Diep, Diep.

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Tag 15 (8.3.2012)

Gott und Himmel und einige grundsätzliche Fehler


Es war ein weißer Raum, einer von diesen Räumen, in denen es keine Ecken und Kanten gibt, weil immer alles so hell ist.

So hell, dass hier nur jemand wohnen konnte, der es in seinem Leben schon ein bisschen zu etwas gebracht hatte: Gutes Elternhaus, gute Erziehung, anständiger Abschluss, fundiertes Grundwissen in Geschichte, Geografie, Kunst und zwischenmenschlichen Beziehungen.

In der Mitte des Raumes lagen vier Gestallten, die mit weißen Leinentüchern verdeckt waren - nur ihre Füsse schauten heraus, und an ihren Zehen hingen Zettel aus Büttenpapier, die an hochwertige Bindfäden gebunden waren. Zettel und Bindfäden, wie man sie sonst nur von den Einmachgläsern teurer französischer Konfiserie-Waren kannte. 

Der Länge nach geordnet lagen die Gestalten nebeneinander, und auf die Zettel waren die Namen geschrieben: Jonas, Falk, Stefania und Oma.
Sie lagen auf Stahlpritschen, und wenn man genau hinsah, konnte man bemerken, dass sich hier und da ein Laken leise hob und wieder senkte.

Gott stiefelte halbwegs gut gelaunt durch sein Zimmer und trug dabei Buffallo-Plateaustiefel an den Füssen - seine Denkstiefel, wie er sie nannte, denn denken hatte für Gott viel mit Humor zu tun, und witzetechnisch war die norddeutsche Kirmes- und Volksfestmode Mitte der neunziger Jahre ja tatsächlich ein Hammer gewesen!

Immer wieder legte er den Finger ans Kinn, ging nach links, dann wieder nach rechts, mal ein Stück nach vorne, dann wieder zurück, dann ein Stück im Kreis, schaute auf seine Füsse, hüpfte einmal und musste kurz grinsen. Dann verzog sich sein Gesicht wieder in ernsthafte Falten, und er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger an der Stirn, kniff die Augen zusammen und grübelte stark.  

Dann wandte er sich zu den Vieren, die da lagen, griff mit beiden Händen nach den Laken, sammelte sich kurz und riss dann in einer magischen Geste mit einem Affenzahn an den Tüchern. Die Tücher flogen von den Gestalten, landeten in einer der Ecken des Raumes und verschwanden im allgegenwärtigen Weiß. 

Der Anblick war schauderhaft: Verdrehte Gliedmaßen, ausgerenkte Hälse und umgeknickte Finger - jede Gestalt für sich ein Bild des Grauens. Entgegen der Idee, die man hätte bekommen können, schien noch Leben in diesen seltsam entstellten Fleischbergen zu stecken, obwohl an ihnen alles vollkommen verquer angeordnet war. Wenn man sie sich so besah, sagte die Logik: Die sind hinüber! Doch das Herz sagte: Da ist noch etwas Leben in diesen Menschen, das ist noch nicht vorbei!

Gott ärgerte sich. Dieses Konzept, dass jeder Mensch jederzeit ohne Vorwarnung sterben konnte - vielleicht war das doch nicht die beste Art, die Welt zu kontrollieren! Eigentlich war das nur ein Konzept gewesen, das er sich irgendwann ausgedacht hatte, weil es einfach ökonomischer war. Er konnte sich ja nicht immer um alles kümmern. Das Konzept "Das Leben findet seinen Weg" war vielleicht einfach nicht mehr zeitgemäß! Allzu oft hatte er hier Leute liegen, die eigentlich zu nützlich waren, um sie einfach so von der Erde abzuräumen und aus dem Leben zu reißen.

Die Idee, die Gott eigentlich gehabt hatte, war ja gut gewesen!

Man drückte bei der Welt auf die große Pausetaste, bereitete alles vor, schusterte sich einen Menschen zusammen, soweit wie es halt ging, so gut wie es halt ins Budget passte, und wenn man fertig war, beziehungsweise, wenn es einem langweilig wurde, dann drückte man auf Start und schaltete auf Autopilot und wartete ab. Wenn’s allzu arg wurde, würden die schon schreien - das Schreien, was die da unten Beten nannten!


Dann konnte man immer noch einschreiten und etwas verändern. Das Problem war halt nur, dass es im Universum nur eine gewisse Menge an Sachen gab, an Materie und an Energie und an allem halt, was ja bedeutete: Wenn man es dem einen gab, dann musste man es den anderen wegnehmen, weil - aus dem Nichts erschaffen, das konnte auch der beste Gott nicht. Woher sollte er es denn wohl nehmen? Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Es war sehr entspannt gewesen, das letzte Jahrhundert, als die Menschen zuerst aufgehört hatten zu beten und dann angefangen hatten, sich die Sachen, die sie haben wollten, einfach gegenseitig wegzunehmen, ohne lange bei Gott nachzufragen. Ja, die achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts waren Wellness für Gott gewesen! 

Aber in den letzten Jahren war ein starker Anstieg von Bet-Aktivitäten festzustellen gewesen, und auch, wenn er da schon lange keine Lust mehr drauf hatte: Es kränkte Gott denn doch in seinem Ego, nicht mehr als real wahrgenommen zu werden!

Er hatte überhaupt keine Lust, sich um die doofen Leute zu kümmern, die sich selber als wiedergeborene Christen bezeichneten, weil sie immer noch in diesem blöden alten Buch lasen, das er mal diktiert hatte und das er seit dem nicht mehr aus der Welt bekam. Ob sie es nun Bibel oder Koran oder buddhistischer Schöpfungsmythos oder Scientology nannten, das waren alles so Dinge, die er sich früher mal ausgedacht hatte und die ihm jetzt so peinlich wahren, wie peinliche Tagebucheinträge aus der frühen Jugend eines Menschen. 

Das war ein Fehler gewesen. Also hatte er sich diese neue Sache ausgedacht: Die Menschen hatten es "das Internet" genannt, und er setzte ein bisschen Hoffnung in die Idee, dass das nicht wieder so ein Ding wie die Bibel und so weiter wäre, für das er sich später schämen würde! 

Für Gott war es sehr schön, sich im Internet in Hilfeforen unter Spitznamen wie „sexyTina1992“ zu verstecken und den Leuten auf diese Art zu helfen, ohne dass ihm jemand auf die Schliche gekommen wäre. Aber noch war die Sehnsucht der Menschen ziemlich ungebrochen, und sie versuchten nach wie vor die Antworten auf ihre Fragen in alten Büchern zu finden. Auf eine doofe Art freute ihn das ja auch ein bisschen, weil - etwas Anerkennung, das war ja nicht schlecht - nur die Art, in der ihn manche Menschen liebten - das grenzte ja schon fast an Stalking!

Sie nannten das Gottesfürchtigkeit und faselten immer von Liebe. Gott fand, dass die Menschen in ihrer Beziehung zu ihm ein bisschen arg klammerten, und das war für die Liebe ja selten gut. 

Eigentlich sah er sich selber nicht so sehr als den Oberegoisten, aber ein bisschen ging es ihm doch an die Nieren, nicht mehr als der Oberboss dazustehen. Schwere Entscheidung! Rumhängen war eine gute Sache: So als ziemlich allmächtiger Gott hatte er aber auch einige sehr interessante Hobbies vorzuweisen! 

Das er den Menschen nach seinem Abbild geformt hatte, hatte sich schon ziemlich selbstverliebt angefühlt; und das schlug jetzt natürlich zurück, denn über wen und dessen Fehler konnte man sich besser aufregen, als über jemanden, der so war wie man selbst und der die gleichen Fehler machte?

Gott zückte sein iPad. Das war ihm peinlich. Ein Gott, der Appel-Produkte benutzte, das passte nicht ins Bild, und hätte das jemand auf der Erde mitbekommen, hätte es bestimmt Ärger gegeben. Aber - es war halt so praktisch, und die Benutzeroberfläche war einfach zu schön! Und die Menschen hatten Recht: „Angry Birds“ war wirklich eine hervorragende Art und Weise, sich vom Altagsstress abzulenken! 

Er rief eine App auf, die ihm die kürzlich Verstorbenen zeigte, und da tauchten schon die vier Namen auf: Justus und Ema und Steffi und Maik, und er schaute auf die Zettel an den große Zehen der vier Gestallten, die in der Mtte des Raumes lagen. Da stand: Jonas und Oma und Stefania und Falk, und Gott wunderte sich. 

Gott schaute auf ihre sehr geschundenen Gesichter und rief mürrisch die Fotos von ihren Personalausweisen auf und verglich die Gesichter, die hier vor ihm lagen. Er riss die Zettel von den Zehen und warf sie auf den riesengroßen Haufen von Zehenschildern, die in der Ecke lagen.

Er ärgerte sich bei dieser Unordnung über sich selbst und wusste, dass es ihn wieder Überstunden kosten würde, die vielen Totenschilder wegzusortieren. Ein bisschen Buchhaltung musste sein, um wenigstens den Anschein von Professionalität hier oben zu wahren!

Apropos Professionalität: So ganz richtig war das nicht gewesen, dass die Vier, die jetzt hier bei ihm im Zimmer lagen, so doof ums Leben gekommen waren, beziehungsweise, ja noch nicht ganz tot waren. Das war gar nicht so gedacht gewesen, mit den Vieren und der Lawine. Was sie natürlich nicht wussten, war, dass Gott gerne mal ein bisschen mit den Naturgewalten spielte, nur um den Menschen zu zeigen, dass er noch da war, einfach nur so, um mal wieder ein bisschen Respekt zu erzeugen.

So wie ein Vater, der manchmal seinem Sohn die monatlichen Banküberweisungen strich, weil dieser sich seit sechs Wochen nicht gemeldet hatte. 

Das war gar nicht böse gemeint gewesen. Das war eher so ein kleiner Denkzettel, der sagte: „Hallo, selbstverständlich ist das alles nicht. Schaut mal in die Sterne, guckt euch mal um - ich kann verstehen, dass man oft busy ist, aber es ist schon wichtig, dass man manchmal ein bisschen dankbar ist - sei es nun dem Papa oder der Natur oder Gott gegenüber!“

Gott schaute auf die vier Menschen, die dort in der Mitte des Raumes lagen. Er schritt hinüber zum Kopf von Steffi, die dort sehr verbogen lag und sich wortlos und ziemlich verplant umschaute. Die Arme hinter dem Rücken mit den Beinen verknotet, die Schultern ausgekugelt, so dass die Schulterblätter sich in der Mitte des Nackens berührten, die rechte Gesichtshälfte auf den Metalltisch gepresst und die großen Zehen fast in den Ohren. 

"Ganz verdreht sieht sie aus, das muss doch weh tun!" dachte sich Gott, und das blöde bei Gott war ja: Mit dem Denken, das war aufgrund der Allmacht so eine Sache. Einfach denken war da nicht - wenn Gott redet und man daneben steht, dann war da immer diese grollende Stimme!

Er beugte sich umständlich über den Tisch und fasste Steffi an den Knöcheln, zog sie hoch und schüttelte sie kräftig aus, so wie man morgens seine Bettdecke ausschüttelt, damit der Inhalt der Decke wieder an die richtige Stelle rutscht. Ein, zwei Mal schlug er Steffi aus, bis sie polternd wieder auf der Metalliege zurück fiel. Dann machte er eine magische Bewegung, er überkreuzte die Arme und riss die Arme nach oben, denn: Über ihm war ja nur noch oben, weil der Himmel, das ist für Gott ja unten! 

Steffi öffnete die Augen. Ihre Lippen bewegten sich.

"Lawine!" sagte Steffi.
"Lawinen sind weiß und stören beim Essen!"

"Was?" fragte Gott.
"Ach so, ja, das stimmt. Lawinen sind weiß und stören beim Essen! Hallo Steffi!
Ich bin’s, Gott! Was geht ab?"

"Hä?" machte Steffi

"Folgendes, Steffi: Es tut mir leid!"

Steffi rollte sich auf die Seite und schaute Gott mit ganz verschlafenen Augen an, und ihre Stimmung hellte sich auf, denn sie mochte es gerne, mit einer Entschuldigung geweckt zu werden. Am besten mit einer Entschuldigung für etwas, das sie gar nicht wahrgenommen hatte. Das gab doch gleich Oberwasser für den Tag!

"Ja, das sollte Dir auch leid tun!" murmelt sie ganz verschlafen, verschlafen und berechnend.
"Aber wirklich mal leid tun!"

"Weißt Du überhaupt, mit wem Du redest?" fragte Gott und ging in die Knie, um Steffi in die Augen zu schauen.
"Du wachst ja öfters mal nackt neben jemandem auf und weißt nicht, wer es ist!"

"Keine Ahnung. Mit Gott rede ich wahrscheinlich, das hast Du doch grade gesagt, und wir hatten doch eh vorhin geredet! Wo bin ich denn?" fragte sie.

"Du bist im Himmel!" antwortete Gott.

"Wenn das hier der Himmel ist, warum fühle ich mich dann immer noch fett und bin nicht betrunken?" antwortete Steffi, rieb sich die Augen, richtete sich ein Stück auf und bemerkte, dass sie einen mordsmäßigen Muskelkater hatte. 

"Pipapo!" sagte Gott.
"Hör’ mir zu: Du bist hier im Himmel, aber das mit der Lawine, das war mehr so ein Unfall. Ich war gestern ein bisschen „druff“ und hab’ Quatsch gemacht. Du solltest eigentlich nicht tot sein, deswegen fühlst Du Dich auch nicht tot. Diese Lawine, das war keine Absicht, und ich will das wieder gutmachen! Hast du einen Wunsch?"

Steffi schaute sich um und entdeckte ihre verknoteten und halb zerbrochenen Freunde neben sich liegen. 
Sie erschrak, schaute die Körper an, wie sie da vollkommen verdreht lagen und blickte zurück zu Gott.

"Was ist denn mit denen los?" rief Steffi, die jetzt auf einen Schlag wieder hellwach war.

"Ach so, ja, blöd, das solltest Du eigentlich gar nicht sehen!" 
Er stand auf, griff einen nach dem anderen an den Knöcheln und schlug sie einmal aus, so wie man es mit einem kleinen Teppich macht, wenn die Kinder mit dreckigen Schuhen darüber gelaufen waren. Die drei knallten etwas unsanft zurück auf die Metalpritschen, sahen aber durchaus wieder normal aus. Sie begannen langsam, sich wieder zu regen. Gott kehrte zu Steffi zurück und sagte: "Sorry, ich lauf’ heute ein bisschen neben der Spur! Also noch mal: Hast Du einen Wunsch?"

„Sag mal, bin ich tot?“

„Ja, Nein, also - so dazwischen!“

"Nicht tot sein wäre als Wunsch für den Anfang schon mal ganz gut!"  

"Ich hatte jetzt eher an so was wie Kaffee gedacht", sagte Gott.

"ICH hätte gerne einen Kaffee", murmelte da Justus, der sich nun auch aufgerichtet hatte und sich im Raum umsah.

"Hinlegen! Du kommst gleich dran!

"Also", wandte Gott sich wieder Steffi zu, "nicht mehr tot sein ist Dein Wunsch. Oh, ja, gut... Das ist nicht ganz einfach!"

"Was heißt hier: Nicht ganz einfach?" wurde Steffi laut.

"Jetzt mal immer mit der Ruhe!" sagte Gott, zog eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an.

"Hast du noch so eine für mich?" fragte Justus, und Gott warf das halbe Softpack „Marlboro Lights“ zu ihm hinüber.

"’Marlboro Lights’? Ernsthaft?" fragte Justus.

"Ja, ist gesünder!" sagte Gott.

"Lol!" schaltete sich jetzt auch Maik in das Gespräch ein.

"Schnauze jetzt!" blaffte Gott.

"Also Steffi, das ist nicht ganz einfach mit dem Nichttotsein!
Erstens ist das gar nicht mal schlecht mit dem Totsein. Also, 
mit dem ‚richtig Totsein’. Da kann ich Dir jetzt aus datenschutztechnischen Gründen nicht viel zu sagen, aber - vertrau’ mir - es ist ganz in Ordnung. Es ist nicht so toll, wie alle sagen, aber es ist auch nicht so schlecht. Es ist ein bisschen wie Highsein. Das ist meistens ganz gut, aber wenn Du immer high bist, vergißt Du ziemlich schnell, wie es ist, nüchtern zu sein, und wenn Du vergisst, wie es ist, nüchtern zu sein, vergisst Du auch, wie es ist, high zu sein. Es geht beim Highsein ja gar nicht ums Highsein, es geht beim Highsein darum, nicht nüchtern zu sein. Wenn da kein Unterschied mehr besteht, dann wird es ziemlich schnell langweilig. Langeweile - das ist im Himmel ein großes Problem, weil - wenn Du das Schlechte nicht kennst, dann weißt Du ja auch überhaupt nicht, was gut ist. Ich bau’ Euch Lebenden da unten das Schlechte ja schon in den Alltag ein, damit Ihr etwas Schönes überhaupt bemerkt, wenn es Euch passiert. Ihr habt aber leider diesen Konstruktionsfehler, dass Ihr immer nur das Schlechte bemerkt!

Nur um es mal zu erwähnen:

Ihr steht gar nicht immer in der längsten Schlange an. Ihr bemerkt es bloß nicht, wenn Ihr in der schnellsten steht. Ihr fahrt auch nicht immer bei Gegenwind Fahrrad, Ihr merkt es bloß nicht, wenn das Fahren leichter ist als sonst. Wenn ich sag’: „Rückenwind“, dann sagt Ihr nichts, wenn ich aber sage: „Gegenwind“, dann wird rumgeheult!

Ohne mich würden immer alle Maiskörner im Popkorn aufpoppen, der Wettermann hätte immer recht, alle Aufkleber würden immer rückstandslos von CD-Verpackungen abgehen, jeder würde sofort auf jede SMS antworten, Dein Lieblingslied würde nicht immer dann im Radio kommen, wenn Du gerade einparkst, es gäbe immer überall eine Steckdose, es hätte immer jeder einen Stift dabei, es würde niemals auch nur eine einzige Socke in der Waschmaschine verloren gehen, es gäbe von keinem guten Film einen schrecklich schlechten zweiten Teil, man würde niemals aus Versehen ein Light-Produkt kaufen, der Ketchup würde immer ohne Probleme aus der Flasche kommen, es wäre immer Milch im Kühlschrank, es gäbe immer alles, was Ihr wollt, in Eurer Lieblingsfarbe, Eure Chipstüten wären immer bis oben hin voll, Radiergummis würden immer alles wegradieren, alle Autofahrer würden immer blinken und der Akku in Eurem Telefon wäre immer genau zum richtigen Zeitpunkt knackig voll.

Dass das nicht so ist, ist nur meine Ansage: Freut Euch des Lebens! Ihr würdet nicht merken, wie gut es Euch geht, hättet Ihr nicht immer etwas, worüber Ihr euch aufregen könntet! 
Aber, Steffi, mal was ganz anderes: Warum willst Du denn weiterleben?"

Steffi grübelte ein bisschen, und dann grübelte sie noch mehr und noch mehr. Dann guckte sie doof und grübelte noch mehr.

"Gut, vielleicht mach’ ich erstmal bei den anderen weiter!" sagte Gott. "Ich frag’ mal so: Wer von Euch will denn überhaupt weiterleben? Viele von Euch Menschen sind ja nur noch am Leben, weil sie sich das mit dem Selbstmord noch nicht getraut haben. Das hier wäre jetzt eine Chance auszusteigen. Also, wie sieht’s aus?"

"Also, ich würde ganz gerne noch ein bisschen leben!" sagte Emma. "Ich hab doch eine Katze zu Hause, die ich ungern verhungern lassen würde, und ich weiß auch nicht genau, ob ich den Backofen ausgeschaltet habe!"

"Ich hab' noch einen ‚Warcraft’-Raid am Donnerstag, und jetzt, wo Krüger tot ist, muss ich dahin. Krüger ist doch tot, oder?" fragte Maik unsicher.

"Aber so was von tot - hui hui hui!" sagte Gott.

"Ich glaube ich bin noch nicht ganz fertig damit, die Menschen nicht zu mögen, die wie ich sind", sagte Justus. "Da bräuchte ich noch einen Moment. Manchmal glaube ich, ich mag einfach noch viel zu viele Menschen, um zu sterben. Da wär’s ganz gut, wenn ich das noch fertig machen könnte. Ich such’ mir das dann aus, wenn ich fertig bin damit, alle weißen Westeuropäer zu hassen. Entweder bringe ich mich dann um, oder ich werde Rassist - aber das Rassismus-Ding finde ich im Moment noch eher unsexy!"

"Ich weiß nicht" ,sagte Steffi, "mir ist das eigentlich ein bisschen egal. Ich hab’ da genug Vertrauen, dass schon das Richtige passieren wird - da kannste ja eh nichts machen. Es kommt wie es kommt, oder?"

„Also, naja, also...“ sagte Gott zögernd, „ich kann schon ein bisschen an den Schrauben drehen. Da lässt sich schon was machen! Also wollen alle weiterleben - sehe ich das richtig?“

Er zückte wieder sein iPad, wischte auf dem Bildschirm herum, klickte hier und da, machte diese typischen Daumen-Zeigefinger-auf-und-Daumen-Zeigefinger-zu-Sachen und schaute wieder auf.

„Also, Leute, folgendes: Im Protokoll steht nichts davon, dass ich Fehler mache. Dabei würde ich auch, allein wegen der Außenwirkung, gerne bleiben. Aber: Ich könnte Euch noch eine Chance geben. Das tue ich manchmal. Ihr müsstet dann allerdings euer Leben ändern. Und in Eurem eigenen Interesse solltet Ihr nichts von dem ganzen Himmel-und-Gott-Zeug, das Ihr gerade erlebt, da unten erzählen. Ihr wollt doch nicht als Spinner gelten, oder?“

„Och“, sagte Justus, „ich fänd’ das nicht so schlimm. Ist der Ruf erst ruiniert und so weiter, bei mir wäre das nicht so wild!“

„Bei mir auch nicht. Mich sehen eh nicht so viele Menschen, ich bin ja eher drinnen!“ sagte Maik.

„Mich halten eh alle für doof, ist mir egal!“ sagte Steffi.

„Mir wäre das auch egal, wenn mich jemand für einen Spinner hält“, sagte Emma und knabberte an ihren Fingernägeln.

Gott stöhnte.

„Also, Okay! Ich sag Euch, wie es läuft. Ihr müsst etwas verändern. An Euch selbst. Ich sage Euch auch was:
Justus, Du wirst die Menschen lieben. Damit meine ich nicht irgendwelche Aufrisse in besoffenen Kneipen. Ich will, dass Du sie liebst, weil sie Menschen sind wie Du selber. Ich glaube, das würde Dir ganz gut tun!“

„Und wenn ich da keinen Bock drauf hab’?“ zickte Justus zurück.

„Folgendes: Ihr habt Zeit bis zum 21.12.2012. Dann wird es große Probleme da unten geben. WIRKLICH GROSSE PROBLEME! Muss ich nicht viel zu sagen, das ist ja schon vor einer ganzen Weile durchgesickert. Wenn Ihr macht, was ich sage, könntet Ihr da noch rauskommen. Ihr helft mir, ich helfe Euch! Kapisch? Justus? Emma? Steffi? Maik?

Also, weiter: Maik, Du wirst Dir ein richtiges Leben suchen. Das heißt: Du wirst losgehen und die Leute von den Computern wegholen. Es ist mir egal, wie Du das machst. Organisier’ ein riesiges Schwertkampfrollenspiel am Eck, geh’ Baggern, geh’ Bumsen, Maik - das ist das, was ich meine! Hol’ die Leute raus, die sich aus dem Internet kennen. Geh’ mit denen Grillen. Stell' eine Armee auf und zieh’ mit ihr durch die Strassen und zeig’ den Leuten, wie bescheuert Ihr wirklich seid. Seid draußen. Ich hab die Welt ziemlich schön gemacht. Du beleidigst mich, wenn Du das nicht siehst!

Zu Dir, Steffi: Du wirst mit dem Dummsein aufhören. Nimm’ Dir ein Buch. Lies einen Roman. Sprich mal mit Leuten, die nicht doof sind. Ich will, dass die Doofen nicht mehr doof sind. Ich will, das Hauptschüler und Professoren zusammen auf Gabber-Parties gehen, Speed ziehen und auf der Afterhour zusammen Schach spielen und „Kant gegen Hegel“ diskutieren. Das ist nicht schwer. Das kriegst Du hin!

Jetzt Emma: Mach' einfach so weiter, Du hast das alles schon ganz gut verstanden! Also, alle zusammen: Habt Ihr mich verstanden? Das ist Eure fucking Aufgabe. Und sonst nichts. Also, habt Ihr das verstanden?“ fragte Gott noch einmal in die Runde.

„Nee, nicht so genau, was soll ich jetzt genau machen?“ fragte Justus, und auch die Gesichter der anderen verrieten nicht unbedingt, dass sie das gerade verstanden hatten.

„Ihr seid die Auserwählten, Ihr seid die, auf die ich mich verlasse, dass die Welt ein besserer Ort wird - ist das denn so schwer!“ sagte Gott.

„Nee, check ich irgendwie nicht!“ sagte Maik.

Genervt ächzte Gott.

„Pfhuuu... In Ordnung - was soll’s!“ sagte Gott, schnipste mit den Fingern und hatte plötzlich zu seinen „Buffallo“-Schuhen noch knallenge „Levis 501“ und eine „Helly-Hansen“-Jacke an. 

Die vier Freunde schauten ihn an und begannen wie auf einen Schlag aus vollem Halse zu lachen.

„Was soll das denn werden?“ rief Justus.

„Ich komm mit runter, ich war schon länger nicht mehr da. Nennt mich Justin. Ich bin dabei!“ sprach Gott, wedelte dabei albern verschwörerisch mit den Armen, ließ den weißen Raum und alles um sie herum verschwinden und schwebte mit den anderen hinab in Richtung Erde, Richtung nördliche Hemisphäre, Richtung Nordeuropa, Richtung Deutschland bis nach Bremen, direkt zum Klinikum Bremen-Mitte. Direkt in ein nettes Fünfbett-Zimmer.

Wer hätte das gedacht: Gott ist nicht privat versichert! 



Tag 16 (15.3.2012)


„Wütend sollte man werden, statt dass es einem langweilig wird!“



Ein paar kleine Wölkchen schwebten über Bremen. Blauer Himmel stand über der Stadt, und wenn jetzt einer gesagt hätte: „Das wird kein gutes Ende nehmen!“, da würden ihn die Menschen jagen und tot schlagen und sagen: „Stimmt nicht, alles wird gut!“

Justus und Emma und Steffi und Maik und Justin schwebten mitten in diesem süßen blauen Himmel vor sich hin und schauten sich noch mal ein wenig um. 

Maik machte: „Peng, Peng, Ratatata!“

Von oben herunter machte er das, und tatsächlich: Von oben sah wie immer alles friedlich aus - wie ja eigentlich immer alles friedlich aussieht, wenn man es sich aus großer Entfernung ansieht. 

Wenn einem etwas direkt vor der Nase hing, dann hatte es ja selten etwas Friedliches an sich. Ganz nah und ganz laut waren die meisten Dinge, wenn man ihnen zu nahe kam, und viel zu nahe kamen einem ja die meisten Dinge im Alltag in allzu kurzer Zeit.

Das schien auch Absicht zu sein, denn - wenn die Menschen verwirrt waren, weil sie gefangen waren im Viel-zu-nah und Viel-zu-laut, dann hatten sie nun wirklich andere Probleme, als einen Schritt zurück zu tun, um sich einen Überblick zu verschaffen.

So ist das ja stets mit der Kontrolle. Das wichtigste, was heute einer tun kann, ist aufzupassen, was so an Informationen in seinen Kopf hineinkommt. Denn was gesehen wurde, das kann ja nicht ungesehen werden, was gehört wurde, kann ja nicht ungehört werden, und was gerochen ist, kann nie wieder ungerochen sein. 

Aber wer schafft es denn, immer im richtigen Moment die Augen zuzumachen. Und noch viel schlimmer: Ohren zumachen geht ja gar nicht - immer muss man sich alles anhören! Um nichts mehr zu hören, müsste man ja weggehen, und wer weggeht, der könnte ja etwas verpassen, und es gibt auf der Welt ja kaum eine größere Angst als die Angst, etwas zu verpassen. Sogar die Angst vor dem Tod ist ja nicht mal mehr die Angst vor dem Ungewissen - es ist die riesengroße Angst, alles für immer zu verpassen!

„Peng, Peng, Kaboom, Ratatata!“ machte Maik wieder.

Wer nie etwas verpasst, wer sich immer alles reinzieht, wer vielleicht sogar an der weitverbreiteten Informationssucht leidet, der bekommt ja große Probleme, weil - wie soll man damit umgehen? Wie soll denn einer entscheiden, was wichtig und was unwichtig wäre? 

Man braucht eine Art von System, um Dinge einzuordnen. Für so was hat der Mensch sich ja eigentlich Computer erfunden, aber - so ein Computer ohne Betriebssystem, das ist wie ein Mensch ohne Betriebssystem - was wäre das denn? Was wäre ein Haufen aus Wissen, der keinerlei innere Verbindung hält zwischen all den Dingen, die einer weiß? 

Wissen ohne Verbindungen - das ist Dummheit und nicht Weisheit! Wissen ohne Verbindung zu anderem Wissen, das ist ganz viel „Galileo“ und ganz wenig Nobelpreis! 

Die inneren Systeme der Menschen, die wurden ja ganz abgeschafft. Welcher Mensch hat denn noch ein System, in das er all das Gesehene, Gehörte, Gerochene, Geschmeckte einordnen kann. Oder noch viel schlimmer: Da wird ein jeder jeden Tag zugekleistert und vollgeballert mit einem Dreck, den sich ein anderer mit einem Hintergedanken ausgedacht hat. 

Wie macht man sich denn die Menschen Untertan, damit sie für einen arbeiten und dabei denken, sie würden das alles für sich selber tun? 

Und wie kann man denn Menschen bewegen? Wie kann man Frauen und Männer dazu bringen, sich selber zu benutzen, um Scheiße zu verdienen, die sie nicht brauchen? Geld, das sie nicht haben, für Dinge, die sie nicht brauchen, auszugeben? Wie bringt man Männer dazu, es wichtig zu finden, sich in Blödsinn mit anderen zu vergleichen? Sie glauben machen, dass Werte nicht aus Gemeinsamkeiten, sondern im Kampf entstehen? 

Das geht ja nur mit Gier oder Angst. Die meisten Dinge sind viel zu hirnverbrannt und unnütz, um sie mit anderen Mitteln als Gier und Angst verkaufen zu können!

Sich besser fühlen, in dem man besser als ein anderer ist! 

Was ist das für eine furiose Idee, Wohlgefühl zu verkaufen, indem man behauptet, andere zu besiegen wäre der einzige Weg zum Glück! Die Ganzheit des Lebens zu zerreißen, das Leben in Sportarten aufzuteilen und eine Olympiade daraus zu machen; und der Gewinner des Lebens ist der, der die meisten Disziplinen gewonnen hat!

Am Schluss, da gibt es keinen Gewinner. Das haben die Kirchen mal probiert: Wer im Leben insgesamt besser war, für den gibt es dann das Paradies. 

Aber das ist ja auch nicht zeitgemäß, das dauert ja viel zu lange. Im Jetzt und Hier muss es geschehen. Die Belohnung fürs Handeln, die muss sofort erscheinen - da ist keine Zeit, um bis zum Tod zu warten!

Es geht ja nur noch um Belohnungen, denn so funktioniert Sucht ja - und Sucht, Sucht wirft für den Dealer den meisten Gewinn ab.
Aus Lebenslust ist Lebenssucht geworden. Aus Genuss ist Abhängigkeit geworden!

Um jemanden süchtig zu machen, da braucht es eine tolle Belohnung, da braucht es einen Rausch des Glücks. Die Traumwelt des Heroins, die Überlegenheit des Koks’, die Selbstzufriedenheit des Alkohols. Aber was braucht es denn als Rausch für Lebenssucht?

Da gibt es ja doch nur eins: Der Himmel, das Paradies, muss auf die Erde, das ewige Glück muss sofort erreichbar sein! Und fragen sie doch mal ihren Nachbarn, wie das Paradies auf Erden aussieht, und warten sie mal ab, ob er es schafft, in den ersten drei Sätzen nicht einmal das Wort Geld zu benutzen.

Das System verkauft heute Geld wie früher Ablassbriefe, eine Währung, die einen ins Paradies und zur Glückseligkeit bringt!

Deswegen sind ja immer alle so angespannt - bis zum Zerreißen angespannt rennen die meisten Menschen hirnlos durch ihr Leben. Wie schrecklich das anzusehen ist, wie eklig sogar, wenn man ihnen im Alltag einmal hinterher geht und sieht, wie sie es selber schaffen, sich unglücklich zu machen, denn Unglück, das ist so herrlich leicht zu kontrollieren. Wer Angst hat - so eine normale Alltags- und Zukunftsangst -, der fühlt sich ja mächtig, weil er gar nicht in der Lage ist, das Große, das Ganze, den Zusammenhang zu sehen. 

Stelle sich nur mal einer vor, es gäbe gar keine Angst mehr. Stelle sich nur mal einer vor, die Angst würde fehlen, und plötzlich würden die Gehirne aufploppen und es würde sich zeigen: Da gibt es ja gar nichts, um davor Angst zu haben. Nichts, tatsächlich nichts!

Und plötzlich würden sie anfangen, nur noch die Dinge zu tun, die sie glücklich machen! Nicht mehr planen und sparen, nicht mehr Geld und Gefühle und Glück und Freude sparen. Sie würden immer alle alles mit vollen Händen ausgeben, einfach so verschenken und dabei wissen: Es gibt gar nichts zu sparen. Man kann gar nicht sparen. Das Sparen ist dem Menschen von der Natur gar nicht eingebaut - jeder Mensch möchte immer alles verprassen, denn nur so könnte er die Menschen um sich herum glücklich machen, in dem er sie mit einer fetten Schicht aus Vertrauen und Liebe und Wohlstand überzieht, denn das wäre ja die einzige Möglichkeit, um selber glücklich zu sein. Da gibt es gar keine andere Chance, als all die Dinge der Welt rücksichtslos mit vollen Händen aus dem Fenster zu schmeißen! 

Da sagt die Religion: „Ja, gib uns all Deine Liebe und Dein Glück und Dein Geld auch noch - wir leiten das  an Gott weiter, der wird Dich dann mögen!“ Und da oben sitzt er, der liebe Gott, ist allmächtig, gütig, umfassend toll und unfehlbar, aber er hat ein Problem: Er kann nicht mit Geld umgehen. Aber da bleibt es ja dabei: Ein Mensch ohne Religion, das ist wie ein Fisch ohne Fahrrad!

„Peng, Peng, Ratatata!“ machte Maik erneut.

Alle schreien immer: „Alles kommt zurück im Leben!“ Aber würde ein jeder das wirklich wissen: Ein Wahnsinn! Stelle sich doch nur mal einer vor, alle wären den ganzen Tag beschäftigt, die Scheiße zu behalten und das Gute zu verprassen - was für ein Tag wäre das, was für ein Leben wäre das? Stets würden alle alles auf die Strasse legen, und wem es gefällt, der benutzt es kurz mal und wirft es dann dem anderen zu, wenn der es braucht - und wenn nicht, dann liegt es da, mitten auf der Strasse und wartet auf einen, der es braucht.

Wenn das stimmt mit der Energie und das sie nicht vernichtet werden kann und alles auf der Welt und im Universum nur Energie ist, dann liegt doch eine Idee nahe: Das Glück der Menschen kann nur darin bestehen, möglichst viel von dieser Energie einzufangen und direkt weiterzugeben, vielleicht so, wie die Vogelmutter Würmer sammelt und sie dann den Bedürftigen in den Rachen würgt.

Würgend hing auch Justus da oben zwischen den Wolken, denn er hatte viel zu stark an seiner Zigarette gezogen, und vom Fliegen wurde ihm sowieso immer schlecht.

Der Himmel änderte nichts an seinem Blausein. Die kleinen netten Wölkchen waberten den vier Freunden und Justin zwischen den Beinen umher. Das war sehr angenehm.

Als der Brechreiz verschwand, hing Justus da eher lustlos in der Luft, und tatsächlich - je näher er der Erde kam, um so mehr verließ ihn diese Leichtigkeit, die er gespürt hatte, als ihm war, als wäre er tot. 

Er sah sie wieder, die Leute, die in ihren Wohngebieten in die Autos stiegen und ins Gewerbegebiet fuhren. Er musste gar nicht in die Büros hineinsehen, er wusste, wie sie da drinnen irgendwelche Zahlen in irgendwelche Tastaturen hackten und irgendwo hin schickten, wo sie jemand anderes einspeicherte, wo sie nie wieder einer finden würde. Dann sah er die Menschen nach ein paar Stunden wieder in ihre Autos steigen. Sie fuhren zurück in ihre Wohngebiete: Aussteigen, kurz Einkaufstasche von oben holen, ab zum Supermarkt - billiges Fleisch und neuen Kaffee kaufen gehen. 

Dann nach Hause, um ein paar Bierchen zu trinken, Romantic Comedy zu schauen, kurz auf dem Sofa einzuschlafen, aufzuwachen, sich ins Bett zu schleppen, richtig einzuschlafen, vom Wecker mit gruselig gut gelaunten Radiomoderatoren geweckt zu werden, um Punkt sieben Uhr Nachrichten zu hören, die sie nicht verstanden, weil die Nachrichten überhaupt nicht mehr zum Verstehen gemacht waren, und dann möglichst auffällige unauffällige Klamotten anzuziehen, weil auffällig das neue Unauffällig war. Ansehen berechnet sich heute an der Menge der Nähte an der Jeans! 
Ab ins Auto, Gewerbegebiet, Kaffee, Daten tippen, klicken und schieben, wieder ab nach Hause, Fleisch, Romantic Comedy, einnicken, einschlafen, aufstehen, Auto, tippen, Fleisch, Comedy, einschlafen, Traum vergessen, Auto, Kaffee, tippen, Fleisch, schlafen, Auto, Fleisch, schlafen, Fleisch, schlafen, schlafen, schlafen, schlafen.

„Hör mal, Justin!“ wandte sich Justus an Gott, der gerade neben ihm schwebte, die Lippen spitzte und einen Spuckefaden nach unten hängen ließ, im letzten Moment den Spuckefaden aber wieder in den Mund zurückflitschen ließ. 

„Justin war doch richtig?“ 

„Du kannst mich nennen, wie du willst“, antwortete Gott, „aber Justin kam mir als Namen für einen Gott so undogmatisch vor!“

„Das stimmt: Das Gott Justin heißt, da würde keiner so schnell drauf kommen! Gut. Justin also. Frage: Wie merkt man eigentlich, das man tot ist, wenn man im Schlaf stirbt?“

„Gar nicht!“ antwortete Justin. „Das ist alles gar nicht so scharf getrennt. Wenn Du schläfst, dann ist das immer schon ein ziemlicher Vorgeschmack auf den Tod. Den Unterschied zwischen Schlafen und Totsein, den kann man selber nicht feststellen, denn wie Totsein wirklich ist, das weiß ja keiner. Das können nur Außenstehende feststellen. Du selber weißt das nicht!“

Justus schaute ihn an. 

„Und warum wollen die Leute dann so unbedingt nicht sterben?“ fragte er.

„Das ist eine Frage der Kontinuität. Die meisten würden morgen gar nicht aufstehen, würden sie wüssten, wie wenig Kontrolle sie über die Dinge haben, die passieren. Menschen merken sich die Tage, weil sie am Tag wach sind, und vergessen immer das, was sie erleben, wenn sie schlafen. Das muss nicht so sein, das geht auch beides, nur - um sich dieses ganze Geträumte zu merken, da muss man sich schon mal ein bisschen mit sich selber beschäftigen, und das ist ja für die Meisten sehr anstrengend, weil die Menschen  über die Jahre tief in sich drin gemerkt haben, wie unerträglich sie geworden sind. 

Und das hat ja auch viel damit zu tun, dass immer noch jeder der Meinung ist, Kontrolle über das zu haben, was passiert, wenn er wach ist. Aber das geht ja im Schlaf genau so. Das ist nur Gewöhnungssache, woran man glaubt!“

„So ein Quatsch: Geht im Schlaf genauso! Was ich für einen Scheiß zusammenträume, das hat doch nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Das macht doch alles überhaupt gar keinen Sinn!“ sagte Justus.

„Ach, und Du willst also wissen, was Sinn macht? Woher willst Du denn überhaupt wissen, wann Du träumst und wann Du wach bist?“

„Das ist ja wohl mehr als auffällig!“

„Sag' doch mal!“

„Weil - äh… Na, weil das eine, das Wachsein eben Sinn macht und das andere nicht!“

„Das haben die Menschen früher auch gesagt und dabei behauptet, das wäre alles ich, das wäre alles Gott, und dann kam die Wissenschaft und Ihr habt immer mehr von dem ganzen Ding um Euch herum verstanden, und plötzlich haben immer mehr Dinge Sinn gemacht und Gott war abgemeldet. Dabei habt Ihr immer noch keine Ahnung, was so abgeht! Du kennst diese Sache: Ihr kennt den Weltraum besser als die Ozeane? Stimmt. Aber, das ist genau das gleiche: Ihr kennt alles um Euch herum besser als Euch selber. Das mit dem Träumen ist immer ein ganz guter Ansatz, um in Euch selber hineinzuschauen. Denn das ist genau so real wie die Dinge um Euch herum - nur mit einem großen Vorteil: Da ist nichts von außerhalb - alles, was im Traum ist, das ist schon in Euch drin, und zwar vollkommen abgeschottet. Wie in einem richtig guten naturwissenschaftlichen Versuchsaufbau: Keinerlei direkter äußerlicher Einfluss. Klare, unverfälschte Ergebnisse. Das ist ganz einfach:
Leg Dich ins Bett und tu so, als würdest Du einschlafen. Am besten, wenn Du so richtig, richtig müde bist. Leg Dich auf den Rücken, schließ die Augen und beweg Dich kein Stück. Du musst wach bleiben, egal, wie müde Du bist. Dein Gehirn sendet jetzt Signale an Deinen Körper und checkt, ob Du bereit bist einzuschlafen. Diese Signale sind: Es beginnt Dich zu jucken, Dein Körper will seine Schlafposition verändern, Deine Augen wollen zwinkern und sich bewegen. Du musst die Augen geschlossen halten und auf keines dieser Signale reagieren. Du kratzt Dich nicht, wenn es juckt, Du bewegst Deinen Körper nicht, Du blinzelst nicht und hältst die Augen still! 

Nach zwanzig bis dreißig Minuten verspürst Du einen starken Druck auf deiner Brust, vielleicht wirst Du seltsame Geräusche hören. Du befindest Dich jetzt in sogenannter Schlaflähmung. 
Wenn Du jetzt die Augen öffnest, wirst Du zu halluzinieren beginnen. Du träumst jetzt mit offenen Augen, und Du wirst deinen Körper nicht bewegen können.

Dein Körper schläft jetzt. In diesem Moment wirst Du Dir bewusst, dass Du gerade träumst. Jetzt kannst Du die Augen wieder schliessen und wirst sofort anfangen zu träumen. Du wirst Dir vollkommen bewusst sein, dass Du gerade träumst und hast jetzt komplette Kontrolle über Deinen Traum!

Und jetzt sag mir noch einmal, was echt ist und was ein Traum!

Und wo wir schon dabei sind, von wegen Tod und so weiter: Das mit dem Tod und dem Traurigsein, das ist noch so eine Verwechslung, die Menschen immer sehr gerne machen:

Wenn jemand anderes stirbt, dann ist man natürlich traurig, weil einem ja in Zukunft ein schöner Teil seines Lebens fehlen wird - das ist ganz normal und ja auch richtig so. Aber Tatsache ist: Derjenige, der da gerade stirbt, ist nur bis zu einem gewissen Moment traurig, nämlich genau bis zu dem Moment, in dem er noch Hoffnung hat, um das Sterben irgendwie herumzukommen. 

Aber wenn er erst einmal verstanden hat, dass es da nichts mehr zu holen gibt, dass sein Leben abgeschlossen ist, zuende ist und er gleich sterben wird, dann tritt eine Freude ein: Dass alles gut ist und man diesen ganzen anstrengenden Individualismus los ist, dass man sich einfach nur noch fallen lassen kann - zum ersten Mal im Leben eines jeden Menschen wird er dort die wirkliche Freiheit kennen lernen! 

Kennst Du es, wenn Du etwas tust und die Zeit, die vergeht, kommt Dir endlos lang vor? Oder Du tust etwas und die Zeit rasst an Dir vorbei wie nichts? In diesen Momenten könntest Du verstehen, dass die menschliche Zeit nur von jedem persönlich zu fassen ist und dass es allgemeine Zeit erst durch Technik und andere Menschen, die einen beobachten, gibt. Zeit entsteht erst im äusseren Vergleich!

Nun ist das wunderschön, das mit dem Sterben: Die Zeit wird immer langsamer, es gibt keinen Vergleich mehr. Es wird alles immer langsamer. Nicht so wie im normalen Leben - es gibt keine äussere Welt mehr. Es gibt nur noch das, was in Dir drin ist. Sonst nichts. Und je näher Du an die Grenze zwischen Menschsein und nicht mehr Menschsein gerätst, umso langsamer vergeht die Zeit - immer langsamer. Und immer mehr vom Ganzen verstehst Du, weil die Dinge ausserhalb von Dir Dich nicht mehr ablenken. Und je mehr Du verstehst, um so langsamer wird alles um Dich herum - immer langsamer. Und irgendwann bleibt die Zeit für Dich stehen. Das bedeutet aber nicht, das Du tot bist. Das bedeutet nur, dass Du es endlich verstanden hast. Und das bedeutet, dass Du für Dich selbst unsterblich bist!" 

Ey, Justus, hörst du noch zu?“ fragte Justin

„Ähm, ja, klar. Superspannend. Ich hab' das verstanden!“ sagte Justus und schaute auf die Sielwallkreuzung hinab, über die sie nun gerade hinwegschwebten.

Steffi schwebte neben ihnen und hatte schon wieder irgendwoher eine Flasche Sauren, von dem sie nun nippte.

„Siehst!“ rief Justin, „die Steffi, die macht das alles ganz richtig. Wir müssen alle wirklich aufhören, weniger zu trinken!“ rief er, schnappte sich die Flasche, nahm einen tiefen Zug und sagte: „Wenn ich schon mal hier unten bin, dann ist was los!“ und gab die Flasche an Emma weiter, die da auch in der Luft hing und gerade auf das Dach ihres Elternhauses hinabblickte und sich auch so ihren Teil dachte.

Das war jetzt alles ein bisschen viel gewesen: Erst der Umzug, dann Sylvester, das Wiedertreffen mit Justus, die Explosion, der Geldregen, der "Club der Spinner", Österreich, der Typ, der sich erschossen hatte, die Lawine und dann diese ganze Episode im Himmel und bei Gott - das war wirklich ein bisschen heftig gewesen. Sie hing ein wenig in den Seilen und kam erst wieder zu Bewusstsein, als sie einen Schluck aus der Schnapsflasche genommen hatte.

„Alles klar?“ fragte Maik, der neben ihr schwebte und mit dem Finger auf die kleinen Punkte auf der Erde unter ihnen zielte, den Daumen als Abzug benutzte und immer „Peng, Peng, Ratatatata!“ machte.

„Ja, alles klar, Maik. Was machst du denn da?“ fragte Emma.

„Ich bin eine militärische Aufklärungsdrohne. Ich bin sehr modern. PENG, PENG! RATATATATA!“ machte er.

„Die Mutter der Dummen ist immer schwanger!“ dachte sich Emma und nahm noch einen Schluck. 

„Wir müssen wirklich alle dringend aufhören, weniger zu trinken!“ dachte sie weiter. 

„Yo, Maik", rief sie durch den leicht zischenden Wind über der Stadt, "bist Du wirklich in Ordnung?“

„Warum denn nicht?“

„Naja, man trifft nicht jeden Tag Gott, der sich selbst Justin nennt, und kehrt mit ihm dann saufend auf die Erde zurück!“ sagte sie.

Maik schoss weiter mit dem Finger auf die Menschen am Boden und wurde dabei immer wilder. Emma wusste nichts mehr zu sagen, verspürte aber, dass es besser wäre, mit jemandem zu sprechen.

Sie erinnerte sich an einen der Sätze, den sie einmal in einem Frauenmagazin zum Thema „Emotionales Gespräch mit einem Mann“ gelesen hatte.

„Echt schräg, das mit Gott! Wie fühlst Du Dich dabei?“ fragte sie.

„Wie ich mich dabei fühle? Ich bin unsterblich - das ist wie "God Mode" und unendlich Munition. Ich hab' Bock, wieder im Viertel zu sein, und tatsächlich habe ich Bock, meine Gilde auf die Strasse zu holen!“ sagte Maik und schoss weiter mit den Fingern.

„Freunde!“ wandte sich Justin an die Vier.

„Wir sind gleich da. Im Krankenhaus. Ich muss Euch sagen, dass knapp drei Monate vergangen sind, die Ihr im Koma lagt. Heute ist der fünfzehnte März 2012. Ihr wisst noch, was Ihr zu tun habt? Strengt Euch an! Wir haben noch genau vierzig Wochen Zeit. Das sind noch genau - er schaute auf seine grüne Swatch - zweihundertachtzig Tage und viereinhalb Stunden bis zum 21.12.2012!“

Die fünf sanken durch die Wolken hinab ins Klinikum an der St.-Jürgen-Straße hinein, durch die Stockwerke hindurch, sahen da ihre Körper liegen, und Justus, Steffi, Emma und Maik glitten wieder in ihre eigene Haut zurück. Es roch nach Desinfektionsmittel und Beatmungsgeräte waren zu hören. 
Alle Vier öffneten gleichzeitig die Augen.

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Tag 17 (22.3.2012)

Alltägliches im Krankenhaus


Als Justus und Steffi und Emma und Maik die Augen öffneten, stob gerade im Bürgerpark auf der anderen Seite der Stadt ein Schwarm von Staren von den Wipfeln der Bäume aus in den tiefblauen Nachmittagshimmel. Sie begannen zu tanzen. Nur hatte das keiner gesehen. 

Im gleichen Moment bekam ein Obdachloser in der Straße „Vor dem Steintor“ eine Türkische Pizza mit ein bisschen "Scharf" geschenkt, setzte sich auf einen Stuhl in einem Café und begann zu essen. 

Er saß auf dem gleichen Stuhl, auf dem er jeden Tag saß, und eine Bedienung brachte ihm auf Kosten des Hauses ein Glas „Cola“.

Lächelnd verputze Wolfgang, wie der Obdachlose hieß, seine Türkische Pizza und lächelte in die tief stehende Sonne, die ihm quer durch die alten Häuser des Steintorviertels noch einen letzten Sonnenstrahl schickte. 

Dann stand er auf, trottete wohlgesättigt hinüber zur anderen Straßenseite, schnappte sich den kleinen Unkrautrackel, den er letztes Jahr gefunden hatte, und begann, das Gras in den Fugen zwischen den Gehwegplatten zu entfernen. 

Jahr für Jahr, wenn der Frühling den Punkt ohne Wiederkehr in die sonnige Jahreszeit hinter sich gelassen hatte, begann er damit, "seine Bude" aufzuräumen; das war schon in seinem Haus vor einer gefühlten Ewigkeit so gewesen. 

Das Haus war weg, das Haus war kein Zuhause mehr, und wenn die Strasse hier jetzt sein Zuhause war - und das war sie nach den zehn Jahren, die er jetzt in einem Radius von etwa hundert Metern auf dieser Strasse verbrachte mit Sicherheit -, dann musste halt auch hier aufgeräumt und geputzt werden - man konnte doch nicht im Dreck versinken! 

Eine unaufgeräumte Wohnung - das ist ein unaufgeräumtes Inneres, und wenn man schon auf der Strasse lebt, dann sollte man doch wenigstens mit sich selbst halbwegs im Reinen sein.

Als Wolfgang den kleinen Grassfugenreiniger hob und zum ersten Schlag in die Gehwehplattenfuge ausholte, kam eine ältere Frau aus der Hauptsparkasse an der Sielwallkreuzung und hielt einen Kontoauszug in der zittrigen Hand.  Ihre Hand zitterte, weil sie nicht, wie sie es vorhatte, zum „Netto“-Markt gehen konnte, um Kartoffeln und Petersilie für die Suppe zu kaufen. Das sagte ihr dieser Kontoauszug. Sie konnte auch dem jungen Mann, der immer vor dem „Netto“ saß, keine fünfzig Cent in den Kaffeebecher werfen. 

Sie blieb auf dem in den Boden eingelassenen Pfennig vor dem Haupteingang der „Sparkasse“ stehen und überlegte, was sie tun könnte, und wurde tatsächlich traurig, als sie sich auf den Weg durch die „Coffee-to-go“- Bäckereien machte, um heimlich die Kuchenproben zu mopsen, die dort auf den Theken standen, und sich mit den kleinen Stücken auf eine Bank an einem kleinen Platz im Ostertorviertel zu setzen. 

Auf diesem Platz stand in der Mitte ein kleiner eingezäunter Baum und vielleicht, wenn einer kam, warf sie einem der Stare, die dort manchmal saßen, einen Krümel zu und freute sich, dass es jemanden gab, mit dem sie teilen konnte - und wenn es nur ein Probierstückchen gedeckter Apfelkuchen war.

Keine hundert Meter entfernt lag eine junge Frau auf dem Rücken auf der Liege eines Tätowierstudios und ließ sich den Namen Florian auf die Innenseite ihres Oberarms tätowieren, und wieder keine Hundert Meter entfernt wachte Florian gerade im Bett seiner Jugendliebe in der Berliner Straße auf und rief Diana an, um ihr zu sagen, dass es leider aus war, weil er ohne seine Liebe aus der  Jugend nicht sein konnte, woraufhin sich Claudia zum Tätowierer umwandte, der gerade mit den Buchstaben F.L.O. fertig war, und ihn bat, hinter das F.L.O. noch ein W zu schreiben. Dann legte sie sich wieder hin, schaute sich die Tätowierung an und dachte sich: „Wenn da jetzt ‚Flow’ steht, dann kann ich auch eine Rapperin werden!“ und begann sich erste bitterböse Battlerhymes gegen ihren Exfreund auszudenken.

Auf den Treppen neben dem Tätowierer saßen zwei Jugendliche, tranken „Coca Cola“ aus Dosen und kicherten und lachten. Manchmal lachten sie aus vollem Hals, dann wurde es wieder zu einem Kichern, aber jedes Mal, wenn sie sich wieder in die Augen schauten, ging es wieder los, so dass sie fast von den Stufen fielen und ihre Augen tränten. 
Warum sie lachten, das wussten sie nicht, und sie wussten auch nicht, dass dieser Moment der Augenblick in ihrem Leben sein würde, an den sie sich später zwanzig Jahre zur gleichen Zeit erinnern würden: 

Der eine, als er hinter einem Bankschalter stand und der Computer ihm sagte, dass er das Haus, in dem er mit seiner Frau, die er heimlich nicht mochte, an die Bank, in der er arbeitete, verlieren würde. 

Der andere, als der Richter mit dem Hammer auf seinen Tisch haute und begründete, dass er nun wirklich die Schnauze von Junkies voll hätte, die der Meinung waren, sich alles erlauben zu können. 

So standen sie da, jeder für sich, zwanzig Jahre später und dachten an dieses Gelächter, tranken später alleine eine „Cola“ und konnten es einfach nicht fassen und bemerkten, dass dieses Gelächter der letzte Moment gewesen war, bevor alles begann, schief zu laufen.

An ihnen vorbei ging eine junge weiße Frau mit Dreadlocks und schob einen Kinderwagen. Neben ihr ging ein junger weißer Mann mit einem Reggaehut, und der Mann sagte "Aber ich liebe dich!" Da dachte sich die Frau: "’Ich liebe Dich!’ sagt man bitte nicht mit einem "aber" davor!“ und musste an Bob Marley denken von wegen: 

„Du sagst, Du magst Regen, aber Du benutzt einen Schirm, um nicht nass zu werden. Du sagst, Du liebst die Sonne, aber suchst immer ein schattiges Plätzchen. Du sagst, Du liebst den Wind, aber wenn der Sturm kommt, schließt Du das Fenster. Und jetzt sagst Du ‚Ich liebe dich!’ , und ich glaube, ich sollte jetzt Angst haben!“

Ein kleiner Hund konnte dem verträumten Kinderwagengeschiebe gerade noch ausweichen, lief haarscharf zwischen den Rädern des Kinderwagens hindurch. 
Dann sprang er mit total vermasselter Laune zwischen die an der Seite des Ostertorsteinwegs geparkten Autos. Dann lief er weiter und im letzten Moment konnte ihm ein Fahrradfahrer ausweichen, kam jedoch mit dem Vorderrad in die Straßenbahnschiene und überschlug sich über den Lenker, landete aber nach einem vollen unbeabsichtigten Salto wieder auf den Füssen, schaute sich um und sah sein Fahrrad aufrecht in den Schienen stehen. Er fasste sich auf den Kopf und bemerkte, dass seine Mütze einem Mädchen auf den Kopf geflogen war, das dem Hund hinterher auf die Strasse gelaufen war. Seine Mütze stand ihr so gut, dass sich der Fahrradfahrer schnell verliebte, mit den Techno-Parties aufhörte, sie heiratete und eine Familie mit ihr und dem Hund gründete.

Nur einen Steinwurf entfernt standen eine Pflegerin und ein Zivi, der jetzt „FSJ’ler“ hieß, vor vier Betten im Krankenhaus Mitte und unterhielten sich; ihre Schicht hatte gerade erst begonnen. Sie schauten aus dem Fenster und sahen einen Schwarm Stare am Fenster vorbeitanzen.

"Und - was haben sie so am Wochenende gemacht?" fragte der Zivi und schaute die Pflegerin mit zivildiensttypisch geröteten Augen und einem trockenen Mund an.

"Ach nicht viel“, sagte sie, „ mein Mann ist beim „Bremen-Marathon“ mitgelaufen. Da war ich beim Start dabei, und dann bin ich an die Weser gegangen, hab’ mich in die Sonne gesetzt und mit einer Freundin eine Flasche Wein getrunken. Dann haben wir uns verquatscht und ich hab' den Zieleinlauf verpasst, woraufhin mein Mann dann doch sehr angefressen war, weil er doch Zwanzigster geworden ist, obwohl er leider sehr dick ist. Dann haben sie ihn disqualifiziert, weil er angeblich betrunken war. Was sehr seltsam war, weil - getrunken hatte der gar nicht! Dann sind wir nach Hause und haben „Jauch“ geguckt. Und was sagst Du: Ich hab’ alles gewusst! Auch doof: Jetzt hab’ ich noch mehr das Gefühl, es eigentlich verdient zu haben, Millionärin zu sein statt hier zu schuften! Und was hast Du so gemacht?" 

"Ich war erst auf dem Flohmarkt und hab’ mir Schallplatten gekauft, dann hab’ ich einen alten Freund getroffen, der gerade an der Weser saß und Wodka aus dem Pappbecher getrunken hat. Da hab’ ich mich dazugesetzt und mitgetrunken. Dann sind wir hoch zum Osterdeich und haben uns auch den Marathon angeschaut  bei Kilometer 34. Und - super: Wir standen da neben einem von diesen Tischen, wo die Läufer Wasser trinken können. Da stand ich dann rum mit meinem Wodka. Dann sind sie vorbeigelaufen und einer hat mir meinen Becher aus der Hand gerissen und so weggeext! Das Gesicht: Unbezahlbar! Dann haben wir noch eine Flasche gekauft und haben das weiter gemacht und konnten nicht mehr vor Lachen. Dann haben wir uns Fahrräder und einen Ghettoblaster besorgt, sind vollkommen besoffen dicken Joggerinnen an der Weser ganz langsam hinterher gefahren und haben sehr laut ‚Eye of the Tiger’ wie im Rockytraining gepumpt. Hat aber bei den wenigsten geholfen, die waren alle sehr unrockymässig!" 

"Witzig!" sagte die Pflegerin und bemerkte im Augenwinkel, wie das Laken eines der vier Betten sich ungefähr in der Mitte unsittlich zu bewegen begann. Sie wandte sich um und sah, wie Maik ihr mit verdrehten Augen direkt in die Augen schaute. "Huch!" rief sie aus, drehte sich weg und lief zum roten Ärztenotrufknopf neben der Tür, drückte drauf und schaute wieder zu Maik, der jetzt den Zivi anschaute. Der Zivi stand grinsend im Raum, dann ging er zur Fensterbank, nahm die dort herumliegende „Bild“-Zeitung, und blätterte zu einem Gastkommentar von Alice Schwarzer, die mit gütigem Blick auf einem Foto neben dem Artikel den Leser direkt anschaute. Er nahm die Zeitung und hielt das Bild Maik vor die Nase, welcher augenblicklich zu masturbieren aufhörte und große Augen machte.

Der Oberarzt kam schnellen Schrittes in den Raum gerast und schaute sich die Vier mit ein wenig Stolz an. Als sie hier eingeliefert worden waren, war es eine Mumienparade gewesen. Seltsam, wie die da drüben in Österreich arbeiteten! Man konnte nichts sagen, das war schon in Ordnung - letztendlich hatte ja alles geklappt! Aber die Vier einfach so in Ganzkörpergips zu legen, nach Deutschland zu verfrachten und jedem nur einen Zettel mit in Mundart geschriebenen Anweisungen an die Stirn zu kleben - das war schon etwas Besonderes gewesen!

Jeder hatte einen Zettel auf der Stirn kleben, und, obwohl sich jemand offenbar gedacht hatte, das würde bestimmt schon niemandem auffallen, war es doch mehr als auffällig, dass es nur die Leichenzettel waren, die jemand von den Zehen gerissen hatte, um sie Emma und Justus und Maik und Steffi an die Stirn zu kleben. 

Der Oberarzt ging zu Steffis Bett hinüber, welche gerade mit leerem Blick an die Decke starrte – solange, bis sein Schatten auf ihr Gesicht fiel, sie die Augen fokussierte und diesen Mann da stehen sah. "Wow!" dachte sich Steffi. Einfach „Wow!" und fuhr mit ihren Augen von oben bis unten am Arzt entlang. Nach oben, dann wieder nach unten, dann wieder nach oben, immer hin und her, schaute ihm auf die linke Schulter und dachte sich "Wow!" Dann schaute sie zur rechten Schulter und dachte sich "Wow!", zur linken Brust: "Wow!", zur rechten Brust: "Wow!", dann den Bauch hinunter. "Wow, wow, wow, wow, wow, wow!" dachte sie sich, als sie seinen Sixpack entlang fuhr und "Boah, ey!“, als sie bei der massiven Ausbeulung seiner Hose ihre Begutachtung abschloss. 

Letztendlich hatte sie es nicht mehr geschafft, das letzte "Boah, ey!" für sich zu behalten und stieß es mit einer relativ lauten Stimme aus, während sie ihm heftig auf seinen Penis glotzte, einen Finger hob, ihn in Richtung Penis ausstreckte und schon fast am Ziel war, als der Oberarzt seine Hand nach unten fahren ließ und den Zeigefinger mit seiner Hand fest umschloss.

"Frau, Frau…, Steffi, es reicht dann jetzt auch mal!. Sie sind gerade aus Ihrem Koma aufgewacht - mit dem Träumen ist ja jetzt auch mal vorbei! Wie geht es Ihnen?" sagte der Arzt, und Steffi zuckte zusammen.

"Ganz gut, wo bin ich den hier?" fragte Steffi und ließ ihren Blick durch das Krankenhauszimmer schweifen. Da war ein Bild unter die Decke über dem Bett gemalt: Wolken waren zu sehen und ein Engel, der aufwärts zu fliegen schien. Auch nicht genau das Richtige, um es zu sehen, wenn man gerade knapp dem Tod entronnen ist! 

"Bin ich im Krankenhaus?" fragte sie.

"Nein, Sie sind im Himmel - ich bin Gott!" sagte der Oberarzt. 

"Schon wieder?" fragte Steffi

"Nein, natürlich nicht, Sie sind im Krankenhaus Bremen-Mitte. Und ich bin nicht Gott, ich bin nur der gutaussehende Oberarzt!" sagte der Oberarzt charmant lächelnd und ging weiter zu Maiks Bett, welches auf Steffis rechter Seite stand. 

"Na, was ist mit ihm hier los?" fragte der Arzt den Zivi, der immer noch mit der Zeitung belustigt vor Maiks Gesicht herumwedelte. 

"Nichts, er ist masturbierend aufgewacht, hat es dann aber unterlassen. Ein Glück! Wie sie sehen können, ist dieser Patient leider nicht sehr schön!" sagte der Zivi, und Maik war das schon ein wenig peinlich. Der Arzt schaute zu den anderen Betten, in denen Justus und Emma lagen, und sah, dass auch sie die Augen geöffnet hatten und sich langsam regten.

"Folgendes!" sagte der gutaussehende Oberarzt: "Ich möchte ehrlich sein: Als Sie hier ankamen, waren auf Ihren Stirnen Zettel angebracht, auf denen stand "kaputt", und Sie waren zu einhundert Prozent eingegipst. Eigentlich sahen Sie so aus, als hätte Ihnen einfach jemand einen „McDonald’s“- Strohhalm in Nase und After gesteckt und Sie in ein Flüssiggipsbad geworfen, nach einer halben Stunde den Stöpsel gezogen und Sie dann in einen Hubschrauber nach Bremen gesteckt. Aber anscheinend, anscheinend haben Sie irgendwen auf ihrer Seite, denn ansonsten ist das eigentlich überhaupt nicht zu erklären, dass Sie jetzt hier so liegen. Gesund meine ich. Sie sind nämlich jetzt gesund!“

Hinter dem Chefarzt, den nun alle Vier ansahen, öffnete sich das Fenster ein Stückweit auf Kipp und Justin drückte sein Gesicht in die Fensterritze. 

Auf seinem Kopf trug er die klassische Brad-Pitt-Frisur aus dem Jahr 1994: Ein schöner glatter Haarschopf spannte sich in einem Bogen vom Mittelscheitel seines Kopfes ein Stück nach oben und fiel dann herab, so das die Spitzen seiner Haare perfekt an der Außenseite seiner Augenbrauen endeten. 

Mit der linken Hand griff er sich an die Haarwurzeln über seiner Stirn und zog die Finger in einer dynamischen Bewegung durch die Haare. Die Haare flogen zwischen den Fingern hindurch, als er seinen Kopf ein Stück weit nach hinten warf und so den Eindruck eines jungen, dynamischen Mitzwanzigers aus der Serie „Melrose Place“ zu perfektionieren versuchte. 

Justin griff in die Innentasche seiner gelben „Helly-Hansen“-Jacke, ballte eine Faust und zog sie wieder heraus, so dass aus der Faust große Geldscheine herauslugten. Umständlich versuchte er die Faust durch das gekippte Fenster zu stecken, bummerte aber nur immer wieder gegen den Fensterrahmen. Er zog sie zurück, überlegte kurz, streckte die Faust nach oben und ließ sie in den Kippspalt des Fensters heruntergleiten, öffnete die Faust und ließ das Geld fallen, schloss die Faust wieder, rutschte vom Sims vor dem Fensterbrett ab und blieb mit der Faust im Fenster hängen. 

Justin murmelte kurz einige Schimpfwörter, dann fiel ihm ein, das er doch die Faust öffnen könnte, damit die Hand durch den Spalt im Fensterrahmen passte, also öffnete er sie, und sie glitschte durch das Fenster. 
„Wie ein Affe!“ ärgerte er sich.

Dem Chefarzt, der gerade der Pflegerin ins Dekolleté glotzte, war das alles entgangen, und er sprach weiter zu den vier Freunden.

"Was erstmal interessant wäre: Wie heißen sie eigentlich mit vollem Namen?" fragte der Arzt.
"Und auch - wenn nicht sogar noch viel wichtiger: Bei welcher Krankenversicherung sind sie denn?"

"Da! Eine große Menge Geld!" rief in diesem Moment der Zivildienstleistende und deutete auf den Boden unter dem Fenster.

"OHA!" rief der Chefarzt. "Das ist ja besser als privat versichert!", stürzte sich zusammen mit der Pflegerin auf das Geld und begann, es in seinen Kittel zu stopfen.

"Könnten Sie uns denn kurz sagen, was mit uns los ist?" brachte sich Justus in das Gespräch ein.

Der Zivi trat zu Justus.

"Sag' mal, Alter, ist das da Maik?" fragte er und nickte mit dem Kopf in Richtung von Maiks Bett. 

"Ja, ich denke schon!" sagte Justus, hob den Kopf und schaute zu Maik hinüber, der sich zur Seite gedreht hatte, so dass sein blanker Hintern, an dem er sich jetzt verträumt kratzte, aus dem Krankenhausnachthemd schaute.

 Justus wandte sich mit verzerrtem Gesicht wieder ab. 

"Ja, definitiv, das ist Maik! Wieso?" fragte er den Zivi.

"Der Maik mit der Bombe am Eck an Silvester, mit dem Geldautomaten und so weiter?"

"Ja…, äh… Nein! Wieso willst Du das wissen?"

"Der Junge ist eine Legende. Ich war auch da und hab’ knapp achthundert Euro gefangen. Ein Traum! Dope bis zum Anschlag! Ein Traum!" 

"Und jetzt?" fragte Justus.

"Ich würde an Eurer Stelle schnell abhauen hier! Ich glaube, ich bin der einzige, der mitbekommen hat, dass Ihr hier seid. Aber die suchen den Maik! Warte, ich hab' hier was!" sagte der Zivi und wandte sich zu Maik um.

"Maik?" fragte Zivi.

"Was’n?" fragte Maik.

"Du bist Maik? Ich wollte Dir Danke sagen. Das war ein traumhafter Silvesterabend! Alle hatten Geld, wir haben gesoffen und gekifft und gezogen bis zum Anschlag. Ein Wahnsinn! Bis zum vierten Januar lief das alles. Geil! Warte - ich hab von dem Geld noch was gekauft. Das hast ja eigentlich Du bezahlt, das gehört eigentlich eh Dir!" sagte der Zivi, griff in seine Jeanshose, fummelte darin herum und zog ein fusseliges Stück irgendwas und eine Sonnenbrille mit aufgemalten schlafenden Augen aus der Hose. 

Er zog das fusselige Etwas zwischen seinen Fingern hindurch und klopfte es auf seinen Handrücken aus, um die Fusseln los zu werden. Dann zog er einen Plastikstreifen von der Rückseite ab und schaute Maik an, der ihn jetzt seinerseits interessiert ansah. Dann näherte sich der Zivi Maiks Gesicht und klebte das haarige Band seitlich von Maiks Kinn in einem Bogen über seine Oberlippe und an den Mundwinkeln vorbei zur anderen Seite. Ein feiner Truckerpornobalken! Dann setzte er ihm die Brille mit den aufgemalten, schlafenden Augen und den kleinen Löchern zum Durchgucken auf die Nase.

"Schon besser!" sagte er und wandte sich an die anderen:

"Eure Klamotten liegen da im Schrank. Ihr bleibt erstmal da liegen. Ich lenke den Arzt ab. Dann schnappt Ihr Euch die Klamotten - anziehen könnt Ihr sie draußen. Ich gebe Euch ein Zeichen, dann lauft Ihr um die Ecke. Ich komme hinterher und bringe Euch zum Ausgang hinter der Leichenhalle!“ sagte der Zivi.
„Verstanden?“

„Zero Bravo, check, Roger, Over, Alpha, Alpha, Omega, check!“ flüsterte Maik in seinem schwachsinnigen Militärkauderwelsch.

Der Oberarzt hing bis zur Schulter mit dem Arm hinter der Heizung, um auch noch den letzten von Justin geworfenen Fünfeuroschein hervorzukratzen. Dann hielt er diesen Schein in der geballten Faust so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Nur steckte er mit der Faust fest, er konnte nicht Faust und Geld und Freiheit auf einmal haben. Die Pflegerin zerrte an ihm - er ließ nicht los! 

Der Zivi öffnete die Tür und stellte seinen Fuß davor, so dass sie sich nicht mehr schließen konnte. Der Flur war bevölkert von Krankenhauspersonal und Kranken, die ihren Tropf spazieren fuhren. Der Zivi atmete kurz durch und schrie dann in Richtung Zimmer:

„Herr im Himmel, Jesus steh mir bei, Maria, Mutter Gottes!

Ein Keim rollt grade den Flur hinunter!“ schrie er dann in Richtung des Oberarztes.

Sofort sprang die Faust des Arztes auf. Er und die Pflegerin taumelten rückwärts durch den Raum, fingen sich und rannten in Richtung Flur. 

„Sofort sanieren!“ schrie der Oberarzt und bog um die Ecke in Richtung des Zeigefingers.
„Wo ist der Keim?“ schrie er den Zivi an. 
„Gerade da hinten um die Ecke!“ schrie der Zivi zurück, und der Oberarzt rannte los.

Der Zivi steckte den Kopf ins Zimmer. 

„Bazinga!“ rief er. 

Maik guckte doof, weil er von „Bazinga!“ im Kontext militärischer Funkkommunikation noch nie etwas gehört hatte. Emma schaltete als Schnellste, sprang auf, riss den Schrank auf, holte die Klamotten heraus und warf sie den anderen, die gerade aus den Betten aufstanden, zu.

„Los, los!“ rief sie, und die Vier sprinteten los, dem Zivi hinterher. Sie trugen nur die Krankenhausnachthemden und stürmten mit nackten Hintern in Richtung Ausgang - ein Gefühl, das Justus das letzte Mal in Verbindung mit seiner ersten Freundin und ihrem Vater gehabt hatte.
Die Fahrstuhltür stand offen, die Vier rannten hinein, und der Zivi drückte den Knopf zum Kellergeschoss, zur Leichenhalle, zum Hinterausgang. 

Die Türen schlossen sich hinter ihnen. 

Stille war im Raum. Nur leichtes Schnaufen war zu hören. 

Steffi atmete.
Justus atmete.
Emma atmete.
Maik atmete.

„Danke für die Hilfe!“ sagte Justus zum Zivi.
„Gruß vom ‚Club der Spinner’!“ antwortete der und drückte Justus eine Visitenkarte in die Hand.
„Ruf’ da an - wir haben einiges zu besprechen!“

Dann wurde es wieder ruhig.
Ganz entspannt. 
Endlich wieder in Freiheit!
Halbnackt und gutgelaunt.
Gemütlich, so ein Fahrstuhl! 
„Hallo Bremen!“ dachte sich Emma. 
„Ich mag dich gerne!“

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Tag 18 (29.3.2012)

Zurück auf den Straßen dieser Stadt


Da standen die Fünf im Fahrstuhl. Emma und Justus und Maik und
Steffi und der Zivi, der gerade Justus diese Visitenkarte in die Hand
gedrückt hatte.
Justus besah sie sich. Feines Papier - das fühlte sich rau und gut
zwischen seinen Fingern an. In Prägeschrift stand dort geschrieben:
"Le club des crétins, Bremen". Dahinter eine Telefonnummer: 0421-
100001.
"Interessant!" dachte er sich und versuchte sie in seine Hosetasche
zu stecken, rieb sie aber nur an seinem nackten Oberschenkel, was
sich immer noch gut anfühlte.
"Wirklich eine feine Karte!" dachte er sich, sah an seinen Beinen 
herunter und bemerkte erst jetzt wieder, dass er ja tatsächlich nur ein 
zu kurzes Krankenhausnachthemd trug.
Er schaute sich um und sah die anderen da stehen. Mit nackten 
Hintern standen sie da im rot ausgeschlagenen Fahrstuhl, und aus 
den kleinen Fahrstuhllautsprechern klang leise "The girl from Ipanema", 
und das war nun irgendwie doch ein bisschen unangebracht: 
Fahrstuhlmusik in einem Fahrstuhl ins Untergeschoss, in den Leichenkeller
des Krankenhauses, wo sich, wie der Zivi behauptet hatte, der geheime 
Hinterausgang dieses Krankenhauses befand. Geheimer Hinterausgang 
und Leichenhalle: Maik witterte schon eine Zombie-Apokalypse!
Leise pfiff er das Lied mit.
Einen Moment war noch Stille im Fahrstuhl, dann öffneten sich die
Türen leicht rumpelnd und der Zivi trat heraus, schaute nach links
und rechts, winkte dann die anderen aus der Fahrstuhlkammer heraus und
wies sie an, den Flur nach links entlang zu gehen.
Barfuss tapsten sie auf die kalten Fliesen hinaus und schlichen los,
immer dem Zivi hinterher, einmal links um die Ecke, vorbei an
einigen Stahlpritschen, auf denen - mit weißen Tüchern abgedeckt -
menschliche Umrisse zu erkennen waren, dann rechts vorbei an
weiteren Pritschen. Dann öffnete der Zivi eine kleine Tür und huschte
hinein. Die anderen folgten ihm und schlossen die Tür hinter sich. 
Steffi fuhr mit der Hand an der Wand neben der Tür entlang,
bekam den Lichtschalter zu greifen und drückte darauf. Die
Leuchtstoffröhre blinkte mehrmals kurz auf, bis sie ihr kaltes Licht in
den Raum warf.
Dicht gedrängt standen sie da und schauten sich um. Sie sahen:
Putzzeug - Eimer und Mob und Wischlappen und Besen.
"Die Strassen von Bremen hatte ich aber anders in Erinnerung!"
bemerkte Emma an den Zivi gewendet.
"Ja, so gut kenne ich mich hier auch nicht aus. Ich mag den
Leichenkeller nicht besonders!" antwortete er.
"Wieso nicht?" fragte Maik, dem der falsche Schnurrbart vom Kinn
hing.
Für einen Moment sagte niemand etwas.
"Könnten wir jetzt vielleicht raus?" fragte Justus, wandte sich
zur Tür und bemerkte den Spiegel, der an der Innenseite hing.
Es traf ihn wie ein Schlag.
Seine Haare! Unglaublich! Er wusste noch ganz genau, wie sie
eigentlich auszusehen hatten: Ein klassischer Herrenhaarschnitt.
An den Seiten ein wenig gestuft, oben etwas länger, mit einer Welle
in Richtung Hinterkopf. Was er jetzt erblickte, war etwas ganz
anderes: An den Seiten ratzekahl ausrasiert. Oben etwas kürzer
und nach hinten gegelt, und seinen Nacken herunter sponnen sich
kleine nasse Löckchen wie ein Wasserfall, der über seine
Schultern floss.
Nicht anders erging es den anderen.
Bei Emma war es vorher ein schöner, gepflegter Kurzhaarbob
gewesen - nun waren auf Emmas Kopf eng eingeflochtene
Cornrolls, welche in Rastazöpfe übergingen und über ihre Schultern
hingen. Auffällig waren die unglaublich schlecht daran gepappten
Extensions, welche in bunten Holzperlen endeten.
Maik hatte immer noch kurz geschorene Haare, nur waren in die
Seiten mit wahnsinnig viel Bedacht Logos von Nike, Adidas und
McFit einrasiert.
Steffis Haare waren vorne zu einem strengen, aus blondierten
Strähnchen bestehenden Scheitel an den Kopf geklebt, während
der Hinterkopf vor auftoupierten Haaren zu explodieren schien.
Steffi war die einzige, die sich nicht besonders wunderte, weil sie
einfach aussah wie vor viereinhalb Jahren.
"Was ist da los?" fuhr Justus zum Zivi herum. Dabei drehte er seinen
Kopf mit einer Geschwindigkeit, dass seine von Gel triefenden
Nackenhaare in seine Augen stachen und ihn zum Weinen
brachten.
"Naja, also," begann der Zivi, "ich, ich bin doch Zivi. Das bleibt man
ja auch nicht ewig. Da hat mich meine Mutter neulich gefragt: 'Was
willst Du denn machen mit Deinem Leben?' Und das hat sie gefragt,
als ich gerade vom Dienst kam und noch ziemlich high war, und
ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und hab' sie nur angeguckt.
Mir ist nichts eingefallen, und dann hab ich das erste gesagt, was
ich gesehen habe, und das waren Haare. Und da hat sie gesagt:
"Na gut, Friseur, das ist ein ehrbarer Beruf - da kannst Du gleich nach
dem Zivi bei Gesine anfangen."
Und da habe ich dann Angst bekommen, weil - Gesine, das ist die
Stiefmutter von Shenol, und Shenol war in der Zehnten immer geiler 
gewesen als ich und hatte mich geschlagen. Da habe ich mir natürlich
vorgestellt, wie das sein würde, wenn ich dem und seinen Azlacks 
die Haare schneiden müßte. Und dann hab ich mir vorgestellt, wenn ich das
verkackte, wie er mich dann abstechen würde, oder so.
Und dann lagt Ihr da halt so, und das Krankenhaus, das hat die
Friseure eingespart. Die laufen nicht mehr über die Krankenkasse, also
dachte ich mir: 'Ich kann doch mal üben!'. Und voll viele, denen ich
Euch gezeigt habe, fanden das voll gut, dass ich schminken und Haare
schneiden kann. Aber jetzt zwingt mich Shenol, seinen Freunden
umsonst die Haare zu schneiden, weil die mich sonst abstechen!"
"Du hast uns Leuten gezeigt, wie wir da so lagen?" schrie ihn
Emma an.
"Ja, aber nicht so vielen!"
"Arschloch!" sagte Emma
"Und wieso hab ich hier Nike und Adidas und McFit auf den Kopf
rasiert bekommen?" fragte Maik
"Ach so, ja, das wollten die so mieten mit Fotoshooting und so
weiter. Wenn's Dir nicht gefällt, wie das aussieht, dann solltest Du
nicht soviel auf die Werbetafeln an den Straßenbahnhaltestellen
achten!" sagte der Zivi.
"Du hast uns vermietet?" schrie Justus ihn an.
"Nein, ich hab Euch nicht vermietet. Mit Dir war ich nur ein paar
Wochen zusammen auf "Gay Chat Roulette" unterwegs, weil Shenol
mich gezwungen hat, meinen Penis da in die Kamera zu halten,
und das wollte ich nicht. Das ist doch nachvollziehbar, oder?
Und Steffi hab ich auch nicht vermietet. Mit der war ich nur zweimal
im Kino und bei "Burger King". Und mit Emma hab ich gar nichts
gemacht. Vor der habe ich irgendwie Angst, ausserdem wollte der
Chefarzt irgendwas von ihr, da misch' ich mich nicht ein - mit dem
Chef legt man sich nicht an, da geht es immerhin um meinen Job!"
"Arsch!" sagte Steffi.
"Bring' uns hier raus!" sagte Justus und öffnete die Tür, packte den
Zivi am Arm und schob ihn voraus.
"Wo lang?" herrschte er ihn an.
"Ist ja gut, ich bring Euch!" sagte der Zivi und zündete sich eine Zigarette
an. Maik haute sie ihm mit der flachen Hand aus dem Gesicht.
"McFit? Seh' ich aus, als würde ich in so ein scheiss Fitness-Studio
gehen? Sieh' bloß zu, Du Arsch!"
Der Zivi hielt sich die Wange und lief los, links um die Ecke, rechts
um die Ecke. Dann standen sie vor einer großen Stahltür, die der
Zivi aufdrückte. Er und Steffi und Justus und Maik und Emma
betraten einen großen gekachelten Raum, in dem Leichen mit T-Schnitten
im Raum lagen. Auf neun Stahlbahren lagen sie mit heruntergeklapptem
Brustkorb, und irgendein Witzbold hatte alle neun Köpfe in Richtung der
Tür gedreht, so dass sie jetzt den in den Raum kommenden Freunden 
in die Augen schauten.
"HaHa!" lachte der Zivi, nur um sich von Steffi eine Nackenschelle
zu fangen.
Emma schaute interessiert. Alle die Leichen, die sie anschauten,
schienen zu lächeln. "Schön!" dachte sie sich, blieb stehen und
näherte sich dann einer der Stahlbahren. Da griff Justus nach ihrer 
Hand. "Nicht anfassen!" zischte er, und sie liefen weiter an der
stählernen Schrankwand vorbei, die aus zahllosen Stahltüren
bestand, welche klapperten, wenn man zu stark aufstampfte. Es
klang so, als wollten die hier Eingelagerten ausbüxen.
Sie gelangten zur Fluchttür, an die jemand ein Plakat des Filmes
"Zombie Apocalypse" geklebt hatte. Der Zivi stieß die Tür auf, und
sie gelangten ins Freie.
"Tschüss!" sagte der Zivi und schloss die Tür hinter ihnen. Dann zog
er einen zerknitterten Brief aus seiner weißen Hose. Er öffnete den
Umschlag, wie er es schon oft getan hatte, las den Brief und
begann zu schluchzen. Dann las er ihn noch einmal:
"Moin Alder. War grad bei meinen Eltern, die nun altersbedingt
umziehen. Ich kam rein, und meine Mutter hielt mir einen 'MAGIC GLASS
Rude Boy' mit original Chillum unter die Nase. Den hatte ich mal von
Dir geschenkt bekommen, und sie hatte ihn mir weggenommen und
versteckt. Habe ihn gesäubert und getestet. Der Piepton entsteht
immer noch, wenn ich dran ziehe. Schöne Erinnerungen. Mach's gut.
Deine Ex". Der Zivi legte sich zu den Leichen auf die Stahlpritschen
und heulte weiter.
Vor der Tür standen die vier Freunde in ihren Krankenhauskitteln
und ihren Alltagsklamotten in der Hand. Über der Tür leuchtete
funzelig eine Energiesparlampe, die ihr Licht auf die um sie
herumgesponnenen Spinnenweben warf. Es war dunkel geworden.
"Laß' ma umziehen!" sagte Maik, streifte seinen Kittel ab und stand
splitterfasernackt vor den anderen, die ihn anstarrten.
"Was denn?" fragte er, während er sich seine Hose anzog.
Die anderen waren ein bisschen beschämt aufgrund dieser
Nacktheit und sahen ihm zu, wie er seinen Penis in die Hose
schnalzen liess.
"Uuh!", machten Emma und Justus, nur Steffi schaute verschämt
und doch interessiert.
"Trägst du keine Unterwäsche?" fragte sie.
"Nein, ich kann die Dinger nicht ab - das ist so ein freies Gefühl, das
gefällt mir gut. Freiheit ist ein gutes Gefühl, und nichts repräsentiert
Freiheit im Alltag so stark wie eine Hose mit ohne was drunter. Drei
Kleidungsstücke, das reicht: Schuhe, Hemd, T-Shirt.
Das ist wie bei einer Charaktererstellung. Das ist sozusagen die
Grundierung. Kleidung muss funktional sein, ein Add-on zur Basis.
Die Basis ist immer: Hose mit ausreichenden Taschen, T-Shirt, festes
und doch sportliches Schuhwerk", sagte Maik, der sich jetzt das
T-Shirt über den Kopf zog.
"Ja, so ist das heute, alle fett, niemand macht Sport, aber Baseballcap
auf, Poloshirt über, Boxershorts an, Jogginghose an, Tennissocken
an den Füssen, Basketballboots drüber!" sagte Justus.
"Ich bin doch nicht fett!" sagte Maik
"Nein, du bist nicht fett," sagte Steffi, ein bisschen paralysiert
aufgrund von Maiks Körper, mit dem sie nun wirklich nicht
gerechnet hatte. Das war immer ganz seltsam: Menschen, die
finden, dass sie gut aussehen, haben immer einen guten Körper.
Sobald sie Kleidung überwerfen, verschwindet bei Menschen, die
sich nicht schön finden, automatisch der noch so schöne Körper in
den geknickten Schultern und dem gebogenen Rückgrat. Der beste
Diättipp - und da kannte Steffi sich aus - war der hier: Steh' aufrecht in
der Öffentlichkeit! Weil - lustig: Wenn sich zwei Leute treffen und
beide stehen aufrecht, Bauch rein, Brust raus, und wenn die dann
zusammen in der Kiste landen, dann kann man das irgendwann
nicht mehr aufrecht erhalten, und dann fällt der Bauch raus und die
Brust rein, und dann kann man gut unterscheiden, ob es etwas
Ernsthaftes wird, oder nicht.
Weil - einen Körper mögen und einen Körper geil finden, das sind
zwei paar schuhe, weil - den geilen Körper, den will man auffressen,
und den Liebhabekörper, den will man nur so bei sich haben. Weil er
einem gut steht. Das ist wie mit einer tollen Jacke. Die ist vielleicht
toll, und dann kauft man sie, aber sie steht einem gar nicht, weil -
man hat wieder nur drauf geschaut, wie gut die Jacke aussieht, und
gar nicht geguckt, ob sie einem auch steht.
Steffi sah an sich herunter und drehte sich zur Seite, ging einen
Schritt aus dem Lichtkegel der Lampe heraus, die über der Tür
hing, vor der sie standen. Sie zog den Kittel über den Kopf, und
Maik betrachtete Ihren Rücken. "Gar nicht mal schlecht!" dachte er
sich und versuchte sich dabei wie ein Gentleman zu fühlen, was
ihm aber natürlich nicht gelang. Es war utopisch zu denken, dass
Maik jemals etwas anderes als ein sabbernder Teenager sein
könnte!
"Hör auf zu glotzen!" sagte Steffi. "Ich weiß wohl, das Du glotzt!"
"Ich glotz gar nicht - ich schau' mir nur deine Tätowierung an!" sagte
Maik.
"Ich weiß ja wohl, dass ich gar keine Tätowierungen habe!" antwortete
Steffi, zog ihre Hose an, Top und Pullover über den Kopf und schlüpfte
in die Jacke.
Maik räusperte sich, zog sein Telefon aus seiner Tasche und begann,
sinnlos darauf herumzutippen.
Emma verzog sich um eine Ecke, Justus um die andere, und auch
sie wechselten vom Krankenhauskittel in ihre Alltagskleidung, bestehend
aus Jeans und normalem Oberteil. Als sie fertig waren, trafen sich alle
Vier unter der Glühbirne wieder.
"Was machen wir denn jetzt?" fragte Steffi.
"Ich weiß nicht. Ist schwierig. Ich frag' das nur, um mal kurz festzustellen,
dass ich nicht alleine verrückt bin. Wart Ihr auch im Himmel,
habt diesen Typen getroffen, der behauptet hat, er sei Gott und
wir wären jetzt Apostel?" fragte Justus in die Runde.
"Ja, schon - ich denke mal, das haben wir uns alle nicht eingebildet!"
sagte Emma, sah die anderen an und diese nickten.
"Und der hat uns gesagt, dass wir - jeder für sich - jetzt einen Auftrag
haben, oder?"
"Ja!" sagte Emma.
"Gut, dann stimmt das ja alles soweit. Das ist gut! Ich kam mir
schon vor wie so ein religiöser Spinner. Aber was machen wir jetzt
damit?" fragte Justus, dem schon klar war, das man keinem
normalem Menschen diese Geschichte erzählen konnte, weil -
Problem - religiöser Quatsch, der einem passiert ist, den kann man
nur religiösen Spinnern erzählen, und wenn religiöse Spinner die
einzigen sind, die einem glauben, dann dauert es nicht lange und
man klingelt mit dem "Wachturm" in der Hand an irgendwelchen
Wohnungstüren in sozialen Brennpunkten mit gesteigerter
Beschaffungskriminalität.
"Guten Tag, ich wollte mit ihnen über Gott reden!"
"Ah, der liebe Gott schickt Sie?"
"Ja, der liebe Gott schickt mich!"
"Na, also wenn der liebe Gott Sie direkt schickt, dann habe ich noch
viel mehr ein Wörtchen mit Ihnen zu sprechen!"
"Na, das ist ja schön. Ist das eine abgesägte Schrotflinte in ihrer
Hand?"
"Ja, Gott soll sich entschuldigen!"
"Was?"
"SAG' ENTSCHULDIGUNG!"
"TSCHULDIGUNG!"
"Und sie sind wirklich von Gott gesandt?"
"JA!"
"Ok, dann entschuldige ich mich auch bei Gott!"
"Das ist gut!"
"Kommen Sie morgen wieder. Ich habe heute noch viel vor und das
Gefühl, mich morgen wieder entschuldigen zu müssen."
"Da können Sie aber besser in die Kirche gehen!"
"Nix! Du kommst schön morgen wieder! Sonst komm' ich mal bei Dir
vorbei und entschuldige mich auf meine Art!"
Justus tauchte aus seinem Gedanken wieder auf.
"Und richtig ist doch auch, dass Gott mit runtergekommen ist, sich
jetzt Justin nennt und auch hier irgendwo unterwegs ist?" fragte
Justus.
"Ja, das stimmt, der muss hier irgendwo sein!" antwortete Steffi,
und Maik legte die Hände an den Mund und rief: "Justin...!
JUUUUSSSSTINNNN??? WO BIST DU?" brüllte er in den
Abendhimmel hinaus.
Nichts tat sich.
"Wie machen wir denn jetzt weiter?" fragte Justus noch einmal.
"Kommt drauf an!, sagte Emma. "Der Typ war seltsam, aber die
Frage ist ja: Sollten wir das machen, was er gesagt hat?"
"Also, ich fand das ganz gut, was er gesagt hat!“ sagte Maik. „Ganz
gute Idee, die Leute aus den Computerspielen zu holen und auf die
Strasse zu bringen. Ich muss mal kurz schauen", sagt Maik und
blickte auf sein Smartphone, tippte ein bisschen herum und schaute
wieder auf. "Ich weiß, wo heute Abend eine grosse LAN-Party ist - da
ist gleichzeitig auch ein großer World-of-Warcraft-Raid. Da muss
ich hin, wenn ich mit denen sprechen soll!" sagte er.
"Mir hat er ja gesagt, ich solle die Menschen mehr mögen, und
vielleicht ist so ein Trotteltreffen gar nicht der schlechteste Ort dafür.
Ich würde dann wohl mitkommen!" sagte Justus und schaute Emma
an.
"Zu mir hat er gesagt, dass ich mich gar nicht verändern müsse!“ sagte
Emma. „Und wenn Gott so was zu einem sagt, dann sollte man sich
da wohl dran halten - ich meine, besser kann es ja wohl kaum
laufen. Und sonst hab ich eh' nichts zu tun. Bin dabei!"
"Ich glaub' zwar nicht, dass ich auf einer LAN-Party den tollen Mann
fürs Leben finde, aber was soll's! Wenn das stimmt mit dem
Weltuntergang, dann wäre es wohl am klügsten, wenn wir
zusammen blieben!" sagte Steffi.
Die Vier standen zusammen, schauten einander noch einmal an, und
irgendwie wusste jeder, dass die anderen wichtig geworden waren
schon alleine durch diese Gott-Sache, weil - das konnte man nun
wirklich keinem Außenstehenden erzählen!
Sie verließen den Hinterhof der Leichenhalle und gingen in Richtung
Straße. Emma hob den Arm, ein Taxi hielt an der rechten Spur und 
die Vier stiegen ein.
"Zur Stadthalle!" rief der aufgebrachte Maik. Die anderen sprangen
ins Auto, und sie brausten los die Bismarckstraße hinunter zum
Hauptbahnhof, dann in Richtung Schwachhausen und weiter zu
Stadthalle. Sie stiegen aus. Die Sterne strahlten über der
Bürgerweide, die Osterwiese wurde gerade aufgebaut. Riesenräder
ragten in den schwarzen Nachthimmel und die Sterne spiegelten
sich in den hochpolierten Kanzeln des "Breakdancers".
"Ich geh' jetzt wirklich auf eine LAN-Party!" sagte Justus. "Ob das so
das richtige ist?" überlegte er. "Vielleicht ist das hier wirklich mal
eine Prüfung. Eine Halle voller Spasties. Mit Hass habe ich keine
Chance!" dachte er, und tatsächlich: Das war wirklich eine Prüfung
für einen, der sich immer etwas überlegen gefühlt hatte, der sich für
einen hielt, dessen Leben angefüllt ist mit tollen Gedanken und super
Erlebnissen!
Mit dieser Einstellung ging es ihm ja gar nicht schlecht, aber das
war schon gefährlich! Stelle sich nur mal einer vor, sie würden da
jetzt hineingehen, und alle diese pickeligen, pizzafressenden und
colasaufenden Idioten hätten objektiv mehr Spass am Leben als
Justus selbst! Wie sollte er denn damit umgehen? Also,
keinen Hass mehr - das konnte hier ganz schnell nach hinten
losgehen, sowohl emotional als auch körperlich, denn dass die
Spieler da drinnen die besseren Schützen waren als er, das stand
ausser Frage. Schwierig!
"Also, wir werden das wie folgt machen!" sagte Maik zu den
anderen Drei. "Hier, Justus, ist eine Taschenlampe. Ich geh' runter in
den Keller - ich kenn mich da aus, frag' nicht, warum. Da oben sitzen
jetzt zweitausendsechshundert Gamer in einer Halle. Die will ich
haben. Das sind die, die Justin gemeint hatte. Das sind die, die weg
von den Rechnern sollen. Das sind die, die auf die Straße müssen.
Also: Ich geh' runter in den Keller. Um genau 19.58 Uhr schalte ich
den Strom ab. Dann gehen die Rechner aus. Alle Spielstände sind
gelöscht. Dann schalte ich den Strom wieder ein. Das bedeutet, alle
Rechner und Server müssen erst wieder hochgefahren werden.
Das wiederum bedeutet, die können etwa drei Minuten lang nichts machen.
Vorne in der Halle steht eine Bühne. Da gibt es ein Mikrophon. Ich
bin nicht so gut auf der Bühne, mir ist das immer zu doof. 
Also", sagte Maik und schaute Justus in die Augen, "Du gehst da auf die
Bühne und überzeugst die, Dir zu folgen!"
"Ist nicht Dein Ernst!" sagte Justus. "Du glaubst ernsthaft, ich würde
mich da vor fast dreitausend Gamerspaddeln auf die Bühne stellen
und die überreden, mitten in ihren Ballerkriegsspielen aufzuhören,
mit mir raus zu marschieren und durch die Stadt zu rennen? Das ist
Dein Plan?"
"Ich finde, das klingt ganz gut, ich glaube, Du kannst das!" mischte
sich Emma ein. "Du machst doch immer einen auf grossen
Charismatiker!"
„Mach' ich gar nicht!“ sagte Justus.
„Oh, doch tust Du das!“ sagte Emma.
„Also, was ist jetzt?“ fragte Maik
Justus' Gedanken rasten. Auf der einen Seite: Brrr! Wie ätzend dort
zu sprechen! Brrr! Auf der anderen Seite: Auftrag von Gott, dachte
er sich. Aufträge von Gott kriegt man ja auch nicht jeden Tag, und so
ganz falsch war das ja auch nicht: Mal ein paar Leute mal ein
bisschen mehr mögen. „Die können ja auch nichts dafür, dass sie
halt so sind, wie sie sind - ich bin ja auch so wie ich bin! Das
müssen die andern ja auch so hinnehmen!
Und was sage ich denen?“ fragte Justus Maik.
„Irgendwas halt!“ sagte Maik. „Die stehen drauf, wenn jemand
denen sagt, was sie tun sollen. Immerhin sind das größtenteils
ängstliche Deutsche zwischen sechszehn und vierundzwanzig. Die
sind da ziemlich anfällig, wenn sich jemand hinstellt, so tut als
könne er was und ihnen sagt, was sie zu tun haben!“
Der Mond schien immer noch über die Osterwiese, die Sterne
funkelten still über der Stadt Bremen und blitzten auf den Kanzeln des
"Happy Traveller", der gerade eine Testrunde drehte. Das Riesenrad
sprang an und hob einige betrunkene Männer zum Mitreisen in Richtung
Himmel.
Justus strich sich durch die Haare und stapfte los in Richtung
Eingang.

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Tag 19 (5.4.2012)

Die große LAN-Party


Dicht gedrängt standen unterschiedliche Teenager vor dem
Haupteingang der Stadthalle und rauchten hektisch Zigaretten.
Das war eigentlich ein "NO GO", denn im Multiplayer, da gibt es
keinen Pausenmodus. Einer, der vor der Tür steht und raucht, der
war in einem der Spiele, die in dieser Halle gespielt wurden, wie ein
hirnloser Zombie, der nur darauf wartet, angegriffen zu werden.
Aber rauchen muss sein. Es ist cool und steigert so oder so das
Ansehen in der Clique.
"Also, Uhrenvergleich!" sagte Maik und hielt Justus seine Uhr hin.
"In exakt vierundzwanzig Minuten geht der Strom aus. Du weißt,
was Du zu tun hast!"
"Nö, ich hab' keine Ahnung!" antwortete Justus. "Aber was soll's - mit
den Hackfressen da drinne sollte ich wohl fertig werden!"
"Vierundzwanzig Minuten. Um Punkt 19.57 Uhr stehst Du da auf der
Bühne. Ist das klar?" zischte Maik noch einmal.
"Nicht in dem Ton!" antwortete Justus. Maik schaute ihn an.
"Pass auf, Justus, das hier ist nicht einfach. Jetzt ist nicht die Zeit
für Nettigkeiten. Ist nicht böse gemeint, aber - hast Du verstanden?"
sagte Maik, und Justus nickte.
Was für eine krumme Gestalt der Typ doch war!
Maik verabschiedete sich in Richtung Hintereingang, nicht ohne
plötzlich seine Körpersprache zu verändern. Der schlurfige Gang,
mit dem er sonst durch die Weltgeschichte stratzte, war einer
seltsamen Art der Fortbewegung gewichen, die nur noch vorwärts
oder seitwärts funktionierte. Bei einem Auto blieb er stehen,
verschanzte sich in Deckung und wackelte von links nach rechts.
Dabei hob er immer einen Fuss, setzte ihn zur Seite und zog dann
den anderen Fuss nach. Mit diesen Roboterbewegungen lavierte er
sich durch die Autos auf dem Parkplatz und war irgendwann im
Pulk der Gamer verschwunden, die nach wie vor ihre Rechner aus
den Autos ihrer Eltern luden und sie mit Einkaufswagen in die
Mehrzweckhalle buxierten.
Ein schönes Bild, diese Menschen hier zu sehen, während nebenan
gerade die Osterwiese aufgebaut wurde, an deren Karussells und
Autoscootern schon einen Tag später andere Jugendliche sitzen
würden und auf die schwachen Gamer warteten, um sie
abzuziehen und damit ihre Macht im realen Leben zu beweisen. Auf
einem zwischenmenschlichen und niedrigeren Level der Gewalt,
als der Gewalt, die die Gamer jetzt an ihren Computern in der Halle
feierten! Wären alle auf der Osterwiese mit Präzisionsgewehren
ausgestattet, würde es dort ganz anders aussehen!
Der Mond blitzte durch das Riesenrad, das eine weitere Testrunde
drehte. Immer noch johlten die jungen Männer zum Mitreisen mit
ihren geilen "Breakdancer"-Bomberjacken in ihren Kanzeln.
Emma, Steffi und Justus standen vor der Halle und schauten sich
um. Was für eine seltsame andere Welt, in der diese Leute hier
wohnten! Justus zündete sich eine Zigarette an und stand mit dem
Rücken zu den anderen Rauchern, die gerade Pause machten und
sich unterhielten.
"9/11 was an inside job!" rief ein junger Kerl aus, der dastand und
hektisch an der Kippe zog. "Alles deutet daraufhin, das die
mächtigen der neuen Weltordnung nur einen Grund für einen
neuen Krieg gesucht haben. Damit sie irgendwen angreifen
konnten. Ein Drittel des Umsatzes der westlichen Industriemächte
wird in der Rüstungsindustrie umgesetzt. Wenn kein Krieg mehr ist,
dann wissen die ja gar nicht, woher die sonst das Geld bekommen
sollen. Das ist alles eine Frage von Umsatz. Wenn die kein Land
und keinen Krieg mehr haben, wohin sie mit ihrem Militär fahren
können, brauchen die ja auch das ganze Öl für Benzin und Kerosin
gar nicht mehr, und wenn die kein Militär mehr brauchen, dann brauchen
die auch das meiste von dem Öl, aus dem sie Benzin machen,
gar nicht mehr, für das die Armee Kriege führt!"
"Ja! Ja!" pflichtete ihm ein kleinerer Mann zu, der ebenso energisch
an seiner Kippe zog. "Sag es ihnen - wer hätte denn etwas von den
Kriegen. Niemand, außer denen da oben! Und immer kriegt es der
kleine Mann ab! Immer! Wir können gar nichts mehr machen! Die
neue Sklaverei! Die neue Weltordnung! Armageddon!
Weltuntergang!"
"Schicke Schuhe!" mischte sich Justus ein und zeigte auf das
Schuhwerk des kleinen Mannes.
"Danke!" antwortete der kleine Mann. "Das sind die neuen 'Nike Air
Max LTD'!"
"Und die Cola, die Du da trinkst, die ist bestimmt wahnsinnig lecker!"
sagte Justus und blickte ihm in die Augen.
"Ja, sehr erfrischend!" gab der kleine Mann zur Antwort.
"Davon hast Du bestimmt zu Hause noch mehr. Du hast doch ein
Zuhause. Und einen Job doch auch, oder nicht?"
"Job gerade leider nicht, aber ein Zuhause, ja, hab ich!" sagte der
kleine Typ.
"Also stehst Du hier mit Deinen feinen Nike-Botten und Deiner Cola
und drinne läuft Dein Rechner, auf dem Du zum Spaß Krieg spielst,
und zu Hause hast Du massig Flaschen Cola im Kühlschrank und
Heizung und fliessend Wasser und Internet und frische Unterhosen.
Es scheint ja wirklich bergab zu gehen mit Deiner Welt. Eine Qual
muss die westliche Welt für Dich sein. Schlimm, dass der Teil der
Welt, in dem Du lebst, rücksichtslos alles nieder macht, damit es Dir
gut geht. Es muss schlimm sein, vor Langeweile zu sterben!" sagte
Justus, und der kleine Mann schaute ihn bedröbbelt an.
"Ja, nein, aber ... wir werden alle immer von den Massenmedien
angelogen und manipuliert, damit wir das machen, was die
Bilderberger und die ganzen Geheimorganistationen von uns
wollen!"
"Und Du willst nicht mehr belogen werden?" fragte Justus.
"Nein, will ich nicht!" sagte der kleine Mann.
"Und Dir ist nie in den Sinn gekommen, das Belogenwerden das
einzige ist, was einen Menschen wie Dich wirklich glücklich machen
kann? Willst Du wirklich wissen, dass Deine Mama immer Deinen
Bruder, den mit dem richtigen Leben, lieber hatte? Das Dein Papa
von einem besseren Leben träumt und nur zu feige ist, um offen 
zuzugeben, dass Du es ihm mit Deiner Geburt versaut hast? Das Du 
ein Unfall warst? Und das alles, was Du an tollen Sachen hast, nur
Deine tollen Sachen sind, weil die Sachen, die jemand in Afrika oder
Asien hat, so unglaublich schlecht sind? Du hast eine "Playstation",
weil die kein Wasser zum saufen haben. Jedes Jahr, das Du länger
lebst, lebst Du nur mehr, weil da drüben einer eines weniger lebt!"
sagte Justus und trat seine Zigarette aus, drehte sich um und ging in
Richtung Haupteingang.
Steffi und Emma folgten Justus, und Steffi und Emma folgten die
schüchtern-geilen Blicke vieler Teenager, die verstohlen davon
träumten, dass diese Frauen hier waren, weil sie das Leben eines
Hardcoregamers geil fänden. An Phantasie mangelte es den Teens
hier mit Sicherheit nicht!
"Wann bist Du denn das letzte Mal so angeguckt worden?" fragte
Emma leise an Steffi gewandt. "Och, manchmal passiert mir das -
also früher, früher habe ich mich oft mal so sehr angemalt wie ich
konnte und bin dann nur einmal durch die Diskothek gegangen, nur
so ein paar Blicke fangen, und dann bin ich wieder zurück nach
Hause. Dann hab ich mich abgeschminkt, und dann war der Abend
schon zu Ende. Das waren nicht meine traurigsten Tage. Aber so wie
hier, nee, das hab ich noch nicht erlebt. Da muss man ja nicht mal
Angst haben!" sagte Steffi, und sie gingen weiter Justus hinterher
zum Eingang.
"Drei Personen, das macht dann hundertvierzig Euro!" sagte der
nervöse Jüngling, der hinter der Eintrittskasse saß.
"Hör mal, so ein süsser Kerl wie Du sitzt hier rum und muss Karten
abreissen - das ist doch auch ungerecht. Wieso machst Du denn
das? Willst Du nicht viel eher da drinne bei Deinen coolen Freunden
sein? Und wie heisst Du überhaupt?" fragte Steffi.
"Ich heisse Nalya Hicaru. Wir wechseln uns hier an der Kasse
stundenweise je nach Klassen ab: Von sieben bis acht Paladine, von
acht bis neun Schurken und Todesritter von neun bis zehn. Priester
von zehn bis elf, Schamane von elf bis zwölf, und dann machen wir
die Tür zu, um zu Raiden!"
"Ach so! Raiden!" sagte Steffi und hatte keine Ahnung, wovon der
Kerl da redete. "Und Du bist ein Krieger?" fragte sie.
"Ich??? Ein Krieger???" fuhr er aus der Haut. "Seh' ich aus wie ein
verfickter Sonderschüler??? Ich bin ein Paladin, Stufe
zweiundachtzig! Noob!"
"Ist ja gut, Du süsser Paladin. Hätte ich wissen können, denn ein
bisschen hast Du mich ja auch schon verzaubert. Was macht ihr
Typen denn hier, wenn Ihr fertig gespielt habt?" säuselte Steffi.
"Wie, fertig?" fragte der Teenager.
"Also, irgendwann müsst Ihr ja mal fertig sein - Euer Spiel muss ja
mal ein Ende haben", sagte Steffi.
"Ende?" fragte der Teenager.
"Kein Ende?" fragte Steffi.
"Das Ende ist immer nur der Anfang!" sagte der Teenager
hochphilosophisch, woraufhin sich Justus einmischte.
"Ist ja gut jetzt. Es reicht, Steffi. Gib' ihm das Geld!" sagte Justus
und schaute Steffi an.
"Hundertvierzig Euro!" wiederholte der Bub.
"Hundertvierzig Euro? Für was denn?" fragte Justus den
Kassenknaben.
"Na, für alles!"
"Für einen Schreibtischplatz, Elektrizität und ein Kabel?"
"Ja!"
"Das ist aber ja bisschen teuer!"
"Dafür gibt es aber auch noch ein Mousepad dazu!"
"Ah, ein Mousepad!"
"Und ein T-Shirt!"
"Oho, ein T-Shirt! Und da steht dann drauf: 'Mein Vater hat mich zum
Versagertreffen gebracht, und alles, was ich bekommen habe, waren
Pickel!' Oder was?"
"Nein, einfach ein weißes T-Shirt. Da kann man dann was
draufschreiben. Wir Gamer sind nämlich auch kreativ!"
"Super!" sagte Justus gekünstelt, griff in seine Tasche, holte ein
paar Geldscheine heraus und knallte sie auf den Tisch. Sein
Nervenkostüm lag mittlerweile blank, so umgeben von diesen
ganzen Typen hier. Ein Wahnsinn! Was dachten sich diese Typen
denn!
"Das reicht nicht!" sagte der Teenager hinter der Kasse und zeigte
auf das Geld.
Steffi lehnte sich über den Kassentisch und flüsterte dem
Kassenheini etwas ins ohr. Der schaute sie wie paralysiert an, griff
in die Kasse, zog drei quitschgelbe Bändchen hervor und drückte
sie ihr in die Hand. "Danke, Süsser, bis später!" sagte Steffi, warf ihm
einen Kuss zu, winkte doof mit den Fingern einer Hand das
klassische Tussiwinken, wandte sich um und ging in Richtung
Eingangsdrehkreuz. Es war bereits 19.45 Uhr. Nur noch dreizehn
Minuten, bis Maik den Strom abschalten wollte.
Die drei vom "Club der Spinner" drehten sich brav durch das
Drehkreuz und gelangten in den dahinter liegenden Flur. An den
Wänden hingen Poster von hochgezüchteten Soldaten mit riesigen
Oberarmen und riesigen Waffen, die wie alberne Verlängerungen
ihrer Penise wirkten, Penise mit Hunderttausenden von Knöpfen und
Pinökeln, seltsamen Dingern zum Dranherumspielen, Fernrohren,
Lasern, und Nachfüllmagazinen. Ein manuell nachladbares
Magazin am Penis - wahrscheinlich wirklich der Traum der meisten
hier anwesenden männlichen Gestalten!
Emma schaute sich die Männer auf den Postern an und überlegte,
ob sie diese Männer auf den Plakaten irgendwie anmachten. Sie
überlegte und musste es aber am Ende verneinen, was diese
Soldaten anging, auch weil sie ja überhaupt gar nicht wusste, was
sie mit denen hätte anfangen können. Die sahen alle nicht so aus,
als ob sie auch nur einen Satz halbwegs gerade vor den anderen
bringen könnten, geschweige denn, dass sie mal einen Witz machen
könnten!
Die Frage war ja, wie die männlichen Besucher, die hier um Emma
herumwuselten, auf den Traum kamen, so sein zu wollen, wie die
Übermänner auf diesen Plakaten. Ob Frauen diese Muskelmonster
früher wohl einmal als attraktiv empfunden hatten? Und wenn ja,
wieso denn bloß? Wegen der Macht, die sie ausstrahlten, ja wohl
kaum! Es war doch schon, so lange es die Menschheit gab, klar, dass die
Macht bei denen sitzt, die klug genug sind, die Starken zu regieren.
Die Kleinen, die nachdenken mussten und nicht wie die Großen
gleich zuschlagen konnten. Die Kleinen, die, wenn sie erst einmal
verstanden hatten, wie sie Zugriff auf die Stärke der Großen hatten,
die Welt in Brand setzten konnten. Es hat ja seinen Grund, dass
kaum Diktatoren die Einmetersiebzig-Marke in Körpergrösse
übersprangen!
Klein und eher nicht so stark waren die meisten der Jungs, die jetzt
geschäftig um sie herumwirbelten und immer "Netzwerk, Netzwerk!"
und "Adapter, Adapter!" riefen.
Unabhängig von der aktuellen Mode hatte Emma etwas für Nerds
übrig: Erstens hatten die immer so etwas Jungfräuliches, das man
noch prägen konnte, und zweitens, und das war Emma ein
bisschen peinlich, waren sie tatsächlich die, die Macht besassen.
Und die Tatsache, dass die, die die Computer beherrschten, früher
oder später die Welt beherrschen würden, war ja unumkehrbar. Das
würde nicht weniger werden. Und ein C++-Programierer, das war
nicht der aktive Freizeitsportler und Spontansexfanatiker. Das
wiedersprach sich. Allein schon wegen der unvereinbaren
Freundeskreise. Wer hackt schon bei "McFit"?
Das schäbbige Gefühl, Liebe als Chance auf sozialen und
finanziellen Aufstieg zu sehen, liess Emma oft nicht los, weil ja ihr
ewiges Sichneuverlieben genauso funktionierte.
Das fühlte sich sexistisch und berechnend an, aber es war ja auch
nur eine Frage der Zeit, bis die Emanzipation zurückschlug, und
Männer ihre dämlichen Mechanismen der Fickpartnerfindung
optimierten, und das Penisgedenke der Männer hinterfotziger und
intellektuell berechnender werden würde!
Emma schloss die Augen und atmete tief durch. Es stank nach alter
Pizza und Smegma.
Justus kümmerte der Anblick der Poster reichlich wenig. Halt noch
irgend so ein riesiger, schöner Typ! Und schlimmer Weise musste
man das ja so oberflächlich sagen: Wer schön ist, der muss ja eine
Wahnsinnskraft aufwenden, Intelligenz nicht für überflüssig zu
halten. Denn ein optisch schöner Mensch - auch wenn er es schon
lange nicht mehr merkt - bekommt viele Sachen, die er will, einfach
so, ohne sein Gehirn groß trainieren zu müssen!
Ein schöner Mensch muss nicht immer beweisen, dass er die Dinge,
die er will, auch wirklich verdient hat. Das ist so, wie ein Mensch mit
Brille nicht immer beweisen muss, dass er klug ist. Davon wird
einfach allgemein ausgegangen!
Justus hatte leider kaum Muskeln. Und kurzärmelige T-Shirts trug er
eigentlich nur, um den Menschen um ihn herum zu beweisen, dass
er kein Heroin nahm.
Eine Brille trug er. Brillen schützen vor dem Verdacht der
Dummheit, aber leider nicht vor dummem VonderSeiteangequatscht-
werden. Da waren Muskeln wiederum besser!
Ein Hassmoment für jeden mit einer Brille ist es immer, wenn
irgend jemand darum bittet, doch einmal deine Brille aufsetzen zu
dürfen, nur um dann zu sagen: "Boah, Du kannst ja echt überhaupt
nichts sehen!"
Das sind die gleichen Leute, die einen Rollstuhlfahrer bitten, sich
doch mal auf den nassen Bürgersteig zu werfen, um sich dann
selbst in den Rollstuhl zu setzen und zu sagen: "Boah, Du kannst ja
echt nicht laufen, oder?"
Weiter starrte Justus das Plakat an.
Er konnte eh nicht verstehen, was an Männern so toll sein sollte.
Das musste irgendein ganz tief sitzender Mechanismus sein, der
schwer abzuschütteln war! Genauso wenig, wie bei sich selbst,
konnte er bei diesen Männern verstehen, warum ein menschliches
Wesen überhaupt irgendeinem Mann beim Geschlechtsverkehr
zuschauen wollte. Diesen bizarren Anblick konnte sich doch
eigentlich keiner wünschen, ausser in einem Anfall von
Sehnsucht, die Errungenschaften der Moderne hinter sich zu
lassen!
Vielleicht wird nur mit Männern geschlafen, um sich selbst soweit zu
erniedrigen, dass man das Leben wieder auf urzeitliche Bedürfnisse
eindampfte und so eine verlorengegangene Einfachheit
wiederfinden konnte.
Nur in deutschen Pornos gibt es die wahnsinnige Idee, das Gesicht
des männlichen Darstellers beim Abspritzen noch einmal in
Großaufnahme zu zeigen. Was um Himmels willen das sollte, das
konnte keiner beantworten! Der normale deutsche Porno ist für
aufgegeilte Männer gemacht, da dran gab es doch gar keinen
Zweifel. Wieso also noch einmal das Gesicht des Fickers zeigen,
ohne auch nur einen Fitzel des geilen weiblichen Körpers?
Das konnte nur damit zusammenhängen, dass man den Mann mit
seinem verkniffenen, hochrotem Kopf noch einmal zeigte, um dem
Zuseher das Gefühl zu geben, zu der Gemeinschaft eines scheisse
aussehenden deutschen Kollektivfickkörpers zu gehören. Ohne das
Kollektiv fühlt sich der Deutsche unwürdig. Auch fickunwürdig. Die
stolze Gemeinschaft einer geschundenen Generation von
sanftmütigen Wichsern!
Stolz ist das Schweröl des deutschen Kollektivfickkörpers!
Justus musste grinsen.
Steffi stand vor den Plakaten und schaute sich die Bodies an.
"Heiß!" dachte sie sich. Und nichts weiter. Steffi war da nicht so.
Pistole ist halt Pistole, so wie ein dummer Spruch ein dummer Spruch ist.
Dumm halt. Nicht mehr!
Die drei Freunde rissen sich von den Postern los, folgten dem Gang
und kamen in eine große, schummrig beleuchtete Halle. Das Licht
waberte und zuckte blau aus den Monitoren der anwesenden
Gamer und schnitt die krebsgeschwürgroßen Tränensäcke hart
und schattig in ihre Gesichter.
Ein Mob von Menschen, die alle ihr Computergesicht aufgezogen
hatten. Unfassbar eigentlich, dass dies das weitverbreitetste
Gesicht der westlichen Welt war. Nicht etwa böse gucken, und
ganz bestimmt nicht lächeln! Nur dulles Gestarre. Gäbe es keine
Computerbildschirme zum darauf starren und die Menschen
würden trotzdem den ganzen Tag so gucken, jeder müsste davon
ausgehen, dass die Zombies längst die Macht übernommen hätten.
Wenn man sich die Menschen im Alltag, in der Straßenbahn, am
Arbeitsplatz, im Freibad oder Park anschaute, wie sie ihr
Computergesicht machten, und sich die Laptops und die Tablets
und die Bildschirme und die Handys mal wegdachte, wäre die
ganze Welt bevölkert von Menschen, die aussähen wie in der
Gummizelle einer Nervenheilanstalt. Würden sie noch vor und
zurück wippen und hospitalisieren, wäre keinerlei Unterschied mehr
auszumachen!
Doch hier in der Halle glaubte keiner daran, verrückt zu sein.
Die Menschen, welche hier in dieser Halle vor ihren Computern
sassen, hatten einen Auftrag. Und auch, wenn sie das verneinten,
war der Auftrag, zu töten, zu schiessen, zu häckseln, Genicke zu
brechen und irgendwie zu siegen.
Nicht im echten Leben! Tatsächlich hatte das hier nichts miteinander
zu tun - das echte Leben und das Leben im Computer. Aber ein
bisschen einen Kriegscharakter hatte es doch. Sich gegenseitig
erschiessen, ist doch eher gegeneinander, als miteinander spielen.
Blau waberte das Licht durch die charakterlose Mehrzweckhalle.
"Was will Gott mit diesen Leuten?" fragte Emma. "Ich meine, mal
ganz ehrlich: Da hätte er sich doch hunderttausend andere
aussuchen können. Was will er mit diesen Leuten?"
"Ich verstehe so langsam, wenn die Leute immer sagen, dass die
Wege des Herren unergründlich sind. Das hier verstehe ich nämlich
auch nicht!" sagte Justus und schaute auf die andere Seite der Halle,
vorbei an den jungen Männern mit ihren Kopfhörern.
Erstaunlicherweise war es ganz leise im Raum, bis auf das eine
dann und wann geschriehene "Fuck!", wenn einer getroffen und vor
seiner Zeit gestorben war und nun warten musste, bis er wieder
auferstand. Das hatte doch etwas vom Messias. Wenn man im
Spiel starb, dann musste man auf das nächste Leben warten.
Dann hieß es rumsitzen, sich die Zeit vertreiben, einen
Schokoladenriegel essen, ein Glas Cola trinken oder schnell eine
rauchen gehen. Wahrscheinlich die gleichen Sachen, die Jesus
Christus in der Nacht zum Ostersonntag in seiner Höhle gemacht
hatte, als er auf die Wiederauferstehung wartete.
Am Kopf der Halle war eine Bühne aufgebaut, auf der immer mal
wieder lustlos eine Nebelmaschine loszischte und von Zeit zu Zeit
zwei ältliche GoGo-Girls lustlos anfingen zu tanzen, weil sie sowieso
niemanden interessierten.
"Da ist Deine Bühne!" kicherte Emma. "Dann mal los!" sagte sie und
schubste Justus in die Richtung, so dass er fast über ein
Netzwerkkabel stolperte. Ein Dreissigjähriger sprang auf und starrte
Justus mit wutentbrannten Augen an.
"Du musst die Base bashen! No base rape! Block den Noob! Der
Cheesier frackt den whole mob! Das bedeutet Clanwar! Ich hab noch
keinen Bock auf Cooldown! Du CorpseHump! Erst creepen, dann
flamen, Cheater!" schrie er ihm ins Gesicht.
"Äh, ja, ist cool man, easy!" gab Justus zurück, dem dann in
Momenten wie diesem klar wurde, das er vielleicht doch nicht so
modern war, wie er immer dachte.
Steffi stellte sich neben ihn. "Get a Life!" sagte sie und schubste
den jungen Kerl zurück auf seinen Platz.
"Justus, gleich geht der Strom aus. Du musst auf die Bühne!"
Justus wurde ganz anders. Natürlich! Ein letztes Mal lispelte die
Nebelmaschine auf der Bühne los. Der Moderator stand an der
Seite der Bühne, das Mikrofon in der Hand. Justus schaute auf
die Uhr: Noch zehn Sekunden, bis Maik den Strom abschaltete, die
Rechner abschmierten und nur noch das eine Notlicht in die Mitte
der Bühne scheinen würde. Seine Hände wurden feucht. Steffi ging
zum Moderator.
"Sagen Sie, riecht das für Sie nach Chloroform?"
Er fiel schnell in Ohnmacht.
Steffi gab Justus das Mikrofon. Er schaute in den Lichtkegel, unter
dem er gleich zu den zweitausendsechshundert Spinnern reden musste.
Noch fünf Sekunden.
Noch vier.
Noch drei.
Noch zwei...

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Tag 20 (12.4.2012)

„Alles auf die Straßen! Spinner unite!“


Emma stand neben Justus und zählte herunter: "Drei, zwei, eins!"
Dann gab es ein lautes "Knack!", das Licht fiel aus, in einem
Geräusch wie auslaufende Turbinen schmierten die Server für die
Games ab und aus dem nervösen Doppelgeklicke wurde ein
Geraschel, dann ein Geraune - es gab dumpfe Boxschläge,
Monitore wurden von den Tischen gewischt und von überall war nur
noch "FUCK!" "FUCK!" FUCK!" zu hören.
Da stand Justus nun: Schwitzige Hände, schwitzige Stirn, ein
knalldunkler Raum voll mit zweitausendsechshundert Gamern und
keine Ahnung, was das jetzt werden sollte!
"Ich brauche die Gamer!" hatte Gott ihm gesagt. Wofür man Gamer
benutzen könnte, das konnte Justus sich beim besten Willen nicht
vorstellen. Für Krieg vielleicht? Wollte Gott Krieg? Das war ein
seltsames Gedenke, in dem sich Justus da befand.
Extremistengedenke. Das macht doch gar keinen Sinn: Ein Gott, der
Krieg will! Alle waren sich doch einig, dass Gott schon immer
existierte, was ja wohl auch bedeutete, dass er nun wirklich
genügend Zeit gehabt haben müsste, um mal nachzudenken. Und
auch wenn jetzt einer sagte: "Das ist eine Prüfung des Glaubens!" -
dann war das ja ein gar schrecklicher Quatsch! Wer soviel Zeit hat,
der kommt doch auf andere Gedanken, als sich immer neue
Prüfungen für die Menschen auszudenken. Die Erde ist doch
kein Gymnasium!
Irgendwie war das alles nicht nachvollziehbar, aber wenn Gott
gesagt hatte: "Ich brauche die Gamer! Besorge mir diese Armee, Du
bist mein neuer Apostel und Prophet, Justus!" - dann konnte man da
ja auch nichts sagen. Gott war nicht umbedingt einer der Typen,
denen man wiedersprach und erst recht keiner von denen, die
einen ausreden ließen!
Justus setzte seinen Fuss auf die kleine Treppe, die zur Bühne am
Kopf des dunklen Saales führte. Steffi drückte ihm etwas in die
Hand, ein altes keltisches Kriegshorn aus Plastik, auf dessen Seite
groß das Wort "Blizzard" aufgedruckt war.
"Hier!" sagte Steffi. "Das ist ein Megaphon, glaube ich", und drückte
auf den Einschalteknopf am Kopfende des Horns. Eine durch Mark
und Bein gehende Rückkopplung kreischte durch den Raum. Die
Gamer zuckten zusammen und pressten sich die Hände auf die
Ohren.
Während dessen stand Maik unten im Keller der Stadthalle und
besah sich den riesigen Klops von Starkstromstecker, den er in der
Hand hielt. Die Notbeleuchtung unter der Decke dimmerte
gemütlich in dem kleinen Elekrizitätsraum.
Einen riesengroßen roten Batzen Plastik hatte Maik da in der Hand,
einen riesig fetten Batzen feuerrotes Plastik, aus dem
daumendicke Stahlstifte ragten. Kurz musste er an das lustige
Gefühl denken, das es machte, wenn man einen Neun-Volt-
Batterieblock an seine Zunge hielt und es dann lustig kribbelte.
Langsam näherte er sich mit der Zunge dem Hochamperekabel in
seiner Hand und dachte an das lustige Kribbeln, welches ihn gleich
durchfahren würde.
In diesem Moment flog die Tür auf, und ein Bodybuilder in Security-
Uniform kam in Begleitung eines klassischen Hausmeisters in
dunkelblauem Kittel in den Raum gestürzt. Maik ließ das Kabel
sinken. Der Security-Mann setzte zum Sprung an, um sich auf Maik
zu stürzen, aber der Hausmeister hielt ihn am Kragen zurück.
"Wenn irgendjemand hier das Scheiß-Kabel berührt, dann war's
das!" rief der Hausmeister. "Dann ist das Schwein gegrillt. Gib das
Kabel her!"
Sie hörten leise das schneidende Gekreische des Megaphons oben
aus Halle.
In der Halle machte Justus den nächsten Schritt die kleine Treppe
zur Bühne hinauf in Richtung Bühnenmitte, wo das einzige Licht
der Halle, das noch leuchtete, einen Spot auf die Bühne warf.
Er machte den nächsten langsamen Schritt und stand jetzt zur Gänze
auf der Bühne. "Jetzt ist es auch egal!" dachte er sich und ging festen
Schrittes weiter, bis er im Spotlight stand und von dem Licht so
geblendet wurde, dass er nichts mehr von den im Raum
Anwesenden erkennen konnte. Emma stand neben der Bühne,
schaute zu Justus hinauf und war doch ein bisschen stolz.
Lustigerweise die Art von Stolz auf einen anderen Menschen, die
verrät, dass das nicht nur irgendein Mensch war, sondern jemand
Besonderes, den man in seinen Leben behalten sollte.
Im Keller sagte Maik "Nein!" und hielt das Starkstromkabel drohend
in Richtung Security-Typ und Hausmeister.
"Ich werde das Ding in genau zwei Minuten wieder in diese 
Riesensteckdose da reinstecken!" 
Er deute mit dem Kabel auf das Monster von Steckdose in der Wand.
"Aber bis dahin passiert hier gar nichts!"
Security-Typ und Hausmeister wichen zurück.
"Junge, gib mir das Kabel, das hat doch keinen Sinn! Gib mir das
Kabel und wir vergessen die Sache!" sagte der Hausmeister und
nickte.
"Du tust Dir doch bloß selber weh! Gib mir das Kabel, Du kleiner Punker!"
Justus stand auf der Bühne in der dunklen Halle und hob das
Kriegshorn, das wie ein Heiligtum der "World-of-Warcraft"-Gemeinde
wirkte. Er hob es zu seinem Mund und drückte auf den An-Knopf.
"Liebe Gamer und Gamerinnen!" sagte er und musste bei dem
Word Gamerinnen lachen - das klang irgendwie so wie "Liebe
Penisträger und Penisträgerinnen!"
Der erste der Gamer sprang auf. 
"Was willst Du, wieso ist der Strom aus? Alle Games sind hinne -
Du hast wohl hoffentlich eine gute Begründung!"
"Ja, Gott hat mich geschickt!" rief Justus in seine Flüstertüte.
"Was?" rief der Gamer zurück, und Justus fiel auf, dass er
tatsächlich keine Ahnung hatte, was er sagen sollte. Er bemerkte,
dass diese ganze Aktion hier bitter enden konnte. Sie hatten alle
Rechner gekillt. Das war für die Gamer da unten ein bisschen so,
wie jemandem das Haus anzuzünden, es bis auf die Grundmauern
niederzubrennen, nur um ihn auf die Straße zu locken und ihm
zu sagen, dass das Haus eh nicht so gut war - und dass man von Gott
gesandt war.
"Wieso seid Ihr hier?" rief Justus in das Horn vor seinem Mund.
"Wieso seid Ihr hier? Warum sitzt Ihr hier vor Euren dummen
Computern und klickt depressiv im Off? Die Welt da draussen ist
groß und schön. Warum sitzt Ihr in einer dunklen Halle und glotzt in
diese Kästen?" rief Justus in das Megaphon vor seinem Mund.
"Warum denn nicht?" schrie ihn einer von unten an. "Was ist an
Deinem Leben denn so viel geiler?"
"Weiß ich auch nicht. Aber das echte Leben ist doch wohl besser
als dieses ewige Zuhausegehocke!" schrie Justus.
"Noch! Aber nicht mehr lange! Und wenn das, was unsere Computer
können, erstmal besser ist, als das, was Du echte Welt nennst, dann
seid Ihr am Arsch! Wer ist dann vorbereitet? Na? NA?" rief der Typ
im Publikum, und Justus bemerkte, wie die Stimmung langsam
kippte.
"Hast Du den Scheiß-Strom abgeschaltet?" rief einer, und Justus
musste überlegen, ob es jetzt wirklich das Klügste wäre, die
Wahrheit zu sagen. Das konnte noch sehr schmerzhaft werden! Auf
der anderen Seite: Gerade hatte er gesagt, dass Gott ihn gesandt
hatte - da war das jetzt auch egal!
"Ja, das war ich - ich wollte, dass Ihr mir zuhört!" sagte Justus. "Ich
muss Euch das gar nicht groß erklären, aber Tatsache ist: Ich
brauche Euch!"
"Du brauchst uns? Für was denn?" schrie einer aus dem Mob, der
sich gerade langsam vor der Bühne bildete.
"Ganz genau weiß ich das auch noch nicht, aber ich brauche Euch
auf der Straße. Ich brauche das, was Ihr könnt, ich brauche Euch
für einen Plan!" redete Justus weiter in das Megaphon.
"Und was sollen wir da draussen machen?" fragte der Junge, der
jetzt vorne in der Traube von jungen Männern stand, die sich
langsam vor der Bühne zusammenrottete.
"Ich kenne einen von Euch, einen, der so ist wie Ihr. Ich war gerade
mit ihm unterwegs - tatsächlich vier Monate waren wir unterwegs.
Ohne Computerzeug und Onlinegeschwurbel. Maik heißt der, Maik
aus Tenever. Er ist der, der gerade den Strom abgedreht hat, damit
ich mit Euch reden kann!"
"Etwa 'Maik1984', der Kumpel von Krüger - der mit der Bombe zu
Sylvester am Eck?" fragte der Sprecher des Mobs vor der Bühne.
"Ja, der. Der steht gerade unten im Keller an Eurem Stromkabel,
damit ich mit Euch sprechen kann!" sagte Maik und beschattete mit
der Hand seine Augen, so dass ihn das Licht über der Bühne nicht
mehr blendete. Er schaute in die Halle hinaus, die jetzt gar nicht
mehr so dunkel war. Viele der Leute, die immer noch planlos hinter
ihren Rechnern hockten, hatten ihre Feuerzeuge angemacht und
leuchteten im Dunkeln. Ein kleines Meer von Lichtern durchflutete
die Halle. Das sah eigentlich romantisch aus. Vielleicht war das ein
Ansatzpunkt!
"Ganz ehrlich, Leute, Ihr seid doch eine Armee, oder nicht?" sagte
Justus. "Ich kenne mich da schlecht aus, aber ich bekomme ja mit,
was Ihr im da Internet so macht. Tatsächlich meist blöde
Kommentare unter Katzenvideos. Aber wißt Ihr was passiert, wenn
aus zehntausend Likes bei einem Kätzchen zehntausend Leute auf
der Straße werden, die etwas verlangen? Und das nicht einfach nur 
so verlangen, sondern es sich einfach nehmen? Ein paar von Euch
sind doch bestimmt auch gewaltbereit, vielleicht ja sogar kriminell?"
Verdutzt schauten sich die jungen Männer im Mob vor der Bühne
an.
"Wie meinste 'n das, kriminell?" sagte einer.
"Na, nicht so schlimm kriminell," sagte Justus durch das
Flüstertütenkriegshorn vor seinem Mund," eher so klug kriminell.
Eher so neukriminell. Eher so klug klauen, wie so ein charmanter
Trickdieb. Ihr kopiert doch immer alle Sachen. Das ist ja schon
kriminell!"
"Das ist nicht kriminell!" schrie einer aus dem Mob. "Das ist so wie
in den Supermarkt gehen, eine Dose Tomaten zu kopieren, die
Dose wieder ins Regal zu stellen, die kopierte Dose mit nach Hause
zu nehmen und sie zu einer leckeren Nudelsoße zu verarbeiten!"
So hatte Justus das noch gar nicht gesehen. Auch nett. Dosen
Tomaten kopieren. War schon klar, dass sie damit Pornos meinten.
Was sie dabei mit Nudelsoße meinten, wollte sich Justus aber lieber
gar nicht vorstellen!
"Ich will Euch ja gar nichts erzählen, aber, liebe Computerspieler,
Nerds und Geeks, vielleicht ist Euch ja noch gar nicht aufgefallen,
dass dieses ganze Geklicke ein wenig langweilig ist, vielleicht, weil
Ihr was anderes gar nicht kennt. Quatsch im Internet machen ist
bestimmt toll, aber wißt Ihr, was noch viel toller ist? Draußen
Quatsch machen! Da kann man nämlich viel besser zugucken was
passiert. Und kein Scheiss: Eine Internetseite zu hacken und dann
zuzusehen, wie der eigene Banner da auf der Seite herumfunzelt,
ist kein Vergleich dazu, ein Auto anzuzünden und sich das dann
anzugucken! Das ist zwar beides Blödsinn, aber ich kann Euch nur
empfehlen, da draußen im echten Leben mal wieder so richtig Scheisse
zu bauen, weil - das Schöne ist ja: Je älter man wird, um so besser wird
es da draußen, weil die Menschen aus irgendeinem Grund anfangen,
einen Ernst zu nehmen!"
"Autos anzünden? Das ist Dein Plan?" schrie einer zurück
"Nein, das nicht! Ihr sollt keine Autos anzünden. Es geht nur darum,
dass da draußen eine ganze Menge Dinge warten, die ihr Euch
einfach nehmen könnt, so organisiert wie Ihr seid. Jetzt mal ganz
dumm gefragt: Was hättet Ihr denn gerne?"
"Geld!" schrie einer von unten zu Justus hinauf.
"Siehst du!" gab Justus zurück. "Da draußen ist wahnsinnig viel
Geld. Das ist zwar im Internet auch, aber Geld kann man gegen
Waren und Dienstleistungen eintauschen. Und was es da draußen
noch viel mehr gibt als Geld, sind Waren und Dienstleistungen.
Viele denken, das wäre das gleiche wie Geld, aber das stimmt
nicht. Waren und Dienstleistungen sind in der wirklichen Welt,
außerhalb von Geld und Internet, in Wirklichkeit Diebstahl und
Gefallen. Das ist das, was es lustig macht: Charmant und dreist
sein! Charmant für die Gefallen, dreist für den Diebstahl. Ihr wollt
Geld? Ich sage: Vergeßt Geld, nehmt Euch, was Ihr wollt! Ihr wollt
neue Computer? Nehmt tausend von Euch und geht zu "Karstadt" und
nehmt sie Euch! Die haben keine tausend Kaufhausdetektive. Aber
was ja noch viel besser wäre: Wem gehört das Internet?"
"Allen!" schrien der Mob zurück.
"Und wer ist "Alle"? Alle sind immer die, von denen es am meisten
gibt, all right? Das nennt man doch Demokratie! Die Mehrheit sollte ja
wohl entscheiden, was richtig ist und was nicht. Also: Wenn Euch
das Internet gehört, weil Ihr die meisten seid, wem gehören dann
wohl die Straßen dieser Stadt, ja, die Straßen der ganzen Welt?
Ja wohl, auch Euch!" schrie Justus, der nun immer mehr in Fahrt
kam.
Im Keller der Stadthalle stand immer noch Maik mit dem riesigen
roten Stecker in der Hand vor dem Hausmeister und dem
Security-Mann und wedelte damit herum, wie mit einer geladenen
Waffe.
"Maik, steck das Ding weg!" sagte der Security-Typ.
"Woher kennst Du meinen Namen?" fragte Maik
"Aus Tenever, von früher, und Du von..., na, Du weißt schon!"
"Moment mal..., David?" stieß Maik fast entsetzt aus.
"Ja ja, David!" gab David zurück.
"David, Du meinst 'Divad1986'? Du Arsch! Ich hab Dich
hochgezogen! Du verdammter Todeself, Level 52! Was glaubst Du
eigentlich, was Du hier machst? Wir sind eine Gilde! Was erlaubst Du
Dir?"
"Mann, Maik, was soll ich machen? Wow ist Wow, und real life ist real
life. Ich muß doch auch was Fressen. Ich bin jetzt mit Magda
zusammen, und wir haben ein Kind!" sagte David.
"David, der ganze verdammte Block weiß, dass das Tunjais Kind ist.
Was baust Du da für einen Scheiß? Wir sind Deine Leute, nicht die
Fotze von Hausmeister da hinter Dir! Du hörst jetzt sofort auf mit der
Scheiße! Oder Du bist raus aus der Gilde!"
"Als ob Du befehlen könntest, dass ich raus aus der Gilde bin! Mich
kann nur Krüger rauskicken!" sagte David.
"Krüger ist tot, ich bin jetzt der Großmeister! Und ich sage, Du
stehst zu Deiner Gilde, oder Du bist raus! Dann kannst Du von mir aus
mit 'Magda machts mit jedem' zusammen sein und Tunjais Kind
durchfüttern!"
Hinter Davids breitem Schädel malte es. Nicht mein Kind, und die
Gerüchte über seine Freundin hatte er auch schon einmal gehört,
und Tunjai war einer seiner besten Freunde, aber er wusste auch,
dass Tunjai nie eine Chance bei Frauen auslassen würde.
"Fuck!" dachte er sich.
Da war schon was Wahres dran, so geil, wie er es sich immer
einredete, war das Leben mit Magda nun auch nicht. Die neue
gemeinsame Wohnung war Scheiße und so beengend, dass es
ihm manchmal die Kehle zuschnürte. Und seine Tochter - wenn er
einmal genau nachdachte - war wirklich sehr dunkelhäutig und
tendierte von der Hautfarbe tatsächlich eher in Richtung Tunjai.
"Mann, Alter, vergiss die Alte! Sogar ich hatte schon was mit der -
SOGAR ICH! Pass auf, Ich hab gerade was Großes am laufen! Die
Gilde wird real Life, und ich will, dass Du dabei bist!" rief Maik.
"Sogar Maik!" dachte sich David, und da machte es "klick".
Er drehte sich um und schaute dem Hausmeister ins Gesicht, der
fassungslos der Unterhaltung der beiden Vollidioten gelauscht hatte
und immer nur irgendeinen Schwachsinn von wegen Gilde und
Todeself gehört hatte.
"David, was machst Du da?" schrie er, als er Davids Faust auf sein
Gesicht zurasen sah.
Oben im Saal brodelte es langsam. Immer noch war die Halle nur
von den Lichtern der Feuerzeuge erleuchtet, immer noch stand
Justus mit dem Kriegshorn auf der Bühne.
"Also sage ich", schrie Justus nun, "laßt uns da rausgehen und
den Leuten zeigen, was uns gehört! Laßt uns nehmen, was uns
zusteht. Ihr wollt ein Auto - wir besorgen uns Autos! Ihr wollt bei
Euren Eltern ausziehen? Wir besetzen das 'Gewoba'-Hochhaus! Ihr
wollt Macht? Wir gehen in die Politik!
So etwas wie Euch hat es noch nie gegeben!
Also: Was sagt Ihr? Wir gehen raus!
Ich und die 'Spinner der Strasse'!
Und Ihr, die 'Spinner der Computer'!
Das ist unsere Stadt!
Das ist unser Planet!
Spinner unite!
Und ich lüge nicht, wenn ich sage: Auf uns wartet da draußen
eine Welt, die denen gehört, die sie sich genommen haben. Und
jetzt, jetzt ist unsere Zeit! Die Tage von denen da oben gehen zu
Ende. Sie gehen zu Ende, wenn wir das wollen! Wir sind nicht nur
Spinner. Viele von uns sind die, die denen, die gerade oben stehen,
das Essen servieren. Wir können in ihr Essen spucken! Ihr baut die
Straßen, auf denen sie fahren. Ihr baut die Autos, mit denen sie
zeigen, dass sie besser sind als wir. Ihr baut die Häuser, in denen
die sich verstecken. Wir müssen diese Straßen nicht bauen. Wir
müssen diese Autos nicht bauen. Bauen wir Häuser für uns und
nicht für die! Machen wir alles für uns und nicht mehr für die! Denn
eines ist klar: Wir haben es genauso verdient!"
Justus hatte sich in Rage geredet. Gruselig, wie sich so eine
Ansprache auf Deutsch gleich ganz schrecklich anhörte. Immer
mehr von der Anwesenden sammelten sich vor der Bühne.
"Danke, aber Du hättest ihn nicht gleich umhauen müssen!" sagte
Maik zu David im Keller.
"Der hatte es eh verdient!" sagte David. "Hat mich schon den Tag
rumgescheucht und sich aufgespielt wie ein alter Nazi. War
an der Zeit. Aber, Maik, was ist dieses große Ding, an dem Du dran
bist?"
"Klingt komisch, aber ich glaube, ich soll die Welt retten!" antwortete
Maik.
"Das ist dein Plan?" fragte David verdutzt. "Was ist denn mit der
Welt?"
"Hmhmrr", räusperte sich Maik, und es war sogar für ihn, der nun
wirklich eigentlich den ganzen Tag Quatsch redete, nicht leicht, das
jetzt auf den Punkt zu bringen. "Also, als Krüger gestorben ist..."
"Krüger ist tot? FUCK!" rief David
"Ganz richtig! FUCK!" rief Maik. "Vergiß es! Er hat ein gutes Leben
gehabt. Ich wäre dabei auch fast drauf gegangen. Ich lag vier
Monate im Koma!"
"Ja, wir hatten uns schon gewundert, was mit Dir nach der Sache
mit der Bombe am Eck los war. Das war geil. Ich hab mir von der
Kohle eine neue Grafikkarte gekauft!"
"Ja, das war geil. Das stimmt. Aber was ich sagen will: Ich hab Gott
getroffen. Er heisst Justin. Und irgendwas steht dieser Welt bevor,
irgend so eine letzte Schlacht. Und wenn sich einer mit Schlachten
auskennt, dann sind das ja wohl wir. Lass uns nach oben gehen.
Ich hoffe, Justus hat sie soweit! "
Maik und David verließen den Keller, durchquerten die Gewölbe
der Stadthalle und kamen zur Tür, die direkt zum hinteren Ende der
Halle führte, genau gegenüber der Bühne, auf der Justus gerade
stand und herumschrie. Sie warfen die Tür auf.
"Ich sage: Wir gehen da jetzt raus!" rief Justus. "Ab zum Eck - wir
wollen Bier, wir nehmen uns Bier. Alles Bier gehört uns. Wir wollen
feiern. Laßt uns feiern! Was soll uns denn aufhalten?" rief Justus
durch das Horn in die nach wie vor von Feuerzeugen erhellte Halle,
die wie ein alberner Fackelzug wirkte.
"Hört auf den Mann!" knallte Maiks Stimme durch den Raum. Alle
wendeten sich um.
"Hört auf den Mann! Er sagt die Wahrheit!"
"Das ist Maik, das ist Maik!"
"DER Maik?"
"Ja, der Maik, der Maik!" raunte es durchs Publikum, das sich nun
teilte wie das Tote Meer vor Moses. Maik schritt voran durch die
Menge in Richtung Bühne, neben der immer noch Steffi und Emma
standen, die nun mit ihm zu Justus in den Lichtkegel in der
Mitte der Bühne traten.
Justus übergab Maik das Megaphon.
"Krieger aller Gilden, die Ihr nun hier versammelt seid!" sprach Maik
in das Megaphon. Steffi, Emma und Justus standen neben ihm auf
der Bühnes und bemerkten, das Maik nun zum ersten Mal, seit sie
unterwegs waren, in seinem Element war.
"Dieser Muggel hier hat recht. Da draussen ist eine Welt, die uns
gehört. Es gibt keinen Unterschied, zwischen ingame und real life.
Das ist alles nur in eurem Kopf. Die Bombe am Eck, das war nur
der Anfang! Und es stimmt: Wir sind im Auftrag des Herrn
unterwegs. Wir haben eine Schlacht zu schlagen, eine Schlacht für
das Gute. Doch diesmal kämpfen wir nicht als Nachtelfen,
Heilerinnen und Priester. Wir kämpfen als Menschen dafür, dass wir
Menschen sind. Und nun steht auf, meine Krieger! Wir gehen
hinaus, und wir zeigen denen, was ein Mensch kann!" Immer mehr
der Spieler im Raum erhoben sich. Maiks Stimme wurde immer
lauter, fast brüllte er schon. "Ihr, die Ihr kämpfen könnt, Ihr sollt
kämpfen! Ihr, die Ihr tricksen könnt, Ihr sollt tricksen! Und Ihr, die
Ihr heilen können, Ihr sollt unsere Verletzten heilen! Ihr seid nicht
mehr nur irgendwelche Spieler - Ihr seid die neuen Menschen
dieser Welt! Ihr Gamer aller Gilden, vereinigt Euch!"
So schrie Maik, und mittlerweile stand der ganze Raum, einzelne
hatten begonnen "GENAU!" zu schreien, andere riefen "LOL!" oder
"FTW!" - manche begannen zu klatschen.
"Und nun steht auf! Folgt uns! Hinaus auf die Straßen. Wir haben
eine Revolution anzuführen! AHU!"
"AHU!" schrie das Publikum.
"Zum Ausgang!" schrie Maik und stürmte los. Die Türen der
Stadthalle flog auf und der Mob ergoß sich in Richtung
Stadtzentrum.
"Spinner!" dachte sich Justus und taperte ihnen hinterher in die
Nacht hinein.
"Schließen Sie hinter uns ab!" sagte Maik zu dem Jungen mit Cap,
der verdutzt hinter der Kasse saß.
"Nicht, dass die Rechner wegkommen!"



Tag 21 (19.4.2012)

Justus’ Solo


Eisig blau spiegelte sich der Vollmond auf den Kanzeln von „Commander“, „Happy Traveller“ und „Break Dancer“. Der Mond stand starr und hochauflösend am Firmament und glotzte arrogant auf die kleine Stadt Bremen hinab.

Die Menge der vorwiegend jungen Männer ergoss sich auf die Strasse vor der Bürgerweide und strömte weiter in Richtung Hauptbahnhof. Justus ging neben dem Hauptstrom entlang. Er ging ein paar der an der Seite der Straße liegenden Treppenstufen hinauf, um sich einen besseren  Überblick zu verschaffen.
Die Masse von Menschen war lustig anzusehen, wie sie umherwaberte, ohne Ziel, nur mit einer Idee im Kopf. 

Mit Sicherheit war es nicht ungefährlich, dass Justus die Blockade im Kopf dieser Leute gelöst hatte, und eigentlich war es fahrlässig, sie einfach aufzuhetzen, ohne ihnen einen Moment der Besinnung zu gönnen, einen Moment, um kurz mal zu überlegen, warum sie denn überhaupt ihr Leben so lebten, wie sie es taten, zurückgezogen vom Leben unter den Menschen, vor ihren Computern, und warum sie es nur in der Anonymität der globalen Vernetzung schafften, so etwas wie sie selbst zu sein. Man selbst zu sein, das war ja nicht sinnlos, aber um man selbst zu sein, musste man ja erst einmal wissen, wer man war. Das Sein war dann das Leichte. Wer weiß, wer er ist, der tut sich schwer, nicht mehr er selbst zu sein!

Das, was Justus gerade als Anklage auf der Bühne gesagt hatte, galt ja nicht im Geringsten nur für die, die allgemein als Loser bezeichnet wurden. Eine Mauer zum Selbstschutz um sich herum aufzubauen, das war ja etwas, das nun wirklich jeder tat. Da machte es keinen Unterschied, zu welchem Lebensweg man sich gezwungen gefühlt hatte. Die Mauer um das eigene Ich herum errichtete ja jeder - Unterschiede gab es nur in dem Material, aus dem diese Mauer bestand. Ob der Banker sich eine Festung aus seinem Geld oder ein Schönling und Charmeur seine Festung aus Affären baute, ob ein Künstler oder Kreativer sich hinter seinem eigenen Mysterium oder der Nazi sich hinter seinem geschlossenen, Juden hassenden Weltbild versteckte - der Antrieb war ja immer der gleiche!

Dieser Schutz war nur ein Mechanismus, der helfen sollte, die Menge der Menschen, die einen verletzen konnten, zu begrenzen. Niemand schläft gerne an einem Ort, an dem er nächtens totgeschlagen werden könnte. Und niemand begibt sich in die Öffentlichkeit und setzt sich der Gefahr aus, von Hinz und Kuntz seelisch verletzt zu werden. Die Waffen, die ein Mensch sich erfindet, sind selten Waffen, die zum Angriff taugen. Wie alle Waffen, gelten auch die Charaktereigenschaften eines Menschen in erster Linie zur Abschreckung. Die größten Männer sind oft die, die am seltensten in die Verlegenheit einer Prügelei schlittern. Denn ihre Muskeln sagen nicht: „Schlag Dich mit mir!“. Die Muskel sagen vielmehr: „Du solltest Dich besser nicht mit mir schlagen!“

Justus schaute weiter den Menschen zu, die am Fuß der Treppe vorbeizogen.

Da zogen sie vorbei, in ihrer seltsamen Art. Die meisten trugen seltsame Hosen - diese Hosen waren seltsam, weil sie so normal waren. Sie bildeten keine eigenständige, irgendwie neue oder modische Form von Beinkleidern ab. Das waren diese Hosen vom Bekleidungsgeschäft „KiK“, von denen ja auch keiner wusste, was sie denn sollten. Vorne, direkt am Genital, eine horizontale Falte, die genau das Gegenteil von einer guten Hose tat. Eine gute Hose versteckt das beherbergte Geschlecht entweder vollständig oder gibt ihm eine nach außen gebeulte Form, sowohl bei Frauen als auch bei Männern. Aber niemals dellt sich der Reißverschluss einer guten Hose nach innen. Was ist denn ein nach innen gebeulter Schritt für eine Message an den Beobachter? 

Zu sehen war von den Hosen ohnehin nicht viel. Vor allen Dingen über die Hinterteile des Mobs hingen T-Shirts, die gezwungenermaßen einen Aufdruck auf der Brust hatten - entweder ein Wort oder ein verschwurbeltes weißes Tribal auf schwarzem Grund. Das war eine der großen Fragen der letzten zwanzig Jahre Modegeschichte: Was sollten diese Formen, diese Tribals? Welcher seltsame Sinn steckte hinter diesen nichtssagenden, ineinander verwobenen Formen? Was sollten sie den anderen Menschen sagen? Diese Dinger beschränkten sich ja nicht nur auf T-Shirts, oder bei besonders wagemutigen Menschen sogar auf die Hosen, nein, es gab sogar einen gigantischen Haufen von Menschen, die diese wohl mythologisch gedachten Blödformen so sehr bewunderten, dass sie der Meinung waren, sie bis zu ihrem Sterbebett unter die Haut gehackt tätowiert tragen zu müssen! 

Tatsächlich muss gesagt sein: Tribals verbinden doch viele der Dinge, über die sich jeder einmal Gedanken machen sollte: 
"Was soll das alles?" 
"Was ist der Sinn des Universums?" 
"Wer bin ich und wieso bin ich eigentlich überhaupt da?" 

Eigentlich gute Fragen, jedoch stellte ein klassisches schwarz-weißes Tribal die dumme Antwort eines dummen Teenagers auf diese riesengroßen und wichtigen Fragen dar. Und wie immer gibt es nichts, das blöder ist als eine dumme Antwort auf eine kluge Frage! 

Tatsächlich - Formen, die zueinander passen, die das Positiv zum Negativ bezeugen und tatsächlich eine Form der Abstraktion darstellen, eine ausgearbeitete Form von Yin und Yang zum Beispiel -, das machte Sinn, das umschrieb etwas Schönes, das Beisammensein von Gut und Böse, Hell und Dunkel, den Ausgleich von allem, das perfekte Gleichgewicht. 

Leider zeigten die tätowierten Tribals, welche man zumeist an den Besuchern mittelmäßiger Rockfestivals jedes Jahr sehen konnte, nichts von diesem Ausgleich. Sie waren anders gedacht. 
Sie sollten eine Form vom alter kriegerischer Härte zeigen. "Grrr, ich bin hart!" sagen die Tribals und damit ihre Träger. Nun sind diese Zeichen die Zeichen einer gewissen gesellschaftlichen Schicht - nicht viele Doktoren, Professoren und Nobelpreisträger sind stolze Träger dieses Erkennungszeichens! 


Tribals sind ein selbstgemachter Beweis der Einzigartigkeit des Tätowierten. Die meisten Tribals werden  in ausgehenden Teenagertagen gestochen, knapp Anfang zwanzig. Meist aus dem beängstigenden Gefühl heraus, doch nicht so besonders zu sein, wie man es sich selbst und seinen Kumpels die gesamten Jugendtage über eingeredet hatte. 

Im Mondlicht schoben sich die Tribals mit ihren Trägern an Justus vorbei. Maik und Steffi und Emma waren ihm gefolgt und standen nun neben ihm auf der Treppe.

"Sag’ mal, Maik, hast du eigentlich ein Tribal irgendwo tätowiert?" fragte Justus an Maik gewendet.

"Nein, ich lehne Tätowierungen ab!" sagte Maik. "Immerhin ist das Aussehen meines Körpers vom Entwurf her schon dreihundertfünfzigtausend Jahre alt. Ich finde es ein bisschen arrogant, wenn einer glaubt, er könne ihn schöner machen. Wer sich nicht schön fühlt, soll Sport machen und sich die Haare abschneiden. Das hilft eigentlich immer. Ich finde es sehr faul, sich anmalen zu lassen, um besser auszusehen!"

"Huch!" dachte sich Justus. „Nicht schlecht, was der Maik da sagt!“ Und tatsächlich, wenn man ihm mal zuhörte und den ganzen Quatsch, den er sonst so erzählte, mal außen vor ließ, waren da anscheinend in Maiks Kopf doch einige Perlen vorhanden, die man herauskitzeln konnte! 

Und Maiks Idee, nicht immer und ewig nachzudenken, sondern "einfach zu machen", schien Justus auch immer schlüssiger. Das war einem wie Justus, dem das Denken eigentlich immer am wichtigsten war, natürlich zuwider, dieses ganze „Machenmachenmachen“ der modernen Welt, aber manchmal war das wohl das Richtige. Nicht zuletzt hatte Justus das ja gerade bei seiner unvorbereiteten Ansprache bemerkt!

Impulsiv sein - das hatte Justus immer abgelehnt, weil das so ein Schlagwort aus der Werbung war, so eine Sache, die jetzt jeder sein wollte. Impulsiv wollen sie einen haben, die aus der Werbeindustrie. Impulsiv und aktiv waren so Schlagworte, die einem immer vor die Nase gehalten wurden, wie wenn man eine Karotte an einer Angel einem Esel vor das Gesicht hängt.

Das war schon ein netter Trick, denn aktiver und impulsiver, das konnte jeder immer sein, da gab es gar keine Obergrenze, da konnte man noch Ware absetzen, da konnte man Hilfsmittel verkaufen, die einen dazu brachten, noch aktiver und noch impulsiver zu sein. 
Sehr klug gedacht! 

Aber da war das Problem, Justus’ Problem, um genau zu sein: 
Wenn einer, den er nicht mochte, etwas tat, dann war das für Justus ein klares Zeichen, es nicht zu tun. Wenn jemand, den Justus verabscheute, etwas kaufte, dann konnte es noch so nützlich sein - Justus wollte es nicht haben!

Düster puckerte es in seinem Kopf, wenn einer, den er  nicht mochte, das gleiche tat, wie er selber. Das war eine Beleidigung! Es war, wie sich selbst zu beleidigen, wenn man das gleiche tat, wie die, die man verabscheute. Und der schnellste Weg, das Puckern im Gehirn wieder abzuschalten, war der, die dummen Dinge, die Arschlöcher taten, sein zu lassen. 
So viele Lebensbereiche waren von der Werbung schon aus Justus’ Leben abgeschafft worden!  

Die Top 100 der Werbeworte der letzten Jahre beinhalteten folgende Worte, auf die Justus reagiert hatte:

1. Mehr! Also fühlte sich Justus bestätigt, weniger zu tun.
2, Leben! Also gab es Justus ein gutes Gefühl, sich eher auf der dunklen Seite des Lebens zu sehen.
3. Neu! Also entwickelte er ein Interesse für das Alte.
4. Einfach! Also entschloss er sich, dass die Welt eben nicht so einfach war, wie die Ärsche um ihn herum dachten.
5.Style! Also beschloss er, dass der Stil der Menge ein schlechter sein musste, den es zu bekämpfen galt. 

Aber: Was wäre dann los – was, wenn die Industrie es irgendwann schaffte, bessere Luft anzubieten, und plötzlich würde Atmen zu einer Mode werden? Dann musste Justus ja, nur um konsequent zu sein, aufhören zu atmen! 

"Worüber denkst Du nach?" fragte Emma von der Seite, die bemerkt hatte, dass Justus dem Zug von Menschen nur noch abwesend zuschaute.
"Ich weiß auch nicht, irgendwie ist alles Scheiße! Ich weiß auch nicht!" sagte Justus.

"Aber davon redest Du doch schon seit Jahren, dass alles Scheiße ist, das sollte Dich jetzt eigentlich nicht so großartig überraschen!" sagte Emma.

"Ja, das stimmt, aber irgendwie finde ich die Scheiße jetzt auch scheiße, und schön oder gut finde ich ja auch schon seit langem nichts mehr. Ich fühle mich ausgehöhlt. Und gelangweilt. Mir ist langweilig. Einfach unglaublich langweilig. Ich könnte ein Bier vertragen!"

Schweigen trat zwischen den beiden ein. Da plötzlich erschien ein Mann in einem gelben Anzug vor ihnen, blieb stehen, zückte eine winzig kleine Gitarre und blickte Justus starr in die Augen. Ein Augenblick, in dem nichts geschah, verstrich. Dann hob der Mann in Gelb seine Hand und donnerte einen ersten Anschlag in seine Gitarre. Der Akkord verklang, und der Mann begann  überraschenderweise zu reden statt zu singen:


"Von Rentnern und Plagen

Die Margret frisst ein Brot
und trinkt dazu ein Bier.
Der Margret bist du scheißegal,
denn die Margret war 
schon immer hier.

‚Pommes und Bier’,
sagt sie zu Karl Heinz,
‚finde ich besser als wie Hartz IV!’ -
und tritt weiter auf ihn ein.

Wie kam ich in diese Kneipe
und wie komm’ ich hier wieder raus?
Wenn man hier so’n Typen wie mich verkloppt,
dann gibt es kräftigen Applaus.

Auf einmal steht der Karl Heinz
direkt hinter mir -
er blutet wie Sau 
und schreit:
‚Gib mir sofort Dein Bier!’

Ich reiche es nach hinten,
doch das reicht Karl Heinz nicht.
Er will noch mit mir spielen,
bevor er mich ersticht.

Der Barkeeper der Kneipe
versteht sofort mein Problem:
Diese verfluchten Rentner -
man kann es nicht verstehen!

Ich kann Dir aber helfen,
das klingt vielleicht verrückt:
Tanz und singe dieses Lied -
ich wünsche Dir viel Glück!"

Der Mann in Gelb beendete seinen Vortrag, ohne auch nur einmal die Saiten angeschlagen zu haben. Ganz so, als hätte er es einfach vergessen.  Alle wunderten sich, wie sie dazu hätten tanzen sollen - aber das war auch egal. Noch einmal stierte er Justus, dann Emma, dann Steffi und dann Maik tief in die Augen, dann begann er wie wild zu kichern, wandte sich um und verschwand in der Masse der vorbeiziehenden Leute.

"Echt guter Typ!" bemerkte Emma, und die anderen mussten ihr beipflichten. 

Sogar den traurigen Justus hatte das Ganze ein wenig aufgeheitert. Noch nicht so ganz natürlich, weil - wenn alle gut gelaunt sind, dann macht das ja den einen oder anderen gerade deswegen noch trauriger! 

"Emma, ich brauche einen Moment, nur mal kurz alleine. Ich bin gleich wieder da. Treffen wir uns in einer halben Stunde bei der Bürgerpark-Tombola vor dem Hauptbahnhof - okay?" sagte Justus zu Emma. 
"Soll ich mitkommen?" fragte Emma, doch Justus sagte: „Nein!“

Er entfernte sich, ging am Parkhotel vorbei, die Parkallee hinunter, bis zur Polizeiwache.

Justus stand vor der Polizeiwache des Bürgerparks und fühlte sich schlecht. Er überlegte eine Selbstanzeige. Das wäre eine gute Möglichkeit, seine Lebensgeschichte endlich einmal aufschreiben zu lassen, das machte ja sonst keiner. Alle sind komplex und interessant genug, um allein zu sein! 

Menschen rannten zum Runden-Rennen an Justus vorbei. Jung und frisch und vital. Justus begann zu laufen. Nach zehn Schritten beendete er dies. Das war zu viel Leben für den Moment! Es wäre schön, für den Moment zu leben, wie immer alle sagen. Aber warum hatte jeder einen Fotoapparat in der Tasche, wenn nur das Jetzt zählt? 

Ein Pulk Stare stieg im Osten in den Himmel auf und begann zu tanzen - sie tanzten ohne Musik. Tanzen ohne Musik, da war sich Justus nicht ganz sicher, ob das blöder oder besser ist als mit Musik zu tanzen. Wenn Tiere tanzen, ist das wahrscheinlich in Ordnung. Bei Tieren ist es wenigstens kein Ausdruckstanz! 

Justus schaute sich um, blickte über die Parkallee und sah zum Fenster der Wohnung seines alten Herrn hinauf. Justus wußte, dass der jetzt irgendetwas da oben machte, irgendeinen Zeitvertreib, der nicht viel Sinn machte, aber half, die Hilflosigkeit und den fehlenden Sinn des Alters zu überdecken. 
„Die Hälfte vom Leben ist nur noch Abspann. Immer steht Papa da im Unterhemd, guckt aus dem Fenster und zweifelt!“ 

Als Justus den Park betrat, stand da auf der weiten Wiese eine Gruppe von jungen Dynamikern und machte Tai Chi, eine weitere Masse Menschen mit hochroten Gesichtern lief vorbei. Er dachte: „Jogging ist wichtig in einem so geil schnellen Leben. Jogging ist für den Arbeitsalltag wie das Training mit einem Medizinball für eine Volleyballmannschaft: Den Widerstand erhöhen, um die normale Belastung als Erleichterung wahrzunehmen. Leichtigkeit mit gesplitterten Daumen!“ 

Eine Läuferin rempelte Justus an. Das machte ihn erst wütend und dann gleichgültig. 
„Ist in Ordnung!“
Viele Läufer trugen Oberarmtaschen aus Nylon - links den „ipod“, rechts das Tränengas. Die Joggerin hielt Justus ängstlich und drohend den „ipod“ ins Gesicht. Auf dem Display stand: „Minimalmix Berghain“. Das machte Angst. Justus ging weiter. 
Ein Reiher zog vorbei und wirkte sehr majestätisch. Ein Pfau schrie quer durch den Park. Das klang eher verzweifelt. Er kann ja auch nicht fliegen! Justus schlug zweimal mit den Armen lustlos auf und ab. Fliegen ging nicht, bemerkte er recht schnell. 

Vom Eselgehege aus kann man weit über die unberührten Wiesen des Parks schauen. Justus kniff die Augen zusammen und stellte sich einen Triceratops und einen Diplodocus beim Liebesspiel vor. Das wirkte aufgrund der Größe liebevoll. Die waren auch majestätisch. Dann schrie wieder ein Esel - es klang dumm. Justus schämte sich für sein Erdzeitalter. 

Die Sonne senkte sich. „Und das soll jetzt mein Leben sein?“, fragte sich Justus. 
Er stieg auf eine schöne alte Bank, steckte die rechte Hand in sein Jackett und durchmaß mit seinem Blick die weiten Wiesen seiner Stadt. 
„Dies ist meine Stadt. Das hier ist Justus’ Stadt, das hier ist Justus’ Park! 
Eine Stadt gegen: Tod, Walsterben, Waldsterben, Öko, Bio, Angst und Love, Verlust, Schmerz, Besitz, Erfolg, Überlegenheit, Unterlegenheit, Macht und Ohnmacht, Erotik als Vater jeder Gewalt, Krieg, Religion und Erpressung. 
Gegen: Dummheit.
Für: Für Bremen. 
Gegen: Gegen Links.
Für: Gegen Rechts. 
Gegen: US. 
Gegen: Für Kaufen. 
Gegen: Für Angst. 
Gegen: Für Terror.
Für: Gegen Besitz. 
Für: Liebe.
Gegen: Hass. 
Für: Chaos ohne Angst.
Für: Für uns. 
Für: Alles alleine lassen. 
Für: Den Lauf der Dinge.
Gegen: Die Idee, etwas Besonderes zu sein. 
Für: Etwas ändern zu können. 
Gegen: Stolz.
Für: Sich mal richtig heftig fallen zu lassen. 
Für: Nichts ändern zu wollen. 
Für: Stillstand. 
Für: ‚Augenblick, verweile doch …’ 
Gegen: Gott, und dafür, dass jeder der einzige Gott ist. 
Für: Alle sehen gleich gut aus. 
Für: Gesetze und gegen jemanden, den sie interessieren. 
Für: Aufgeben vor jedem Streit. 
Für: Kapitulation vor jedem Krieg. 
Für: Aufgeben, sobald jemand darum bittet. 
Für: Höflichkeit.
Für: Immer ‚Ja’ sagen und dann doch nichts machen. 
Gegen: Wegen Angst kein Ausschlafen. 
Für: Wertvolle Sachen klauen, um sie kaputt zu machen. 
Für: Präsidenten klauen und ihnen den besten Tag ihres Lebens schenken.
Gegen: Das Kreditsystem aus Liebe als Währung. 

Für: Diebstahl als klassenübergreifende Sportart.
Für: Im Bankenviertel abhängen und klauen, was das Zeug hält.
Für: ‚Wovon wir leben? Wir finden Euch sinnlos, wir leben vom Finderlohn!’ 
Für: Alle haben immer ihr Lieblingsessen. 
Für: Die Sonne scheint, aber es wird nie unangenehm heiß. 
Für: Im ganzen Staat nur eine Waffe, die jeden Tag ein anderer hat. 
Für: Einfach mal ein Jahr immer, überall und zu jedem 
ausschließlich ‚Ja’ sagen und schauen, was passiert. 
Gegen: Gewalt.
Für: Keine Geschlechter.
Für: Alle gehen schwimmen. 
Für: Jeder ist sein eigenes Land und Krieg ist jeden Tag, aber ist nicht so schlimm. 
Für: Keiner braucht ein Haus.
Für: ‚Steig ein, wir fahren ans Meer!’ 

Für: Meine verdammte Stadt. 
Für: Meinen verdammten Park. 
Verdammt noch mal, ich bin ein Bürger!“ 

Weil es jetzt dunkel war, bekam Justus Angst. 
Darum begann er zu laufen. 

Angst wovor? - das wußte er nicht. 
Endlich war er auch ein Jogger! 

Und joggte zurück, zu den anderen, die am Bahnhof warteten.
Ein Mob von dreitausend Leuten.

Ready to roll!

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Tag 22 (26.4.2012)

Riot on the blocks


Justus war auf dem Weg zurück, nachdem er sich einen Moment der Ruhe im Bürgerpark gegönnt hatte. Schön war das gewesen, mal so ganz bei sich zu sein!
Die Frage war ja jetzt aber: Was sollte passieren mit diesen Leuten, die zwar zu allem bereit waren, aber überhaupt nicht wussten, was sie zu tun hatten?

Er musste an diesen Moment im Himmel denken, als er da lag und fast tot gewesen war und wie dieser seltsame Gott zu ihm gesprochen hatte. Ein Gott, der nun wirklich nicht so funktionierte, wie man sich das vorstellen würde. Justus versuchte, diesen Typen irgendwie mit einem Wort zu umschreiben, und ihm zuckten diese großen Worte aus den bösen Büchern der Weltreligionen durch den Kopf. Aber der Typ, der behauptet hatte, der Erfinder und Ingenieur der Welt, des Universums, der Baumeister von Raum und Zeit zu sein, hatte so gar nichts Rachsüchtiges an sich. Er wirkte auch nicht vergebend oder zornig, wie man es von einem normalen Gott erwartet hätte.

Eher - wie sollte man es sagen - locker kam er daher. Und ein bisschen gestresst, ein bisschen so, wie jemand, der wusste, das Wichtiges zu tun war, aber lieber seine Wohnung aufräumte, sich etwas Leckeres zu Essen kochte, seine Stifte geometrisch anordnete und auch sonst alles tat, um sich nicht mit seinen wirklichen Problemen beschäftigen zu müssen.

Letztendlich hatte Gott Justus und die anderen um eine Armee gebeten, und diese Armee, die Justus klar gemacht hatte, oder, besser gesagt, der Anfang dieser Armee, stand jetzt da vor dem Bremer Hauptbahnhof und wusste nichts mit sich anzufangen. 

Sie wirkten alle ein bisschen wie auf Kokain, denn sie hatten keine Ahnung, was sie da taten, aber fühlten sich dabei sehr gut und waren sich sicher, dass die Qualität ihrer Taten unfassbar hoch war. 

Justus ging weiter und bog von hinten in den Bahnhof ein, wo er schon vereinzelte Grüppchen stehen sah, Grüppchen von diesen Menschen, die nur Computer gewohnt waren und das Licht ihrer Bildschirme gegen das trockene Licht der Straßenlaternen bei Nacht getauscht hatten. Das wirkte ähnlich entmenschlicht, aber lustig war es anzusehen, wie diese Leute versuchten, ihre unterdrückten Gefühle der letzten Jahre nun nach außen zu kehren. Mit geiernden Blicken starrten sie die jungen Frauen an, die durch die Tunnel unter den Gleisen gingen und ihren Schritt beschleunigten, sobald sie diese seltsamen Typen sahen, deren Phantasien man ihnen an den Augen ablesen konnte. 

Was in den Köpfen dieser Männer vor sich ging, war für jeden absolut offensichtlich, der sich einmal in den Tiefen der menschlichen Erotik im Internet herumgetrieben hatten. Wirres Zeug ging da vor sich hinter den fettigen, pickeligen Stirnen, die aufgrund von Verhalten und Aussehen zu recht noch keine Nachfolger gezeugt hatten. Noch nicht!

Jeder Mensch hat seinen Suchbegriff auf „Youporn“, „Youjizz“, „xnxx“ oder ähnlichen Seiten. Jeder hat ein Wort, das er bedächtig nach dem Laden der Seite in das Suchfeld rechts oben eingibt.

Tatsächlich ist der kleine Moment des Überlegens, was "es denn heute wohl sein dürfte", ein sehr hübscher Moment und war meist begleitet von einem fast philosophischen Gesichtsausdruck.

Diese allumfassende Präsenz von Sexualität in der Jugend, das war schon etwas anderes als das Aufwachsen in früheren Zeiten.
Das machte schon einen großen Unterschied zum Aufwachsen ohne die absolute Verfügbarkeit jeglicher erotischen Spielart.

Während sich normale Jugendliche und halberwachsene Männer ihre Fetische und Vorlieben in der realen Welt zum großen Teil unter Mithilfe von Zufall oder Alkohol erkämpften, waren diese Internetfreaks hier an einem endlosen, aber virtuellen „All-you-can-fuck-Buffet“ aufgewachsen. 

Das veränderte natürlich den Blick auf die sie umgebenden Frauen und dadurch auf alle Menschen. Fast jeder Blick war nur noch ein klares Abscannen nach sexuellen Möglichkeiten, erotischen Fähigkeiten und Anzeichen von absoluter, immerwährender Bereitschaft. „Sabber, sabber!“ Widerlich!

Im Bahnhofstunnel lümmelten diejenigen, die sich ihre tägliche Ration Erotik bereits selber abgeholt hatten, mit etwas kühlerem Kopf herum und verteilten mit der Stärke der Gruppe, die sie hinter sich wähnten, Nackenschellen an aggressiv aufgepumpte Discoboys, die ebenfalls herumlümmelten und nicht wussten, wie ihnen geschah. Eine absolute Umkehrung der Gesetzmäßigkeiten der Straße! 

"Ey, Lan, bleib mal stehen!" riefen die Nerds ihnen zu, wenn die Pumper versuchten, vor der Gruppe zu fliehen. Ebenso wie die sexistischen Glotzer neben ihnen, versuchten sie auf den Fingern zu pfeifen - nur leider war keiner von ihnen in der Lage dazu, so dass sie sich nur die Finger einsabberten. 
So oder so - und so lächerlich das auch alles wirkte - war die Zeit für die Rache der Nerds gekommen. 

"Ey, Murruk, zeig doch mal, was Du da in den Taschen hast. Ey, das ist doch mein Telefon, und das hier ist doch mein Portemonnaie da in Deiner Tasche! Gib her, Du Opfer!" riefen die Nerds. Heimlich hofften ein paar von ihnen, hier einen sauberen Identitätsdiebstahl vornehmen zu können und so in Kontakt mit den Mädchen der Disco-Pumper zu kommen.

Bei vielen aus dem Mob der Nerds begann bereits eine Transformation. Hektisch wurde über neue Namen diskutiert, da wollte plötzlich einer Jamal genannt werden, was fast zu handgreiflichen Auseinandersetzungen führte, weil natürlich jeder Jamal heißen wollte, oder Justin, oder Kevin, oder Marcel, oder Antony, oder Ian Alexander oder irgendeinen anderen coolen Namen – Hauptsache, nicht mehr ihre alten gammeligen Namen wie etwa Stefan oder Sönke oder Nils!

Wahnsinnig viel war los im Tunnel, den Justus amüsiert durchquerte. Blicke musterten ihn, denn auch, wenn er das nicht wollte und noch weniger konnte, war er durch seine Ansprache in der Stadthalle so etwas wie der Heilsbringer für alle Anwesenden geworden, und so schlossen sie sich ihm an, wie er durch den Hauptgang des Bahnhofs in Richtung Innenstadt schritt. Immer mehr sammelten sich hinter ihm, folgten ihm in Pfeilformation und prozessierten ihm hinterher bis in die Haupthalle des Bahnhofs, wo er sich kurz umschaute und sich jetzt erst seiner Gefolgschaft bewusst wurde. 

Die ersten begannen schon, an seinen Kleidern zu zuzeln, an ihm zu ziehen.
"Was machen wir jetzt?" zischten sie ihm zu. "Was hast du jetzt vor?" fragten sie ehrfurchtsvoll. 
Justus schwieg.
Er musste überlegen.
Was hatte er denn eigentlich vor? Eigentlich wie immer rein gar nichts! Absolut planlos latschte er vor sich hin, guckte auf den Boden, machte sich so seine ziellosen Gedanken und wusste nichts zu sagen. Das war nicht gut. Das hier war eine Chance, um Quatsch zu machen! Zweitausendsechshundert Leute, die gerade eben erst verstanden hatten, das ihr Leben bis jetzt ihnen so gut wie gar nichts gebracht hatte - so gut wie gar nichts außer ein paar Highscores und ein paar nette Masturbationserlebnisse. 

Er lief weiter, unter der Anzeigetafel vorbei, auf der die Verspätungen der Züge angezeigt wurden, vorbei an der Informationszentrale, in der emsige Bahnangestellte damit beschäftigt waren, die Polizei und den Bundesgrenzschutz zu erreichen, um ihnen zu erzählen, was hier gerade vor sich ging.

Fussballfans, damit wussten sie umzugehen, aber sie hatten nicht im Geringsten eine Idee, wie sie mit einer Meute seltsamer junger Männer umgehen sollten, die nicht schrien, die vom Auftreten her nicht im Geringsten eine Bedrohung darstellten, aber irgend etwas im Schilde zu führen schienen. Wie Geister schoben sie sich im Kreis um den Informationsstand herum. Hinten hatte irgendwer seinen Laptop an einen Fahrkartenautomaten angeschlossen. Die Informationsangestellten schauten auf ihre Monitore zur Computerüberwachung und bemerkten, dass irgendwer gerade zweitausend Nulltarifkarten nach Mordor ausdruckte - dazu passte das Gekicher der Meute, die um den Jungen mit dem Laptop am Fahrkartenautomaten herumstand.

Mittlerweile war auch Justus in den Strudel der Menschen geraten, die sich langsam um den Infopoint wirbelten und sich immer enger hinter ihn drängten. Wie ein Rattenschwanz schwänzelten sie hinter ihm her, zupften weiter an ihm und begannen sich wie Bodyguards aufzuspielen, schupsten roh Passanten zur Seite, die ihm im Weg standen, und hielten unbeteiligte Besucher des Bahnhofs auf Abstand.

Nach der zweiten Runde um den Informationskasten blickte er durch die Eingangstüren des Bahnhofs nach draußen und sah, wie sich der Rest der Meute bereits auf dem Bahnhofsvorplatz versammelt hatte.

Ein weiteres Gewusel von aufgedrehten Gamern stand vor dem Hauptbahnhof. Ein paar von ihnen hatte sich in den Bahnhofskiosk geschlichen, wo sie begannen, die „Computerbild“ und Kaugummi zu klauen; andere standen vor dem Bahnhof herum und begannen, mit den Punks herumzuprollen oder rempelten in Kleingruppen organisierte jugendliche Gewalttäter an. Natürlich wirkte das alles sehr ungelenk und sehr unerfahren, mehr wie Leute die einfach zuviel und zu oft Menschen im Fernsehen und auf „YouTube“ bei Dingen zugeschaut hatten, die sie offiziell als "assi" bezeichneten, heimlich jedoch stark beneideten.

"Hast Du ’n Problem?" schrie einer einen Trinker an und versuchte, ihm mit der flachen Hand ins Gesicht zu schlagen, vergaß aber mangels besseren Wissens, die Hand dabei anzuspannen und wischte ihm nur wie mit einem eklig schwitzigen Frotteehandtuch durchs Gesicht. Postwendend hatte er eine schwere, weil aufgedunsene Alkoholikerfaust mitten im Gesicht und begann zu winseln. "Noch ’n Problem? Geh weiter!" ätzte ihm der Alkoholiker ins Gesicht, der den „YouTube“-Clip vom Hamburger Kiez wohl auch kannte.

Justus hatte das Ganze gesehen, durchschritt die große Glasschiebetür des Bahnhofs und half dem Jungen wieder auf die Beine. Er schaute den Alki an.
"Wer hat hier ein Problem?" fragte Justus ihn, während in seinem Rücken zehn Nerds versuchten, ein grimmiges Gesicht zu machen und wie die Typen in den "Halt-die-Fresse!"-Videos der Berliner Rapkapelle „Aggro“ auszusehen. Verwirrt zog sich der alte, betrunkene Mann zurück.

"Ey, Justus!" schallte es plötzlich laut aus den überall angebrachten Lautsprechern der Bürgerparktombola quer über den Bahnhofsvorplatz.
"Hier! Bei den Tombolahäuschen!" 
Justus erkannte Maiks verzerrte Stimme und schaute über den Platz, bis er die Gewinnausgabebude der Bürgerparktombola sah und sich dorthin in Bewegung setzte. Seine neuen Anhänger bildeten ein Spalier. 
"Maik, da ist Maik, da drüben bei der Tombola. Maik! Maik!" raunte die Masse, die Justus hinter sich ließ. Maik öffnete schnell die kleine Tür des Bohlenhausverschlages. Justus schlüpfte hinein.

In dem Haus, zwischen Chipstüten, Hachez-Schokolade, Teebeuteln und Werder-Bremen-T-Shirts, welche dort als Trostpreise gebunkert waren, saßen Emma und Steffi, stopften sich Paprikachips in den Mund und spülten sie mit Coca Cola aus Zwei-Liter-Flaschen hinunter.  

"Hallo Justus!" brachten sie mit vollem Mund mampfend hervor. 
"Hallo Justus!" sagte auch Maik, der ein Bier trank und gut gelaunt durch die Plastikscheiben des kleinen Hauses linste.

"Geile Typen, oder?" fragte er und nickte auf die Leute, die nun ihrerseits versuchten, in das Haus zu linsen.

"Naja, geht so!" sagte Justus. "Ich weiß überhaupt nicht, was die da draußen eigentlich machen!"

"Nichts machen die, Blödsinn machen die!" sagte Maik. "Die sind es nicht gewöhnt, kein klares Ziel zu haben. Die haben keine Ahnung, was sie tun sollen, wenn ihnen niemand einen Auftrag gibt. Hast Du einen Auftrag?"

"Unser Auftrag war es doch, die auf die Straße zu bringen, mehr weiß ich auch nicht!"

"Dann lass Dir besser mal was einfallen!" antwortete Maik. "Das geht sonst nicht gut aus - die fangen sonst richtig an, Quatsch zu machen!"

"Aber ich weiß nichts, fällt Dir denn nichts ein?" fragte Justus Maik.

"Also, gehen wir mal davon aus, dass Gott tatsächlich wollte, dass wir mit denen in den Krieg ziehen - dann sollten wir uns vielleicht darauf auch einstellen. Das bedeutet, wir müssen uns ausrüsten!" sagte Maik.

"Was heißt denn ausrüsten? Ich kenne mich da gar nicht aus. Was braucht man denn so für einen Krieg?" fragte Maik Justus.

"Wir brauchen: Transportgeräte, Waffen, Verpflegung, Unterhaltung und Geld. Das bedeutet erstmal: Wir brauchen Busse, um die Menschen zu transportieren. Sollte dieser Krieg, den wir vorbereiten, was wahrscheinlich ist, in Bremen stattfinden, können wir vieles zu Fuß machen oder mit der BSAG!"

"Mit der Straßenbahn in den Krieg?" fragte Justus überrascht.

"Da hatte ich eh schon immer vor!" antwortete Maik. "Kennst Du das, wenn Du in der Straßenbahn sitzt und Dir vorstellst, Du wärst ein Soldat in einem „Comanche“-Helikopter hinter einem 14MM- Geschütz und Dein Auftrag wäre es, jeden, der eine Mütze trägt, zu erschießen?"

"Nein!" antwortete Justus.

"Egal!" überging ihn Maik. "Ein paar Stahlplatten mit Schießscharten kommen in die Fenster. Die Überwachungskameras bauen wir nach außen, um einen Überblick zu bewahren. Die Fahrkartenautomaten bauen wir zu Gewehrablagen um. Dann bauen wir hinten noch sechs Badewannen als Extratank für den Dieselmotor ein und ‚Batz!‘ – fertig! Wir haben mit Sicherheit jemanden dabei, der Deutscher Meister im ’Straßenbahnsimulator’ ist."

"Ja, das kenne ich. Da gibt es doch auch diesen ‚Müllabfuhrsimulator’!" antwortete Justus.

"Ja, das stimmt, auch das wird noch zu unseren Gunsten sein. Das zweite, was wir brauchen, sind Waffen. Da müssen wir vorsichtig sein, es würde zu sehr auffallen, Waffen im Waffenladen zu klauen. Das geht nicht. Wir brauchen die irgendwo her, wo es nicht so auffällig ist!" sinnierte Maik und dachte nach. Dabei schaute er über den Bahnhofsvorplatz, ließ den Blick schweifen, und plötzlich blieben seine Augen auf dem Überseemuseum heften. „Überseemuseum“! dachte er sich. 

"Justus!" wandte er sich um. "Warst du schon mal im Überseemuseum?"
"Ja, klar, schon oft, wieso?"
"Was haben die denn da?"
"Keine Ahnung, von allem irgendwas: Alte Boote, eine Ausstellung über Völkerkunde, und nebenan ist noch das Archiv von denen, wo die ganzen nicht benutzten Ausstellungsstücke liegen." 
"Haben die Waffen?" 
"Bestimmt, irgendwo. Alte Waffen. Wieso?" fragte Justus.
"Wir gehen da rein und holen raus, was wir brauchen können!" antwortete ihm Maik. "Ich hasse Museen, die kommen sich immer wie was Besseres vor!"

„Auch ne geile Aussage!“ dachte sich Justus. „Museen kommen sich wie etwas Besseres vor!“
Normalerweise hasste er Leute, die mit der "Was-Besseres-sein-wollen"-Keule um die Ecke kamen, denn daran, etwas Besseres sein zu wollen, konnte Justus nichts Schlechtes finden. Ohne Leute, die besser sein wollten als die anderen, würde die Menschheit immer noch auf den Bäumen sitzen. Wäre da nicht mal einer gekommen und hätte dem anderen mit einem Stein auf den Kopf gehauen, weil er was Besseres sein wollte! 

Das war ja das Schöne an der modernen westlichen Welt: Wenn man was Besseres sein wollte, war das total in Ordnung. 
Jeder, der schrie: "Glaubst Du, Du bist was Besseres?" hatte in Wirklichkeit bloß nie die Chance gehabt, etwas Besseres zu werden. Das war wie Mädchen, die riefen, dass Männer immer nur Sex wollten, denn Mädchen, die immer nur riefen, dass Männer nur das eine wollten, waren die, die außer dem Einen nichts zu bieten hatten!

Aber die Idee, dass Museen sich für was Besseres hielten, das hatte schon was, denn tatsächlich war Justus schon immer angeekelt gewesen von der Atmosphäre, die normalerweise in Museen vorherrschte. Und tatsächlich gehörte er zu den Leuten, die es im Museum am besten fanden, aus dem Fenster zu gucken - das war die einzige Möglichkeit, die tonnenschwere Müdigkeit von den Schultern zu schütteln, die sich beim Besuch des Museums sofort einstellte. Es sei einem jeden mit Schlafschwierigkeiten angeraten, sein Schlafzimmer doch vom Kurator eines  Puppen- und Alte-Spielzeuge-Museums einrichten zu lassen! Tatsächlich war die Museumsmüdigkeit die gleiche Müdigkeit, die auch auftrat, wenn man sich mit einem ewigen Besserwisser unterhielt. Denn ein Besserwisser ist ja auch nur einer, der gerne etwas Besseres sein würde, es aber nicht aus seinem eigenen Kopf heraus schafft!

"Zurück zum Thema!" gab sich Justus einen Ruck. War es wirklich eine gute Idee, mit zweitausend Leuten ins Museum zu gehen und alles, was einem gefiel, mitzunehmen? Halb meldete sich sein Gewissen, dass man doch nicht einfach so ein Museum ausräumen konnte, auf der anderen Seite dachte er aber auch: „Was soll’s, kann man eigentlich mal machen!“ 
Es würde ja nie etwas passieren, wenn man nicht Grenzen überschritt, und tatsächlich war so ein gezielter Tritt in die Zähne des Bildungsbürgertums genau das Richtige! Die Idee gefiel ihm immer besser: Einfach mal das Museum ausräumen. Und dann ins Weserstadion einbrechen und den ersten Artikel des Grundgesetzes mit Unkrautvernichter in den Rasen ätzen. Und dann im Schulministerium in den Computer hacken und allen Schülern eine Eins geben. Und dann ins Finanzministerium und da in den Computer hacken und alles Geld der Millionäre klauen und den geistig Behinderten des Landes überweisen, so dass die geistig Behinderten plötzlich Millionäre wären - denen wäre das nämlich so egal, wie es Arschlöchern mit Geld sein sollte! 
Mal der bestehenden Ordnung richtig den Fick-dich-Finger zeigen! Das war jetzt vielleicht zu weit gedacht – aber – ja, Überseemuseum stürmen: Gute Sache! 

"Ok. Wie?" sagte Justus zu Maik, und Maik zeigte mit dem Finger nach oben. Justus schaute ihn fragend an und sah, dass Maik das Mikrophon in der Hand hielt, mit dem dieser Tombolamensch normalerweise tagein, tagaus das Publikum belästigte. Vor dem Häuschen drängten sich Nerds aneinander. Justus nahm das Mikrophon aus Maiks Hand, Steffi öffnete die Tür, und die Vier verließen die Bude durch die kleine Tür. Als sie vor der Bude standen, zeigte Maik noch einmal mit dem Finger nach oben, und schon begann der Mob den Vieren Räuberleitern zu machen und sie sanft auf das Dach der Losbude hinaufzuschubsen. 

Justus stand jetzt schwankend auf dem Dachgiebel des kleinen Hauses. Er schaltete das Mikro ein. Ein Fiepen ging durch die Lautsprecher auf dem Platz unter ihnen. Mittlerweile hatten es alle Nerds von der Stadthalle bis hierher auf den Bahnhofsvorplatz geschafft und blickten jetzt zum Dach der Bude hinauf.

"Wir brauchen Waffen! Wir gehen jetzt ins Überseemuseum! Und da holen wir uns die Waffen!" rief Justus der Menge zu.

Maik nahm sich das Mikrophon:
"Folgt mir, vorwärts!" rief er, sprang vom Dach und begann zu laufen. Er stieß einen Schrei aus - da begann auch der Mob sich zu bewegen. Erst ging er, dann lief er, schließlich rannte er über die Rasenfläche vor dem Überseemuseum und war als erster an den Treppen. 
"Nehmt alles, was ihr tragen könnt!" rief Maik.

Justus beobachtete das Schauspiel aus der Entfernung. Das war jetzt also Gottes Wille. Sollten sie Recht behalten und das hier war wirklich Gottes Idee, dann, dachte sich Justus, dann wäre es besser, wenn er eine gute Entschuldigung hätte!

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Tag 23 (3.5.2012)

„Wir nehmen alles, was wir tragen können, bitte!“


Eine kleine Wolke schob sich vor den hell über Bremen scheinenden Mond. In ihr konnte, wie immer, eigentlich jeder alles sehen, was er wollte. Dass sie aussah wie Kartoffelauflauf mit Spinat, aber ohne Lachs, könnte man sagen - naheliegend war es aber nicht.

Die Meute befand sich auf dem von mildem Gras bewachsenen weiten Europaplatz, direkt vor dem Überseemuseum. Sie haderte. Reden - schön und gut, Riot, ausflippen - alles ganz witzig, aber tatsächlich jetzt schwerstkriminell werden, ging das nicht etwas zu weit? Das hatten ihnen ihre Eltern, bei denen sie zumeist noch wohnten, aber anders beigebracht. Respekt vor dem Eigentum anderer muss man haben, hatten sie immer gesagt. 

So standen sie da alle und wurden erst ein wenig kleinlaut, um dann mit dem Debatieren zu beginnen. Pro, contra, Polizei, Festnahme, Polizeistation, die Eltern anrufen müssen, Kaution, Untersuchungshaft, Richter, Urteil, Gefängnis, kein Internet, Vergewaltigung, Einsamkeit, weinender Besuch von Mama.
"Ich habe keinen Sohn mehr!" von Papa, verprügelt werden, sich einer Gang anschließen, wirklich kriminell werden, weil - vorbestraft.
Probleme, Probleme!

Da kam plötzlich aus der Tiefe der Rasenfläche ein Auto angerast, klar zu erkennen als der neue Fiat Panda, der gerade von der Bürgerparktombola verlost wurde. Er beschleunigte über den Platz, die Leute sprangen auseinander, im Schiebedach stand Maik, hatte das „World-of-Warcraft“-Horn in der Hand und schrie laut: "AHU! AHU!" 

Der Wagen raste auf die Treppen zu, knallte mit der Vorderachse gegen die erste Stufe, die Achse sprang in die Luft, der Wagen hob ein Stück ab, Steffi, die am Lenkrad saß, drückte weiter aufs Gas, die Reifen bekamen wieder Kontakt zu den Stufen, das Fahrzeug schoss die Treppe zwischen den beiden links und rechts positionierten steinernen Sphinxen hinauf, durchbrach die gläserne Hauptpforte des Museum und schlitterte in die Empfangshalle.

Das Fahrzeug wirbelte herum und senste den gesamten Kassenbereich nieder. Die Kasse zerbarst, ebenso wie der prallgefühlte Behälter, welcher die über die Jahre gesammelten Spenden für das Museum enthielt, welche der Museumsdirektor zufälligerweise eigentlich gleich am nächsten Tag hatte leeren wollen. Der Behälter platzte, genauso wie die Kasse, und schon wieder stand Maik, welcher immer noch im Schiebedach des Wagens steckte, in einem Regen aus Geldscheinen. 

"Nicht schlecht!" dachte er sich. "Das fängt doch eigentlich ganz gut an!" 

Steffi stieg an der Fahrerseite aus, Emma vom Beifahrersitz, und sie klappten die Sitze nach vorne, so dass Maik und Justus wenig anmutig als letzte aus dem Auto krabbeln konnten. Ein wenig verwirrt, aber unverletzt standen sie neben dem Auto und sahen, wie die ersten Teile ihrer neuen Armee - der Mob vor der Tür also -, aufgepeitscht von dieser geilen Actioneinlage, ins Museum tapsten.

"Ey, Justus, weißt du was?" fragte Maik
"Ne, was denn?" antwortete Justus
"Stell dir mal vor", sagte Maik, "Elefanten hätte keinen Rüssel und ganz kleine Ohren. Voll gruselig, oder?"
Und für einen kurzen Moment konstruierte Justus dieses Bild tatsächlich in seinem verwirrten Kopf und erschrak, weil es stimmte. Hätten Elefanten keinen Rüssel und nur ganz kleine Ohren, würden aber ihre riesigen Stosszähne behalten, wären sie tatsächlich unglaublich gruselig!

Verduselt standen die Vier am Wagen. 
"Alles klar, dann wären wir wohl drinne!“ sagte Steffi leicht schwankend von der Seite.
"Ja, das würde ich auch so sehen!" sagte Emma und hob einen Fünfzig-Dollar-Schein auf, den wohl irgendwann mal ein Tourist in die jetzt völlig zerstörte Spendenbox gesteckt hatte. Sie hielt den Schein in der Hand und schaute ihn sich von beiden Seiten an. 
"Sieht so aus, als wären wir in der internationalen Kriminalität angekommen!" gab sie den anderen zu bedenken, und das freute Maik ein wenig. So ein rasanter Aufstieg in so kurzer Zeit, das gefiel ihm schon gut. Echte Action war das. Endlich passierte mal etwas. "Geil!" dachte er sich.

Vor der zerstörten Tür wartete nach wie vor der Mob, und erste Mitglieder setzten schüchtern ihren Fuß durch das geborstene Portal in das Museum hinein. Sie wandten den Kopf zur Seite und in die Höhe und sahen im Mondlicht die weitläufige Haupthalle des Museums hinter dem Eingangsbereich liegen. Erstaunlicherweise war es still geworden. Ein einzelner Mann kam die Treppe aus dem ersten Stock herunter, besah sich den Eingangsbereich und rief laut "Stopp!", was in Anbetracht des halb zerquetschten Autos, des zerstörten Kassenbereichs, der zerborstenen Eingangstür und der herumsegelnden Geldscheinen ein bisschen albern wirkte. "Stopp!" sagte er noch einmal, wirkte aber aufgrund seiner doch auch durch seine Museumswärteruniform hindurch scheinende Hippieattitüde wenig ernst zu nehmen. 

"Mit was denn ‚Stopp’?" fragte Steffi.
"Ich weiß ja nicht, was Ihr da gerade macht, aber: Stopp!" sagte der Museumswärter noch einmal.

"Ist jetzt ´n bisschen spät für ‚Stopp’ oder nicht?" fragte ihn Justus. 
"Da hat er nicht ganz unrecht!" dachte sich der Museumswärter, der langsam begann, aufgebracht zu wirken.
"Was macht Ihr denn hier?" fragte er mit lauter, aber zitternder Stimme.
"Wir", sagte Maik, "wir werden jetzt einige Dinge aus diesem Museum mitnehmen. Wir brauchen Waffen, Boote, Uniformen!"
"Was?" fragte der Museumswächter.
"Schauen Sie mal nach da draußen!" sagte Justus, und der Museumswärter wandte den Kopf und sah den Mob von mehr als zweitausend seltsamen Gestalten langsam in das Museum vordringen. 

"Zombie-Apokalypse!", dachte er sich.
„Endlich!“

Und auf den zweiten Blick erkannte er, dass das die Typen von der riesigen LAN-Party in der Stadthalle sein mussten, auf die er auch unbedingt hatte gehen wollen, von seinem Chef, dem affigen Museumsdirektor, aber nicht frei bekommen hatte. 
Der Wärter bekam das alles nicht mehr zusammen. Wieso, warum, weshalb - was sollte das denn nun wieder? Scheißegal! Verfickter Ein-Euro-Job! Da hatte er eh schon lange keinen Bock mehr drauf. Er rannte ein Stück auf Justus zu, rannte gegen seine Schulter und rief laut: "Verdammte Gewalt! Ich werde ohnmächtig!", tat so, als würde er zusammensacken und blieb - sich tot stellend - auf dem Boden liegen.

"Ok, nicht schlecht!" sagte Justus. "Maik, jetzt mach was!"

Maik stieg auf die Motorhaube des hässlichen Autos, hob das WoW-Horn zum Mund, drückte auf den Einschaltknopf und begann zu sprechen.

"An alle!" rief er, und die Leute, welche bereits angefangen hatten, sich die Geldscheine, die auf dem Boden lagen, zu schnappen, blickten teilweise auf. Immer mehr strömten in den Eingangsbereich des Museums, sammelten sich um das Auto, schauten mit einem Auge zu Maik hinauf und mit dem anderen Auge zum Boden, wo das Geld lag.

"Vergesst das Geld!" rief Maik. „Das ist das Geld von uns allen, wir werden es später aufsammeln und für unsere gemeinsame Sache verwenden. Ihr habt gehört, was ich das letzte Mal zu Euch gesagt habe. Wie brauchen kein Geld mehr. Wir nehmen uns, was wir brauchen. Wir sind jetzt hier im Museum. Was wir jetzt brauchen, sind die Waffen aus den Ausstellungsräumen, wir brauchen die Kanus, die hier herumstehen, wir brauchen die Voodoo-Figuren. Ich kann Euch nicht sagen, was wir genau brauchen - bitte nehmt einfach alles mit, was Euch logisch erscheint, und tragt es hier zusammen. Einhundert von euch bleiben hier vorne und wehren die Polizei ab, falls sie gleich aufkreuzen sollte. Und jetzt los!" rief Maik. 

Sie gingen los, hinein in den großen Hauptraum.

In den hinteren Schaukästen befanden sich schon die ersten Ausstellungsstücke, die hilfreich sein könnten. Ritter - in voller Montur, mit kleinen Hämmerchen, um behelmte Schädel einzuschlagen, und mit großen Schwertern, um schreiend anzugreifen.

Eine erste Vitrinenscheibe vor den Ausstellungsstücken ging laut klirrend zu Bruch.

Maik, Justus, Steffi und Emma gingen die Treppe hinauf, betraten den Rundlauf um den vier Geschosse hohen und überdachten Innenhof, der die Haupthalle beherbergte. Sie lehnten sich an das Fenster und sahen zu, wie sich die Halle langsam füllte. 

Sie sahen den großen, schlaksigen Kerl, der gerade mit einem Stuhl die Vitrine zu den Rittern eingeschlagen hatte. 
"Ey! Was machst Du da?" schrie ihm Maik zu.
"Aber", rief der Schlacks zurück, "das hattest Du doch gesagt!"
"Guck Dir das Ding doch mal an! Glaubst Du ernsthaft, Du passt da in die Rüstung rein?" rief Maik herunter. 

"Hey!" rief er in die Halle. "Ist hier irgendwo ein Zwerg, mindestens Level 70?" 

"Ja, hier!" rief ein sehr kleiner Mann zurück.

"Dann ist das Deine Uniform!" rief Maik, deutete auf die Ritterrüstung und schaute wieder den Riesen an, der verdattert mit dem Stuhl in der Hand vor der zerstörten Vitrine stand.

"Du gehst in den ersten Stock!" mischte sich Justus ein und rief ebenfalls herunter: "Da ist die Ausstellung über die Niederländer im Mittelalter, da wirst Du eher etwas Passendes finden!"

"Das gilt für alle hier!" rief Maik. "Wir sind nicht hier, um Quatsch zu machen, also - nicht nur! Ich will, dass Ihr nachdenkt, was Ihr könnt. Jeder soll die Sachen nehmen, mit denen er umgehen kann. Wer kann hier Boot fahren?" 

"Ich!" rief einer. "Aber ich will nicht Boot fahren!"


"Egal! DU schnappst Dir die Boote. Es ist gut möglich, dass wir das gute Bremen gegen Angreifer aus Richtung Neustadt verteidigen müssen. Bremen hat kein eigenes Polizeiboot mehr. Das bedeutet, wenn wir Niedersachsen den Krieg erklären, hat die Regierung von Bremen keinerlei Chancen mehr, ihre Seehoheit aufrecht zu erhalten! Wenn wir erst einmal alle Brücken gesprengt haben, ist das unser Vorteil! Im Hafen liegt ein Schiff, es heißt ‚MS Stubnitz’. Das kann unsere Kampfbasis auf der Weser auf Höhe Eck werden! Also, alles was Ihr an Schiffen findet, kann uns nur von Nutzen sein!"

"Und was, wenn ich keine Lust habe?" schrie einer von unten herauf, der seine neu gewonnene Freiheit gleich wieder für nörgeliges Rumgezicke einsetzte.

"Also, bitte, hier geht es nicht um Wollen. Ich wäre auch lieber zu Hause und würde ‚Tetris’ spielen, aber man kann nicht alles haben!" rief Emma, und die Köpfe wandten sich zu ihr nach oben.

"Tetris?" fragte einer. "Sagst Du das, weil Du wirklich ‚Tetris’ spielen willst, oder nur, weil Du kein anderes Computerspiel außer ‚Tetris’ kennst?"

"Tatsächlich", rief Emma zurück, "würde ich gerne zu Hause einige gute Gedichte von Ingeborg Bachmann oder ein Menschen hassendes Buch von Thomas Bernhard lesen, dazu einen guten Wein trinken oder mich mit Freunden treffen, den ganzen Tag lachen und nachts noch mit einem großartigen, aber erfolglosen Schriftsteller schlafen. Aber ich dachte, ich passe mich Eurem Leben mal an!"

"Psst!" machte Justus. "Mach’ sie nicht traurig!", und die beiden schauten zusammen mit Steffi und Maik weiter dem Treiben zu. Einige trugen bereits große afrikanische Totems herbei und häuften sie in der Mitte des Raumes. Was das für einen Sinn machte, wusste eigentlich keiner, aber es war wie immer, wenn einer mit Blödsinn anfängt, da wird meist nicht nachgefragt - das wird dann einfach gemacht, weil sich jeder denkt, was Sinnloses macht ja keiner; wenn einer was macht, dann muss da ja ein Sinn dahinter stecken. Stelle sich mal einer vor, das würde etwas ganz Tolles werden, das kann man ja vorher nicht wissen - also ist es besser, mitgemacht zu haben, weil - später haste was davon!
Saudumm, wie die Menschen halt sind! 

Der Mensch ist an und für sich manchmal recht intelligent. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum man ihn so nennt, doch sind sie mal zu zweit und aus Menschen werden Leute, sind sie schon bald eine gefährliche Meute!

Justus wandte sich oben an der Balustrade an Maik. 

"Seekrieg? Das hast du Dir gedacht?" 

"Warum nicht, da denkt doch heute keiner mehr dran. Alles, was wir wissen, also alles, was uns Justin, also alles, was uns Gott gesagt hat, ist, dass er eine Armee braucht. Und wer eine Armee braucht, der bereitet sich auf einen Krieg vor. Und wenn heute einer Krieg in Bremen machen will, dann kommt er wahrscheinlich als Letztes auf die Idee, Bremen von der Seeseite mit Schiffen anzugreifen. 

Ich sage, nachdem wir die Kanus hier gestohlen haben, greifen wir mit den Kanus und Einbäumen von der Seeseite die Schlachte an und kapern erst die ‚Hal-över‘-Fähren, dann die ‚Treue’, dann das ‚Pfannkuchenschiff’ und dann die ‚Stubnitz’ als Flakschiff unserer Armada. Das wäre klug, denke ich. Also: Erst Kanus, dann Sportschiffe, dann Jachten, dann Frachtschiffe, dann der Rest!"

"Und dann willst Du die Brücken sprengen!" konstatierte Justus.
Maik sagte :"Ja!"

"Und was machen wir mit denen aus der Neustadt? Ich meine, vielleicht könnten wir die ja noch gebrauchen, für irgendwas!" antwortete Justus.

"Das ist unwahrscheinlich!" sagte Maik. "Wenn die erstmal sehen, was hier auf der guten Seite der Weser abläuft, dann sollten sie wohl besser verstehen, auf welcher Seite sie stehen. Wenn sie das nicht tun, dann ist ihnen ohnehin schwer zu helfen!"

"Ich finde dieses ewige Neustadt-Gebashe anstrengend, das bringt doch keinem was. Wir sollten uns mal überlegen, wer die Leute sein könnten, gegen die wir kämpfen sollen. 
Ich meine, wenn Gott sich schon einmischt, dann muss das ja schon etwas Besonderes sein, dann kann das ja nicht nur irgendein Bürgerkrieg sein, das kann ich mir kaum vorstellen. Wir müssten uns selber mal fragen, wen wir denn als größte Bedrohung ansehen, wer könnte denn die Welt so sehr in Gefahr bringen, dass man da wirklich was machen müsste, so sehr in Gefahr, dass ein Gott sich da einmischt! 
Ich meine, es könnte doch einem Allmächtigen reichlich egal sein, wenn sich so ein paar popelige Menschen tot hauen!" sagte Justus, und Emma schaute ihn an.

"Hass!" sagt sie
"Wie ‚Hass’?" fragte Steffi.
"Naja, Hass ist das Problem. War es schon immer, wird es immer sein. Was Menschen tun, das ist eigentlich total egal. Es geht nicht um Handlung, sondern um Einstellung. Jeder kann mal was aus Hass machen, aber meistens schämt man sich ja dann für seinen Hass. Wenn dieses ‚Sich schämen‘ aber aufhört, dann ist die Welt tatsächlich ziemlich kaputt. Es ist ja kein Problem, was ein Mensch tut, es ist ein Problem, was ein Mensch denkt, denn was ein Mensch denkt, das wird er ja früher oder später auch tun. Und wenn aus einer Idee eine Grundeinstellung wird, dann gibt’s ein ganz großes Problem, nämlich ein Problem im Bewusstsein. Und was ja ein weiteres Problem dabei ist – und das sieht Justus wahrscheinlich genau so -: Wer hasst, wird unlässig, und unlässig sein ist humorlos sein, und wer humorlos ist, der nimmt alles wichtig, und wer alles wichtig nimmt und keine Leichtigkeit und Lässigkeit mehr hat, der steht auf der Seite des Todes und des Untergangs!"

"Ist schon schlimm mit dem Hass!" sagte Justus. "Aber - wenn man das mal anders herum sieht: In Hass steckt ja auch eine Menge Kraft drin, und Kraft, das ist ja eigentlich nicht schlecht. Kraft bedeutet ja Veränderung, Kraft bedeutet, dass es morgen anders sein wird, als es heute ist. Und ich finde es gut, wenn morgen nicht so ist wie heute. Ich hasse ja sehr viel, und ich glaube, damit ganz gut zu fahren, meistens zumindest. Zum Beispiel:
Ich habe in meinem Leben noch nie einen von diesen Warenabstandshaltern im Supermarkt angefasst. Ich hasse sie. Wenn jemand zu diesem Teufelsstab greift, habe ich das Gefühl, er unterstellt mir, dass ich ihn bei der Kassiererin betrügen wollte. Und er unterbindet das Einzige, was ich mit ihr zu besprechen hätte, das gute alte ‚Nein danke, bis hierhin, das war’s!’ 

Ich hasse diese Dinger. Ich habe aber sowieso Probleme mit Hass. Ich hasse Krankheit. Das heißt: Ich hasse kranke Leute, weil ich immer das Gefühl habe, sie wären wehleidig und wollten nur Aufmerksamkeit auf die billigste Art und Weise, nämlich mit Mitleid, erlangen. Es ist mir egal, dass das nicht stimmt, wenn jemand wirklich krank ist, weil - an den meisten Krankheiten - nicht bei allen -, ist ja jeder durch das, was er in seinem Leben gemacht hat, selber schuld. Ich hasse die, aber das ist vollkommen egal, weil ich die, die krank sind und sich nicht behandeln lassen, genauso hasse. Weil ich das anmaßend und dumm finde. Und Dummheit hasse ich mehr als alles andere! Vor allen Dingen, wenn die Leute auch noch stolz auf ihre Dummheit sind. Aber ich hasse auch Leute, die immer so tun, als wären sie nicht dumm, und darauf stolz sind, dass sie nicht dumm sind. 

Ich hasse Stolz. 

Und ich hasse es, wenn Leute nicht stolz auf sich selber sind und auf das, was sie erreicht haben. Wenn sie tiefstapeln und alles so behandeln, als wäre es selbstverständlich. 

Am schlimmsten finde ich die, die nicht an der Grenze zum Selbstmord leben, die, die so tun, als wäre das Leben in Ordnung, nicht voller Leid und Schmerz und Scheiße und Krankheit und Tod. Und noch viel schlimmer finde ich die Todessehnsüchtigen und degenerierten, grenzdebilen Arschlöcher, die direkt an der Grenze zum Selbstmord leben, weil sie das Leben und alles Schöne, was das Universum ihnen vor die Füße schmeißt, nicht sehen können, weil sie zu arrogant sind, sich als Teil des Ganzen zu sehen, und der Meinung sind, etwas Besonderes zu sein. 


Aber mal ganz abgesehen von meinem Hass - vielleicht ist jetzt nicht der Platz und nicht die Zeit für Monologe. Immerhin plündern wir gerade ein Museum aus!“ sagte Justus und schaute in den Innenhof, wo der Mob bereits begann, sich seltsame Kostüme anzuziehen, sich altertümlichen Schmuck umzuhängen und zu kichern, während sie jetzt auch schon ausgestopfte Wölfe und Adler herbeizerrten und auf den Haufen in der Mitte der Halle warfen.

"Das wird unser Maskottchen!" rief einer und hielt den Adler in die Luft.

"Unser Maskottchen wird mit Sicherheit kein Scheiß-Adler!" schrie Justus hinunter, und der Junge ließ den ausgestopften Vogel fallen. 

"Ganz andere Frage: Wie kommen wir hier mit dem ganzen Zeug raus?" fragte Steffi Maik. Maik guckte doof. Pläne schmieden: Schön und gut, da war Maik nicht so ganz schlecht drin, aber sie dann umsetzen, das war nicht ganz so leicht. Man musste ja auch mal überlegen: Wenn Maik gut im Pläne ausführen wäre, wäre er nicht Maik!

"Der Typ im Krankenhaus, der hat Dir doch diese Visitenkarte gegeben. Stand da nicht eine Nummer drauf?" fragte Maik.

Justus durchsuchte seine Taschen. Tatsache - da war die Visitenkarte mit der Telefonnummer vom „Club der Spinner“.

"Maik, gib mir Dein Telefon!“ sagte er.

Maik reichte ihm das Telefon, Justus tippte die Bremer Festnetznummer ein und wartete.

Ein Freizeichen war zu hören, dann meldete sich eine Stimme:
"Freie Hansestadt Bremen. Wer stört?"
"Hallo! Mir wurde gesagt, ich sollte bei dieser Nummer anrufen. Wir haben Probleme!"
Justus hörte das Auflegen des Telefons. Dann ertönte das Besetztzeichen. Justus schaute auf das Display.
Einfach aufgelegt. 
Er wartete.
Das Telefon in seiner Hand vibrierte.
"Hallo?" antwortete er
"Sind Sie im Museum?"
"Ja! sagte Justus.
"Nehmen Sie, was Sie brauchen. Dann gehen Sie über die Brücke und hinunter ins Schauarchiv unter dem großen Kino. Wir schicken ihnen eine Karte auf das Telefon, das sie gerade in der Hand halten. Dort ist eine Tür eingezeichnet. Durch diese Tür gelangen Sie in die alte Kanalisation. Keine Sorge, die Gänge sind breit genug. Dort wird Sie jemand empfangen und sie zum Weserufer geleiten. Wenn Sie dort angekommen sind, werden Sie und Ihre drei Freunde zu uns kommen. Wir wissen, was Sie vorhaben. Wir müssen uns unterhalten!" sagte die Stimme und legte auf.

Justus blickte auf das Display. Es leuchtete auf. Eine neue MMS. Er öffnete sie und sah die Karte vor sich. Dann drehte er sich um und rief hinunter:

"Wir treffen uns in fünf Minuten an der Brücke zum Kino. Wer dann nicht da ist, ist raus. Wir nehmen alles, was wir tragen können, bitte!" rief er hinunter, schaute Emma, Steffi und Maik in die Augen und ging mit ihnen zusammen in Richtung Glasbrücke.

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Tag 24 (10.5.2012)

Wo die Weser keine großen Bögen macht


Immer noch schien der Mond saftig durch die Dachfenster in die große Haupthalle des Überseemuseums hinein und warf die seltsamen Schatten der Menschen, die dort herumwuselten, auf den Boden.

Langsam fanden sich immer mehr Leute in der Haupthalle ein; sie zerrten seltsame Ausstellungsgegenstände mit sich und warfen sie auf den großen Haufen, der in der Mitte der Halle aufgetürmt war. Ausgestopfte Gnus, Nachbildungen von eingeborenen Inuit, präparierte Insekten gab es da. Fast alle trugen mittlerweile seltsame Anhänger ausgestorbener Südseevölker oder mittelalterliche Rüstungen oder Markt- und Hofkleider - manche hatten sich ein altes Wikingerfell umgehängt oder trugen eine Mumie unter dem Arm.

 Alle sammelten sich jetzt in der Halle und begannen in ihren komischen Aufzügen, sich alles überzuwerfen und in die Taschen zu stecken, was irgendwie passte.

"Los jetzt!" rief Justus in die Halle hinunter, während er großen Schrittes an der Balustrade des ersten Stockes entlangging. Maik, Steffi und Emma folgten ihm. Unten begannen die Leute die Einbaum-Schiffe und Eingeborenenkanus zu schultern und sie wankend die Treppe zum ersten Stock hinüber zu schleppen. Sie fielen immer wieder um, versuchten die Treppe hinaufzusteigen, doch man sah ihnen an, dass sie nie gelernt hatten, Dinge und Sachen von A nach B zu schleppen. 

Sie versuchten, die Boote hoch zu heben, fassten aber leider zwischen ihren Beinen hindurch und schoben sich gegenseitig Bug und Heck schmerzhaft in den Unterleib und purzelten die Treppe wieder hinunter. 

Dabei kicherten sie, rappelten sich wieder auf und versuchten es erneut, bis sie nach und nach im ersten Stock ankamen und sich weiter in Richtung der gläsernen Brücke bewegten, welche die Straße überspannte und zum Archiv des Museums führte, wo sich die "Größte Einbaum- und Kanu-Sammlung der nördlichen Hemisphäre" befand.

Immer mehr der Mitglieder dieser seltsamen neuen Gottesarmee wälzten sich die Treppe hinauf und bewegten sich in Richtung Glasbrücke, die vier Freunde voran. Dann gingen sie auf die Glasbrücke hinaus und schauten von der Mitte aus über den Bahnhofsvorplatz.

Aus der Ferne näherte sich plötzlich ein Fackelzug. Im flackernden Licht war eine Gruppe von etwa zweihundert kahl rasierten Männer mit großen Flaggen des untergegangenen deutschen Reiches zu erkennen, und langsam drangen die "Ausländer raus!"-Rufe an Justus‘ Ohr. Irgendwie auch Retro. „Ausländer raus!“, das schreit doch heute von den Rechten auch keiner mehr. "Nazis raus!" ging es Justus durch den Kopf, aber dann musste er an den berechtigen Einwand gegen diese Parole denken, den Einwand nämlich, dass "Nazis raus!" natürlich falsch war, denn „Nazis raus aus Deutschland!“, das hätten die Deutschen wohl ganz gerne, aber richtig war ja doch eher: "Wieso denn Nazis raus aus Deutschland - nein, denn hier gehören sie hin!" Die Nazis haben die Deutschen ja selbst erfunden und gezüchtet - mit den Idioten sollten sie mal schön selber klar kommen!

Trotzdem wirkte die ganze Demonstration irgendwie verdächtig. Eine plötzliche Nazi-Demo in Bremen, das wußten die Bürger meistens ganz gut und mutig zu verhindern. Aber wieso jetzt mitten in der Nacht ein Fackelmob zum Hauptbahnhof zog, das war nicht zu erahnen. 

Mannschaftswagen der Polizei kamen angerauscht. Man schaute kurz zum zerstörten Eingangsportal des Überseemuseums herüber, entschloss sich dann aber, sich erst einmal um die Nazis zu kümmern. 

Sie fuhren weiter bis zum Bahnhofsvorplatz. Polizisten in voller Montur sprangen aus den Fahrzeugen und rannten auf die Demonstration zu; die Nazi-Meute wurde auseinander getrieben und begann, in Richtung Museum zu rennen. 

"Nicht schlecht!“ dachte sich Justus, das war eine gute Sache. Eigentlich war jede schlimme Sache, wie etwa ein verwüstetes Museum, eine gute Sache, wenn man es irgendeinem Nazi-Pack in die Schuhe schieben konnte!

Justus lief zurück, die Treppe vom ersten Stock hinunter und in den ehemaligen Kassenbereich, in dem noch die hundert Mann große Vorhut stand, die ursprünglich die zu erwartende Polizei abwehren sollte. Sie blickten durch die zerstörte Eingangstür, sahen die Nazis auf sich zu rennen und rafften noch schnell die Geldscheine aus der explodierten Kasse zusammen, welche auf dem Boden lagen. 

"Weg hier!" schrie Justus. Hektisch wurden noch die letzten Scheine zusammengerafft, in den Hosentaschen verstaut, und dann rannten sie los - Justus hinterher, die Treppe hinauf. So entgingen sie knapp dem immer noch Fackeln tragenden Ekel-Mob der Nazis, die nun ins Museum rannten und in der Eingangshalle das Wenige kaputtschlugen, das noch intakt war. 

Justus wartete am Ende der Treppe, bis seine Leute an ihm vorbei gelaufen waren, und schmiss dann die große Tür ins Schloss, welche das Erdgeschoss vom ersten Stock trennte, und hastete weiter zurück zur Brücke, auf deren anderer Seite schon die übrigen Leute mit Maik, Emma und Steffi warteten. Justus lotste den Trupp über die Brücke. 

Der Mob der „Armee der Spinner“ hatte sich leicht dezimiert, vielleicht tausend hatten es aus dem Museum über die Brücke geschafft. Sie rannten, hüpften und drängelten nun die Treppe ins Schauarchiv hinunter. Der Schmuck um ihre Hälse klimperte, und sie stürzten über die Felle und Ritterrüstungen an ihren Körpern. Einige trugen die Kanus über ihren Köpfen, so dass sie nichts sehen konnten, und wie ein total bescheuertes Knäuel Menschen fielen und stolperten sie in das Archiv des Museums.

Im Dämmerlicht der langen Gänge, hintereinander aufgereiht, sah man Speere, Morgensterne, Säbel, Schwerter und alte Pistolen in den Auslagen. Ein Teil der Gerätschaften befasste sich mit der Militärtechnik des zwanzigsten Jahrhunderts: Mörser standen da, Handgranaten und sogar eine Stalinorgel. Sofort wurde grapschend alles mitgenommen, was irgendwie tragbar war, mit "Ahhhs" und "Ohhhs" bedacht, und alle taten so, als würden sie sich tatsächlich mit Waffen auskennen. Sie liefen weiter die Gänge entlang, und nahmen mit, was sie noch irgendwie mit sich zerren konnten.

Maik zückte sein Telefon und rief den Lageplan auf, den ihm der „Club der Spinner“ zugesandt hatte. Er setzte sich an die Spitze der Gruppe und lenkte sie durch die Gänge zur hintersten Ecke des Kellerarchivs, bis sie an der Stelle ankamen, die auf der Karte tatsächlich mit einem X markierte war. 
Die vier Freunde drehten sich um und sahen, wie ihre Gefolgschaft langsam zum Stehen kam.

Das war jetzt wirklich eine seltsame Bande: Alle sahen verwegen bis total bescheuert aus! 
"Geil!" dachte sich Justus. Eigentlich ein Traum. Was gerade geschah, war in einer Art und Weise absurd, von der er nicht zu träumen gewagt hatte.

Wie doof die alle aussahen. Wie sehr die keine Ahnung hatten. Und wie sich doch eine solche Eigendynamik entwickelt hatte, dass anscheinend niemand der hier anwesenden Spinner auch nur noch einen Gedanken darauf verschwendet hatte, was eigentlich gerade mit und dank ihnen vor sich ging. Das war schon alles wahnsinnig genug, aber Maiks Idee, mit diesen Kanus und Morgensternen die Gastro-Schiffe an der Schlachte zu entern und sich auf einen Seekrieg vorzubereiten, das schlug nun wirklich dem Fass den Boden aus. Justus fühlte, dass der heutige Tag wohl der absurdeste seines Lebens bleiben würde und er sich auf seinem Totenbett noch grinsend daran erinnern würde. Aber auch Justus hatte keine Ahnung, was im nächsten Jahr noch alles passieren würde!

An der Stelle, welche auf der Karte mit einem X markiert war, hing ein mittelalterlich wirkender Wandteppich, welcher unterschiedliche Szenen abbildete, unter anderem die große Besprechung der Bremer Räte, welche letztendlich zum Hansezwang führte.
„Noch mehr so seltsames Wissen!“ dachte sich Emma.
Als Bremen gezwungen wurde, in die Hanse einzutreten, entstand ja der Name der Stadt als "Freie Hansestadt Bremen". Das hatte Hamburg besser gemacht mit der Hanse-Sache, weil besser verhandelt worden war. Deswegen heißt es ja bis heute nicht "Freie Hansestadt Hamburg" sondern "Freie UND Hansestadt Hamburg". Deswegen sagen ja die Bremer bis heute neiderfüllt: „Hamburg ist das Tor zur Welt, aber Bremen hat den Schlüssel!“ 

Das ist doch mal Wissen! 

Als Emma sich den Teppich genauer besah, war dort nicht nur die Rätesitzung eingeklöppelt, sondern da waren auch Bilder des Weserstadions und - tatsächlich: Da hatte jemand nachträglich die neuen Solar-Parnele eingefügt!

Emma schaute sich den Teppich noch etwas genauer an: Tatsächlich war da auch der Freimarkt abgebildet, aber auch hier waren nachträglich - zu den alten Fischbrötchenständen und Riesenkinderrutschen - der „Breakdancer“, der „Top in“, der „Rotor“ und die „Olympia“-Achterbahn eingestickt worden. 

Anscheinend - aber das war jetzt nur eine Mutmaßung - wurde auf diesem Teppich immer noch die Geschichte Bremens fortgeschrieben, und wenn man ganz genau hinsah, war da sogar auch ein Portrait von Ailton zu erkennen - nackt mit Meisterschale! 

Emma streckte die Hand aus und berührte den Teppich. Sie drückte leicht dagegen und bemerkte, dass er nicht an der Wand anlag, sondern sich nach hinten durchdrücken ließ. Sie ging an die Seite, ganz nach rechts, wo eine Skizze der in Bremen gebauten „Internationalen Raumstation“ eingeklöppelt war. Sie zog am Vorhang, er glitt zur Seite und eine große Öffnung in der Wand dahinter kam zum Vorschein, die ins dunkle Nichts führte. Das Letzte, was zu sehen war, bevor sich der Gang hinter der Öffnung ins Nichts verlor, war ein Schild, das von der Decke hing und auf dem geschrieben stand:

Einfahrt freihalten!
Freiheit einhalten!

Maik leuchtete mit seinem Mobiltelefon in die Dunkelheit, dann schaltete er wieder in seinen seltsamen Soldatenschritt und tauchte diszipliniert und doch katzenhaft in den lichtleeren Gang hinein. Der Mob, der nun vor dem Schacht wartete, wurde still, und es waren nur noch die tapsenden Schritte von Maik und das Geklimper des gestohlenen Schmucks um ihre Hälse zu hören. Maiks Schritte entfernten sich, bis sie irgendwann nicht mehr zu hören waren.

Steffi wurde mulmig zumute. Eine Unsicherheit befiel sie, mit der sie nicht gerechnet hatte. Was war denn, wenn Maik da im Dunkeln irgendetwas passieren sollte? Steffi wunderte sich. Mit diesen Gefühlen wusste sie jetzt nicht umzugehen. Sie machte sich - und diese Feststellung war noch seltsamer - tatsächlich Sorgen!

Und wirklich: Sie machte sich Sorgen um Maik, und noch viel seltsamer: Obwohl er jetzt erst eine Minute außer Sicht war, vermisste sie ihn schon! Ihr Verstand kam überhaupt nicht mehr hinterher. Der Tag war so schon verwirrend genug gewesen, aber als sie bemerkte, dass sie gerade unterbewusst beschlossen hatte, Maik zu küssen, sollte er wieder auftauchen, war sie doch ein wenig von sich selbst schockiert. 

Das Gefühl, jemanden küssen zu wollen, war bei ihr meist ein Resultat eines überschwänglichen, kurz aufflammenden geschlechtlichen Verlangens. Aber die Idee, Maik zu küssen, kam aus einer anderen Richtung und nicht zuletzt aus der merkwürdigen Empfindung heraus, es langsam angehen lassen zu wollen.

"Ich lasse es langsam angehen mit einem Typen, der gerade einen Seekrieg auf der Weser plant!" dachte sie sich. Mit Logik war das nicht zu erklären. Aber vielleicht, vielleicht war es das, was der Gott Justin gemeint hatte. Vielleicht war wirklich der Moment gekommen, um auf sein Herz zu hören!

Aus der Tiefe des Schachtes, in dem Maik verschwunden war, blitzte ein kleines Licht, das langsam größer wurde, und allmählich war Maiks Silhouette zu erkennen, die sich wieder in Richtung der vier Freunde bewegte, die noch immer mit der neuen Armee des „Clubs der Spinner“ vor dem Eingang warteten. Maik näherte sich weiter, bis er wieder am Eingang angekommen war. Er trug einen Haufen Teerfackeln im Arm, die er jetzt eine nach der anderen an seiner Fackel entzündete, während er den Mob nach und nach an sich vorbei in den Gang lotste und ihnen die flammenden Stöcker in die Hand drückte.

So zogen sie los im Fackelschein, archaisch und mysteriös. Justus wollte sofort daran denken, wie eklig nationalsozialistisch eine Bande von Idioten mit Fackeln wirkte, aber wenn er sie sich genau besah, hatte das hier nicht im Geringsten etwas Bedrohliches. Das hier hatte nichts vom Auftreten einer nächtlichen Verbrecherbande, das hatte nichts von Riefenstahl oder Reichskristallnacht. 

Das Bild, das sich einem bei diesem Anblick darstellte, war mehr so etwas, wie wenn „TKKG“ auf der Totenkopfinsel ins alte Schmugglerversteck vordrangen; es war, wie wenn Goofy und Micky irgendeine Pyramide auf der Suche nach Kater Karlo erforschten oder wenn Shaggy und Scooby Do auf der Suche nach untoten Süßigkeitendieben waren. Harmlos, die Kanus über die Köpfe gestülpt, stolperte der Mob im Fackelschein in die Dunkelheit hinein. Justus führte sie an, Emma direkt hinter ihm. Emma streckte ihre Hand aus und bekam die Hand von Justus zu fassen, der sie rasch mit sich zog.

Bald schon waren alle im Tunnel verschwunden, und nur noch Maik und Steffi standen im Archiv. Steffi schaute Maik an, der tatsächlich, je mehr er den Leuten sagte, was sie tun sollten, immer größer wurde. Da war nicht mehr viel vom eingesunkenen Freak und Nerd, der sich zuhause versteckt. Tatsächlich ging jetzt eine Art von versponnener und seltsamer Dominanz von ihm aus, die irgendetwas Natürliches, Unberechnendes an sich hatte. Steffi schaute ihm in die Augen.

"Was ist?" fragte Maik.
"Och, nichts!" sagte Steffi.
"Dann ist ja gut!" sagte Maik.
"Ja, dann ist ja gut!" sagte Steffi.
"Alles in Ordnung?" fragte Maik.
"Jaja, alles in Ordnung!" sagte Steffi.
Dann machte sie einen schnellen Schritt nach vorne und gab ihm einen Kuss auf den Mund.
Maik wurde rot. Damit hatte er nicht gerechnet. Zwar hatte er an so was wie einen Kuss auch schon gedacht, aber dass es geschehen sollte, während er gerade an etwas ganz anderes dachte, das war überraschend. Eine geübte Küsserin und ein geübter Sichverlieber hätten gewusst, dass es genau diese Momente waren, in denen die Gefühle hochkochten. Nämlich immer dann, wenn man gerade etwas wirklich anderes im Kopf hatte und sich nicht auf die Schönheit der Liebe konzentrierte, sondern gerade etwas anderes tat. Das machte ja auch Sinn. Jemanden nur um der Liebe willen zu lieben, das ist ja Quatsch. Sinn macht es ja nur, jemanden zu lieben, weil er oder sie sie selbst sind. Und man selbst zu sein, das ging ja am besten, wenn man sich gerade nicht um den anderen kümmerte.

"Danke!" sagte Maik.
"Spinner!" sagte Steffi und ging voran in den Gang hinein.
Maik folgte ihr und zog den Wandteppich wieder vor die Öffnung.

Was sie nicht mehr sahen, war eine dunkle Gestalt, die kurz wartete, bis die letzten Geräusche verklungen waren, und sich sogleich mit Nadel und Faden daran machte, das Bild einer kleinen Armee mit seltsamer Kleidung und Kanus auf dem Kopf in den Teppich zu sticken.

Justus und Emma gingen voran, beide Fackeln in der Hand, die nur einen kleinen Lichtkegel voraus warfen - nur so weit, dass man etwa fünfzehn Meter weit sehen konnte. Der Gang, in dem sie sich befanden, musste früher eine Art Hochwasserabflusskanal gewesen sein. Er war gut fünf Meter hoch, zehn Meter breit und schloss in der Höhe in einem Rundbogen ab. Die Wände waren aus altem Sandstein gemauert. Hier und da waren Schriftzeichen in einer seltsamen Sprache und mit seltsamen Zeichen in die Wände geritzt - Zeichen die Justus nicht verstand, was ihn sich ein wenig gruseln ließ. Sie liefen weiter den erstaunlich geraden Gang entlang - die Minuten und Schritte verstrichen. Emma hielt immer noch Justus Hand, hinter ihnen war das Geklöter und Gezeter der Leute zu hören, die immer noch den ganzen Unfug aus dem Museum mit sich schleppten. 

"Justus?" fragte Emma. "Was soll das hier eigentlich alles werden? Ich meine, das ist doch alles sehr problematisch, was wir hier machen, und ich habe den Sinn und das Ziel noch nicht so ganz kapiert."

"Ich auch nicht", antwortete Justus, "aber es ist doch so: Es passiert wenigstens mal etwas. Ich finde es sowieso nicht gut, wenn man sich um das Ziel Gedanken macht. Justin hatte das schon gar nicht so schlecht gesagt: Im Universum, da gibt es nur eine Energie. Da kann keiner was dran ändern. Das einzige Mittel, um das Leben interessant zu gestalten, ist, sich möglichst viel von dieser Energie zu schnappen, wenn sie gerade irgendwo nichts zu tun hat und darauf wartet, abgeholt und benutzt zu werden. Eigentlich ist es egal, was man macht, Hauptsache, man macht überhaupt irgendwas. Ich habe noch nie jemanden kennen gelernt, der sich einen Plan für das Leben gemacht hat und damit durchgekommen ist. Tatsache ist viel mehr: Die Leute, die als erfolgreich bezeichnet werden, stellen sich meist anschließend hin und sagen, dass alles von Anfang an ihr Plan gewesen sei. War es aber nicht! Ich glaube, den Meisten, die ein tolles Leben führen, war einfach nur so langweilig, dass sie etwas machen wollten, damit sie nicht noch trauriger und gelangweilter werden. Das schlimme am Gelangweiltsein ist ja, dass gelangweilt sein so langweilig ist. Aber - kein Quatsch! - ich glaube, die meisten großen Pläne gehen nur auf, weil sie sich, während man sie umsetzt, verändern. Da ist ja immer dieser Satz: ‚Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähle ihm von deinen Plänen!‘ Das stimmt so. Es geht nur darum, die eine Energie, die gerade nicht benutzt wird, in etwas Anderes zu verwandeln. Und ich merke, dass mir das, was wir hier tun, gerade absurd viel Spaß macht. Vergiss die Pläne. Mach einfach. Und um einfach zu machen und nicht immer nachzudenken, ist es schon gut, jemanden wie Maik und Steffi dabei zu haben!"

Sie stapften weiter durch den Gang, bis in der Ferne, am Ende des Weges, ein kleines Licht aufblitzte, das größer wurde, je weiter sie voranschritten. Sie mussten sich jetzt bereits irgendwo in der Nähe der Weser befinden. Es tropfte von der Decke, und ein leichter Geruch von Brackwasser kam auf. Das Licht am Ende des Tunnels wurde heller, bis es sie so sehr blendete, dass sie nicht mehr erkennen konnten, wer das Licht hielt. Sie gingen weiter, bis sie vor dem Lichtkegel der Taschenlampe stehen blieben. Ein Klicken war zu hören, und das Licht erlosch.

"Hallo Justus!" sagte ein verschrobener älterer Mann in einem zerknitterten Anzug. Er hatte einen lustigen, ausgebeulten und etwas zu kleinen Hut auf dem Kopf.
"Das mit den Kanus war Deine Idee?"

"Nein, das war Maik. Er dachte, die Idee wäre ganz gut – einfach mal was anderes. Er meinte, die ganze Stadt sei voll mit Booten, und das Schöne an Booten sei ja: Man muss nicht immer sterben, wenn man getroffen wird - die meisten Leute fallen einfach ins Wasser. Das ist bei einer Seeschlacht ja so ähnlich wie tot sein, nur dass man einfach wieder ans Ufer schwimmen kann!“

"Ja, so was kann man gut mit Maik ausbaldowern!" sagte der ältere seltsame Mann. "Der hat immer ganz gute Ideen. Dann bist Du aber der Justus, der damals die größte Party geschmissen hat?"

"Was hat er geschmissen?" fragte Emma.

"Eine Party für achthundert Leute. Alle mussten zwei Wochen vorher ihre Körpergröße angeben, dann hat jeder ein Paar Plateauschuhe bekommen, so dass alle auf der Party genau zwei Meter groß waren. Damals hat er bewiesen, dass es keinen Unterschied zwischen den Menschen macht, ob sie schwarz sind oder weiß, oder Asiaten, oder Frauen, oder Männer, oder dick oder dünn. Seine These lautete: ‚Aller Neid und Hass auf der Welt kommt vom Größenunterschied’. Das war eine schöne Einsicht, damals. Aber wir haben das zurückgehalten, weil wir fanden, dass die Welt noch nicht bereit dafür war!"

"Was soll das heißen – zurückgehalten?" fragte Justus.
"Wer sind Sie denn überhaupt?"

"Du hattest mit uns telefoniert. Wir sind der Grund, warum Ihr hier seid. Wo sind Maik und Steffi überhaupt?" fragte der Mann. In diesem Moment bahnten sich die beiden ihren Weg durch den Mob, der bereitwillig zur Seite trat.

"AHH!" freute sich der ältere Herr. "Da seid Ihr ja! Wie sagt man so schön: "Willkommen zuhause!" Dann wandte er sich an die Menschen, die planlos und immer noch mit Eingeborenenschmuck um den Hals und Kanus auf dem Kopf vor sich hin klimpernd herumstanden.

"So, liebe Leute!" sagte er und stieß die Tür hinter sich auf. Da war eine große Halle mit abgeschrägter Decke, darin befanden sich in seichtem Ambient-Licht verschiedene Pools, ein Bar, Massageliegen, Palmen und eine Wasserrutsche. Eine große Luke erstreckte sich an der Schräge entlang und von oben war leise das lallende Gegröle betrunkener Jugendlicher zu hören. Im Raum war genug Platz für die tausend Menschen, die ungeduldig im Gang warteten.

"Wie Sie sich mit Sicherheit schon gedacht haben, befinden wir uns hier unterhalb des Osterdeichs. Wie viele schon vermutet haben, ist der „Werder“-Kiosk über uns nur zum Schein ein Alkoholiker-Treffpunkt.

Um es einmal direkt zu sagen: Ich bin der Generalsekretär des ‚Club dé Idioté‘, dem ‚Club der Spinner‘, wie wir hinter der Hand genannt werden. Und wenn Sie sich wundern, warum wir den Osterdeich mit einer Wellness-Oase untertunnelt haben: Wir sind eine revolutionäre Vereinigung, die zurückgeht bis ins Jahr 1694. Wir hatten genug Zeit und genug Geld, uns auch mal etwas zu leisten. Über Revolution spricht man tatsächlich am besten im Jacuzzi!

Wenn ich bitten dürfte, fühlen Sie sich wie zu Hause. Bringen Sie die Kanus bitte in das hintere große Becken da, direkt unterhalb der großen Durchfahrtsklappe." 

Er wandte sich zu Maik, Steffi, Emma und Justus.
"Und Sie würde ich bitten, mir zu folgen. Ich denke, wir haben einiges zu besprechen", sagte er feierlich, wies mit der offenen Hand den Gang hinunter und folgte den Vieren in Richtung Osten, in Richtung Eck.

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Tag 25 (17.5.2012)


Der Gang lag dunkel vor ihnen, Moos wuchs an den Wänden, ein muffiger Geruch stand in der Luft und Emma musste an den alten Brunnen im Garten ihrer Großeltern denken, in den sie als Kind gefallen war und der mit Sicherheit einen großen Anteil an ihrer Seltsamkeit hatte.

Die vier Freunde folgten dem lustigen älteren Herren den Gang hinunter. Sie mussten sich jetzt unterhalb des Sielwalls in Richtung Sielwallkreuzung bewegen.

"Wohin gehen wir denn, Herr ...?" fragte Justus
"Wir gehen in die Zentrale, Ihr seid schon einmal dort gewesen!" antwortete der Ältere. "Und, nebenher, es ist nicht Bremer Brauch, sich zu siezen, wenn man gemeinsame Vorhaben ins Auge fasst. Deswegen: Steffi, Justus, Maik, Emma, nennt mich bitte Willehad!"

"Ah, wie der erste Pfaffe hier im Land!" sagte Emma.
"Woher weißte denn so was?" fragte  Steffi.
"Na, das ist halt Emma!" sagte Willehad. "Da gibt‘s doch eine bekannte Urahnin, oder nicht?"
"Ja, das stimmt wohl. Musste ich mal auswendig lernen!" antwortete Emma.

„Deine Familie hängt hier schon seit eintausend Jahren rum?" fragte Justus. "Ganz schon lang - ein Wunder, dass Du noch nicht nach Berlin abgehauen bist!"

"Naja, auf jeden Fall waren wir nie Opportunisten!" antwortete Emma. "Und Berlin ist doch auch so schon voll genug mit seltsamen Gestalten!“

"Das stimmt, aber nach dem momentanen Stand der Dinge, ich
meine, mit der Armee im Swimmingpool und dieser geheimen Stadt
unterhalb der Stadt", antwortete Justus und schaute sich um, "hab‘
ich das Gefühl, hier könnte auch was gehen!"

"Auch dazu, meine lieben Freunde, kann ich Euch nur beipflichten", sagte Willehad.
"Berlin und Bremen, das ist schon immer eine seltsame und lange Verbindung gewesen.
Alle paar Jahre ziehen die Leute mal hierher, mal dorthin, aber das macht eigentlich keinen Unterschied. Die letzte Welle von Berlin nach Bremen war um 1975 rum, als die Universität hier noch die "Rote Uni" war. Damals war der ganze Haufen der Aktivisten aus dem linken Spektrum hierher nach Bremen gekommen, weil sie keine Lust mehr auf den Filz der Hauptstadt hatten und etwas Neues anfangen wollten. Dann kam das klassische Kinderbekommen, politische Ideen rückten in den Hintergrund, Untergrund wurde Mainstream, die Kinder wurden frei und antiautoritär erzogen und bemerken dann, dass sie tun konnten, was sie wollten. Weil die Eltern genug Geld hatten, sie zu unterstützen, machen sie dann irgendwas Kreatives, manchmal, weil sie wirklich Talent hatten, manchmal, weil man als Künstler und Kreativer am besten seine Faulheit und seine Lust auf Feierei und Drogen verstecken konnte!

Also sind die Kinder wieder nach Berlin gezogen, um da frei zu sein und "irgendwas Kreatives" zu machen. Lustig ist jetzt zu sehen, dass diese Tage vorbei sind. Berlin ist auch nicht mehr so toll, um nichts zu machen und sich dabei irgendwie besonders zu fühlen. Und die Regierung tut ihr Übriges, um dieses berechtigte, aber kapitalistisch unsinnige Verlangen zu unterbinden! 
Langsam gehen die Eltern jetzt in Rente, die schöne Unterstützung für die Kinder um die Dreißig bricht zusammen, die Kinder müssen sich überlegen, womit sie Geld verdienen könnten, und tatsächlich: Wenn auch der letzte Kellner-Job in Berlin besetzt ist, werden sie dann doch Ingenieure, weil - Ingenieure braucht es an allen Ecken und Enden. 
Da dachten wir uns vom ‚Club der Spinner‘ ‚Potzblitz!‘ - klug wäre es doch, wenn wir was für Ingenieure machen - also haben wir angefangen, diese ‚Internationale Raumstation‘ zu bauen. 
Ingenieure lieben Raumstationen, weil - Raumstationen bauen ist dann doch cooler, als bis mittags zu schlafen und sich mit vierzig Jahren mit seinem engsten Freundeskreis einig zu sein, dass alles Scheiße ist - aber nicht wegen einem selber, sondern immer wegen den anderen!

Wir erwarten die nächste große Berlin-Bremen Welle für ca. 2020. Das heißt, wenn es die Welt bis 2020 schafft! 

Ihr seht, Berlin - Bremen, Bremen - Berlin, das ist mehr so eine Entscheidung nach Tagesform. Das wechselt schneller, als einer gucken kann. Also - es sei denn ..." sagte Willehad.

"Es sei denn was?" fragte Emma.

"Naja, dafür seid Ihr ja hier!" sagte Willehad.

"Ich verstehe das alles nicht mehr!" sagte Justus. "Du sagst immer, dass ‚Ihr‘ wüsstet, was wir tun, aber irgendwie verstehe ich das nicht so ganz. Wer seid ‚Ihr‘ denn überhaupt? Und was wisst ‚Ihr‘ von dem was ‚wir‘ tun?" 

Willehad blieb stehen und schaute die Vier an.

"Also, Ihr wart in unserer Bar. In dem Raum mit den Betten, der Bar und all den Erinnerungen an unser Leben hier in Bremen. Ihr habt in unserem Buch gelesen, deswegen wisst Ihr ja überhaupt, dass es uns gibt. Ich will das kurz zusammenfassen:

Es gibt die landläufige Meinung, eine Stadt, ein Staat - welche politische Konstruktion auch immer - würde funktionieren, weil alle logisch handeln - in guten Zeiten wirklich zum Besten für alle, in schlechten Zeiten nur für den Vorteil einer kleinen Gruppe. 

Aber auf jeden Fall soll jeder alles tun und genauso denken, wie es der Aufrechterhaltung des bestehenden Systems dient. 

Das Schema ist fest, es gibt kein links oder rechts. Und es gibt einen Hauptstrom, wie jeder zu denken und zu handeln hat. 

Wir, das heißt, der ‚Club der Spinner‘, glaubt nicht, dass das richtig ist. 

Wir glauben daran, dass jedes Denken außerhalb von Normen einen viel größeren Sinn ergibt. Wir glauben, dass es die Spinner sind, die den Unterschied machen, die Grenzen überwinden und Fortschritt bedeuten. Wir glauben, dass es nichts Schlimmeres gibt, als Reaktionäre und Opportunisten. Es gibt nur einen Weg in Richtung wirklicher Freiheit, und das ist eigenständiges Denken. 
Nenn’ solche Leute, wie du willst: Außenseiter, Außenseiterin, Eigenbrötler, Eigenbrötlerin, Kauz, Narr, Närrin, Sonderling, Unikum. 

Es geht uns nur um eins: Nicht so zu denken, dass es jemandem gefällt. Sondern so zu denken, dass die riesengroße Spaßmaschine im Kopf eines jeden überhaupt Sinn macht! 

Es kann doch nicht sein, das jeder dieses komplexeste Ding im bekannten Universum - namens Gehirn - zwischen seinen Ohren durch die Weltgeschichte trägt und es nur benutzt, um von irgendwem gemocht zu werden!

Träumt denn einer in der Nacht, damit dem anderen der Traum gefällt? Träumen sind doch nicht dazu da, einem anderen etwas zu zeigen? Man muss ja nur einmal bedenken, wie frei sich der Mensch im Traum in der Nacht fühlt. 

Es ist doch eine unglaubliche Verschwendung, alle Hirne auf eine Linie zu bringen. Stelle man sich nur mal vor! 

Da hast du über sieben Milliarden der schnellsten und stärksten Computer aller Zeiten und versuchst, sie dazu zu bringen, alle das Gleiche auszurechnen. Was für eine Verschwendung!

Und der Rest ist klar: Ein Gedanke ist nicht nur ein Gedanke. Ein Gedanke ist immer auch ein Parallelentwurf zur Welt, wie sie ist. Und irgendwann, und das passiert ganz automatisch, werden aus Gedanken, Träumen und Ideen Realitäten. Denn wer kann einen Gedanken, einen Traum oder eine Realität aufhalten?

Niemand, außer dem, der ihn sich ausgedacht hat und dem er somit gehört!

Aber wer will eine Idee aufhalten, deren Zeit gekommen ist?

Nun – viele wollen das! 

Die Menschen werden doch fortwährend überredet, sogar bedroht, sich Gedanken zu verbieten, um nicht als Außenseiter, Außenseiterin, Eigenbrötler, Eigenbrötlerin, Kauz, Narr, Närrin oder Sonderling zu gelten!

Darum geht es. Deswegen heißt unsere ganze Geschichte hier ‚Der Club der Spinner‘. Es gibt bei uns keine Verbote. Denn jeder, der sich den vorgeformten Gedanken entzieht, versteht sofort, dass die eigene Freiheit nichts anderes ist, als die Freiheit der anderen.

Darum geht es. Und wir machen das schon ein paar Jahre. Und glaubt mir, am Anfang dachten wir nicht, dass sich da jemand dran stören würde. Aber tatsächlich scheint die Zeit gekommen zu sein, da wir einigen Leuten als Bedrohung erscheinen. Und ich denke, deswegen seid Ihr hier. Deswegen habt Ihr euren Auftrag!"

"Ähm", räusperte sich Justus, "ja - also, diese Sache mit dem Auftrag - wenn Du Dich da so auskennst, dann könntest Du uns ja vielleicht mal weiterhelfen und erklären, worum es eigentlich geht!"

Sie standen da, und nur noch ein paar Schritte von ihnen entfernt war eine große, schwere Tür eingelassen. Sie hörten das Grollen der Autos über ihren Köpfen.

"Na, die Ansage war doch klar: Ihr solltet eine Armee aufstellen. Das habt Ihr ja hinbekommen. Von unserer Seite aus gesehen eine ganz herrliche Armee, weil die Leute keine Ahnung haben, was sie sind oder was sie tun sollen, aber das Ganze genießen. Die sitzen jetzt erst einmal im Schwimmbad und lassen es sich gut gehen. Das ist doch angenehm. Was diese Armee jetzt wirklich tun soll - das ist eine gute Frage. Nun, zunächst mal ist es ja grundsätzlich gut, eine Armee zu haben!

Tatsächlich bemerken wir, dass es eine ganz wahnsinnige Verschiebung in der Wahrnehmung der Menschen gibt und dass wir langsam einen Punkt ohne Wiederkehr erreichen. Wir haben in der ganzen Zeit, in der es den Club gibt, immer auf Aufklärung gesetzt - Wissenschaft, Logik. Wir waren der Meinung, dass diese Ideen so unschlagbar wären, dass sich geistlose Gefolgschaft, Religion, dieses ganze unhinterfragte, unlogische Geglaube irgendwann von selbst erledigen würde. Aber tatsächlich bemerkten wir, dass wir falsch lagen. Es passierte sogar das Gegenteil: Logik, ernst zu nehmende Philosophie und sogar der damit verbundene Humor waren und sind weiterhin auf dem Rückzug!

Die Leute - die Mächtigen, wenn ihr so wollt, haben es geschafft, alles, was sie tun und sagen, so glaubwürdig wirken zu lassen, dass wir vom Club bei vielen die Hoffnung verloren haben, sie auf die Seite der freien Menschen zurück holen zu können!"

Willehad wandte sich um und ging zu der Tür, welche nur ein paar Schritte hinter ihnen lag. Neben der Tür hing ein kleines Portrait vom alten Bremer Aufklärer Franz Friedrich Ludwig Knigge. 
Er schob es zur Seite, gab einen vierstelligen Code in einen Zahlenblock ein, steckte einen großen Schlüssel ins Schlüsselloch der Tür, drehte zweimal in Uhrzeigerrichtung, griff mit beiden Händen nach dem großen Radriegel, drehte auch ihn und zog die Tür auf. Licht fiel in den Gang, und er wies die vier Freunde mit einer Handbewegung an, den Raum hinter der Tür zu betreten.

Sie durchquerten den in seichtes Licht getauchten Raum, in dem immer noch der alte Frauenkopf des Rolands stand. Auch die Betten standen noch an den Wänden, nach wie vor unter dem rund herum laufenden achtstöckigen Regal mit der wunderbaren Buch-und Film-Kollektion. Das war eine Sammlung von großen Werken. Man hätte jeden noch so bornierten und idiotischen Volldeppen dazu zwingen können, auch nur die Hälfte davon zu sehen und zu lesen, und er wäre ein offener Mensch und ein herrlicher Gesprächspartner geworden!

Justus schaute zur Decke des Raumes und sah die Klappe direkt unter der Mitte des Ecks, wo, wie immer, der eisgekühlte Kasten „Hemelinger“ auf jeden Wissenden wartete, der durstig übers Eck lief und sich dachte, dass es Zeit für eine herrliche Biererfrischung wäre. Und wann war die nicht? 

In diesem Moment wurde die Klappe ein winziges Stück geöffnet und Wolfgang, von schlimmen Zungen "der Aufräumpenner" genannt, blickte kurz hinein, sagte "Frater Sus", zog sich schnell ein Bier heraus und ließ die Klappe wieder zufallen.

"Frater sus?" fragte Justus.
"Ja, unser Gruß, aber Psst!" antwortete Willehad. Sie standen jetzt vor dem großen Buch, welches aufgeschlagen auf einem prunkvoll geschmückten Podest lag. 
"Wenn Ihr Euch hier kurz eintragen könntet", sagte Willehad.
"Was ist das denn?" fragte Steffi.
"Ach, nur das übliche Geheimgesellschaften-Pipapo, lebenslange Mitgliedschaft - einmal drinne, nicht wieder raus, Blood in, Blood out. Ist eine alte Satzung aus dem siebzehnten Jahrhundert. Steht aber eigentlich das gleiche drin wie bei den ‚Crips‘ oder den ‚Bloods‘".

"Und das sollen wir unterschreiben?" fragte Emma.
"Ihr könnt es natürlich lassen, aber dann war es das an dieser Stelle und Ihr könnt wieder gehen. Ihr werdet dann natürlich nicht erfahren, was in Bremen noch so alles auf Euch wartet, aber - unter uns Gebetsschwestern: Es lohnt sich. Glaubt mir!" sagte Willehad und hatte dabei einen Ausdruck in Auge und Stimme, der gar keinen Zweifel an seinen Worten zuließ.
Nacheinander unterschrieben die Vier auf jeweils einer Seite, und Willehad zeichnete es gegen. "Frater Sus!" sagte er, wandte sich um, drückte auf einen kleinen Knopf unter dem Buchpodest, und der gesellige Tisch in der Mitte des Raumes fuhr zur Deck hinauf und gab den Blick auf eine nach unten führende Wendeltreppe frei. Einer nach dem anderen stiegen sie ins Halbdunkel hinab.

Die Wendeltreppe verlor sich im Dunkel, als die Vier dem lustigen alten Mann hinterher ins Düstere tappten. An den Wänden hingen Bilder von seltsamen Menschen in seltsamen Gewändern aus alten Zeiten. Man hätte denken können, die Moden der Sonderlinge der Moderne wären etwas Besonderes gewesen, doch bewiesen die Kleider der Personen auf den Bildern das Gegenteil. Verwirrende Ähnlichkeit bestand zwischen den Nerds und Computerfreaks dieser Tage und den Gelehrten und Sonderlingen vergangener Zeiten. 

Seltsame Brille im Gesicht? Bei allen vorhanden! 
Das mit den Brillen war ja schon immer ein Phänomen, das in heutigen Zeiten nur etwas aufgeweicht ist. Brillen standen schon immer für eine gewisse Menge an Klugheit und Intellekt. Eigentlich machte es ja keinen Sinn, dass die Fähigkeit, nicht gut sehen zu können, ein dominantes Merkmal der Evolution war, ein Merkmal, das weiter vererbt wurde, doch war wie immer zu bedenken: Die Evolution macht keine Fehler! 
Vielleicht war der Aufstieg der Sehschwachen das erste Zeichen gewesen, das die Welt nicht für die Starken und Gesunden gemacht war, sondern tatsächlich für die Menschen, die ihre Fähigkeiten aus sich selbst heraus am besten anpassen konnten. 
Wer in vorsintflutlichen Uhrzeiten aufgrund von Nutzlosigkeit wegen fehlenden Scharfblicks nicht auf die Jagd gehen konnte, überlebte erstens öfter, weil er eben nicht auf die Jagd ging, zweitens hatten die am Feuer Gebliebenen natürlich mehr Zeit zum Nachdenken, da sie nicht von der Action des Jagens und mit Freunden Herumhängens abgelenkt waren. Im Grunde genommen waren sie also genauso klug wie spätere Kriegsdeserteure!

Da trafen sich zwei wunderbare Dinge: Die Geistigen blieben daheim, wo meist auch, ob zu Recht oder nicht, die Frauen waren. Und Gelegenheit macht Liebe. Schön zu sehen, dass so die emotionalen Wurzeln des Pazifismus gelegt wurden als Ergebnis der Paarung der daheimgebliebenen klugen Männer mit Sehfehlern und der ohnehin schon immer klügeren Frauen. 

So zog sich das Brillengetrage durch die Generationen von Männern, die durch geistigen Einsatz einen Vorteil für die Geschichte der Menschheit geschaffen hatten. Dass sie trotzdem immer noch dumme Männer waren, war natürlich an ihrem Versuch abzulesen, Frauen aus Führungspositionen herauszuhalten. Schade. Eine weitere vertane Chance der Menschheitsgeschichte - wir könnten schon auf ‚Alpha Centauri‘ sein!

Auch wer dachte, verzotteltes Haar und seltsame enge Hemden an ausgemergelten, anorektischen und deformierten Körpern wären ein neumodisches Zeichen eines Avantgardisten der Großstadt, wurde Lügen gestraft. Auch hier war die einfache Gleichung zu sehen, dass Kleidung in Zeiten gekauft wurde, die vom Verhalten des Menschen her überhaupt noch die Chance auf genug Verdienst zum Kleiderkauf boten. Während im Laufe des Grübelns und Gesaufes der Bauch wuchs, sanken die Schultern immer mehr zusammen, Muskelmasse ging verloren, so dass die alten Hemden um den Bauch herum eng wurden. Der Verzicht auf ein soziales Leben dünnte die Mittel auch soweit aus, dass an Geld für einen Friseurbesuch nicht mehr zu denken war. 
Nicht das Aussehen macht das Dasein von Hipstern und Außenseitern aus - das Dasein eines Außenseiters macht den Look des Hipsters aus. Huhn oder Ei. Die ewige Frage! 

Langsam verloren sich die Portraits in der Dunkelheit der abwärts führenden Wendeltreppe. Sie gelangten zu einer Tür, die einen Spalt weit offenstand, seichtes rotes Licht in einem Strahl fiel auf die Stufen und eine Frau war zu hören, die sich halblaut beschwerte:

"Nein, das geht nicht und ich sage ihnen auch, wieso. Schön und gut - Seekrieg und Angriff auf die Schlachte, auch ich halte das für unterstützenswert. Keine Frage, dass die Offiziellen dieser Stadt einen Tritt in den Arsch brauchen. Ich unterstütze auch die Idee, dies durch eine Besetzung der Schlachte klar zu machen. Aber wie sollen wir das mit der Klärung der Weser geheim halten. Tatsache ist, die vier Neuen haben diesen Mob von Menschen besorgt. Den ersten Teil der Armee; wir müssen aber, bevor irgendetwas geschieht, die zweite Hälfte auch noch akquirieren. Doch ich denke, auch dazu sind die Vier im Stande - ich setze da große Stücke auf Emma und Steffi. Aber zurück zum Punkt. 
Ich fasse noch einmal zusammen: Wir klären die Weser durch unsere Reinigungsanlage im Weserwehr. Blaues Wasser, karibisches Wasser für die Stadt. In der Mitte der Fahrtrinne sind Scheinwerfer unter Wasser angebracht, die durchs Wasser in den Himmel leuchten. Ein Traum und auch eine wirklich gute Idee!"

Das Klopfen von Handknöcheln auf einem Holztisch war zu hören.

"Dennoch", sprach die Frau weiter, "halte ich die Klärung zu diesem Zeitpunkt für zu gefährlich. Ich sage ihnen, die Öffentlichmachung unseres Spas unter dem Osterdeich war schon riskant. Für meinen Geschmack zu riskant, obwohl ich Ihren Einwand verstehe, dass wir vor einer Zeitenwende stehen und offensiver vorgehen müssen. Ich möchte nur für die Abstimmung zu bedenken geben, dass wir, wenn wir dem Antrag zur Klärung zustimmen, gleichzeitig die Moritztrasse für unsere fliegenden Autos eröffnen, die Cyborgs aus der umgedrehten Kommode oder den Roboter-Roland auf dem Marktplatz loslassen könnten!"

"Roboroland brauchen wir sowieso, um die Armee anzuführen!" rief einer dazwischen.

"Also, schreiten wir zu Abstimmung!" sagte einer - wohl der Sekretär des Clubs.

Rascheln war aus dem Raum zu hören.

"Gut. Mit acht zu zwei Stimmen erklären wir, dass die sofortige Klärung der Weser in Karibikwasser einzuleiten ist!"

Wieder Geklopfe. Willehad öffnete die Tür und trat in den Raum. Das lauschige Interieur des Raumes direkt unter dem Eck war einer strengen Ästhetik gewichen. Ein großer schwarzer ovaler Tisch stand in der Mitte, beleuchtet von einem ovalen Oberlicht, welches kaltes Licht in den Raum warf. Rund um den Tisch waren Stühle mit hohen Rückenlehnen angeordnet. In dem Loch in der Mitte des Tisches, das bestimmt vier Meter im Durchmesser maß, war ein Modell der Stadt Bremen aufgebaut, versehen mit kleinen Glühlämpchen, die auf Knopfdruck aufleuchteten. Unter der Decke war ein Videoprojektor angebracht, welcher nach unten strahlte und passgenau eine Satellitenaufnahme der Stadt auf das Modell projizierte und von einem Computer gesteuert wurde, welcher vor der Frau stand, die die Fäuste auf den Tisch stemmte und wütend in die Runde schaute. Offensichtlich war sie es, die soeben überstimmt worden war.

"Guten Abend, die Damen und Herren!" sagte Willehad im jovialen Tonfall, wandte sich um und wedelte hektisch mit den Händen, um den vier Freunden zu signalisieren, dass sie den Raum betreten sollten. Sie traten ein.

"Hier sind die Vier, von denen wir in den letzten Tagen so viel gesprochen hatten. Darf ich vorstellen: Emma, Steffi, Justus und Maik!“

Die Versammlung der Menschen auf den Stühlen erhoben sich und begannen, mit ihren zwanzig Händen zu klatschen. Alle zehn Anwesenden schauten die Freunde an. Das war unangenehm, so wie es immer unangenehm ist, wenn einer nicht weiß, wozu es Applaus gab. Justus war das eigentlich egal, und er verbeugte sich. Er hatte gelernt, dass man jeden Applaus, der einen in seinem Leben anfiel, dankbar mitnehmen sollte. Man wusste ja nie, wann es der letzte war! 

"Liebe Freunde!" wandte sich die Frau, die gerade noch zur Zurückhaltung aufgerufen hatte, an die Vier. "Es ist uns eine Ehre, Euch hier begrüßen zu dürfen. Vielleicht wisst Ihr es noch nicht, aber in der Zukunft liegt große Verantwortung auf Euren Schultern. Viel Verantwortung für nur acht Schultern. Ich denke, für alle war es ein langer Tag. Willehad, wärst Du so nett, den Vieren ihr Zimmer zu  zeigen?"

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Tag  26 (24.5.012)


Der Mond warf immer noch langes, blaues Licht über die Stadt, in der die meisten Menschen dieser Stadt noch nicht wussten, wo sie am Morgen baden würden. Die meisten Menschen …

In den großen Schwimmhallen mit angeschlossenem Spa und Sauna lies es sich die Armee der Nerds gut gehen. Langsam hatte sich das Getöse der Jugendlichen über ihren Köpfen gelegt und eine tiefe Ruhe zog nun langsam ein. Die Hallen waren in langsam wechselndes warmes Licht getaucht. Eine leichte Melodie von seltsamen meditativen Klängen zog sich durch die Räume und verlangsamte die Wahrnehmung. Ganz leicht und bunt war auch sie jetzt – ja, man könnte sagen, die Wahrnehmung tänzelte gut gelaunt durch den Raum, hatte einen Daiquiri in der Hand und ließ es sich gut gehen.

Rund um die Swimming Pools lagen die Gamer. Manche hatten die Augen geschlossen, lagen im Whirlpool und ließen sich von professionellen  Masseurinnen die arg verspannten „Diablo-3“- oder „World-of-Warcraft“-Nacken massieren. Andere plauderten im Pool oder auf dem Sonnenstuhl liegend, tranken einen Sekt und versuchten, vor dem Personal so zu tun, als wäre es das normalste auf der Welt für sie, in einem Top-Secret-Spa herumzulungern und sich wie James Bond zu fühlen. 

Natürlich flog sofort auf, dass diese Menschen nichts mit James Bond gemein hatten - sofort zu erkennen an der Art der Witze, an der schweinemäßig absurden Lache, die sich grunzend ihren Weg durch die sabbernden Lippen bahnte. Es war ein Kinderspiel, abzulesen, dass sie mit Sicherheit keine James Bonds waren, nicht mal Vin Diesels!

Schön war der Unterschied der inneren und der äußeren Wahrnehmung, denn tatsächlich vergaßen viele der Anwesenden ihre Unzulänglichkeiten im Bereich des Charmanten und Geistigen und ihre reichlich unerotischen Abweichungen im körperlichen Bereich. 
Da rutschte die Stimme, wenn sie mit dem weiblichen Servicepersonal sprachen, im Nu um eine Oktave nach unten, vom quietschigen Internet-Teamspeak-Gepiepse hin zu einem rauen, Whiskey geschwängerten Reibeisentimbre in ihrer Kehle. 

Da wuchs die Brust fast aus dem Brustkorb heraus, jedes Mal, wenn eine Bedienstete des Spas vorbeikam und sie anschaute. Das war aber Inhalt der ersten Stunde in jeder Serviceschule: Den Ekel verbergen und im besten Fall, bei ausreichender Lügebegabung, es sogar schaffen, ein widerliches altes Stück Fleisch anzuschauen und nur mit den Augen den Satz mitzuteilen: "Na, für Ihr Alter und Ihre Ekligkeit sind Sie aber noch ein reichlich begehrenswerter Ficker!"  

Doch auch vom Umgang mit Servicepersonal, wie von so vielen anderen Dingen des echten Lebens, hatten die Nerds der Armee naturgemäß keine Ahnung. Naiv genug, um zu denken, jemand, der Geld dafür bekommt, wäre überhaupt noch in der Lage, jemanden, den er bediente, aufrichtig zu mögen. Sobald man jemandem ein Trinkgeld gibt und somit seine Überlegenheit noch einmal unterstreicht, zerstört man – quasi rückwirkend - die Chance, überhaupt - z.B. vom Barkeeper - gemocht zu werden.

In diesem naiven Frieden lagen die Nerds herum mitten in der Nacht, gefielen sich selbst darin, den Damen zu gefallen, und wunderten sich kaum darüber, was eigentlich gerade geschah. Ein Wahnsinn, immerhin, eine Armee von knapp eintausend Nerds in einem geheimen Wellness-Tempel direkt unter dem Osterdeich; nicht zu vergessen der große Raubüberfall auf das Museum vor noch nicht allzu langen Stunden. Da hinten lagen ja noch die erbeuteten Güter: Die Einbäume und die Kanus, mit der ihr seltsamer Herr und Führer Maik anscheinend wirklich vorhatte, die Bremer Tourismusmeile namens „Schlachte“ anzugreifen! 

Quer herum im ganzen Raum lagen noch die seltsamen Schmuckstücke der Südseevölker, welche sie ebenso aus dem Museum entwendet hatten - den Schmuck, nicht die Völker, obwohl einige lustige Menschen doch auch noch ein oder zwei wächserne Nachbauten von Watutsi und Eskimos mit geschleift hatten, welche nun zwischen den kitschig eingefassten Becken der Whirlpoollandschaft standen und dumm aus der viel zu dicken Wäsche guckten!

Es war spät geworden, und einige der immer noch mit dem Goldschmuck der Einheimischen behängten Nerds legten sich langsam zum Schlafen auf die Sonnenstühle, rollten sich zusammen, grunzten noch einmal wie Kinder, die einen langen Tag voll Spiel und Spaß hinter sich haben, und schliefen auf der Stelle ein. 

Rundumher im ganzen Raum begann nun ein friedliches Gebrumme, Gesäusel, Geatme und Geschnarche, ein bisschen so, wie man es sich bei einem Haufen Zwerge in einem nicht sehr guten, aber auch nicht sehr schlechten Fantasieroman vorstellt. 

Ringsherum wurde noch ein wenig auf Handys und Laptops getippt und geklickt, doch es dauerte nicht lange, da sackten auch die härtesten der Gamer in sich zusammen und begannen, friedlich zu schlafen. Und langsam dimmte sich das Licht im Saal herunter.

Das Licht, welches Maiks Gesicht zeichnete, veränderte sich vom langsam wechselnden Blaurot hinüber zum Grün einer Nachtsichtkamera, die sich soeben eingeschaltet hatte und nun das Schwimmbad überwachte. 

Er saß vor dem Monitor eines Schreibtisches, welcher sich wiederum in einem fensterlosen Zimmer befand, in dem nur zwei Betten und eben dieser Schreibtisch standen. Vor dem Monitor saß außer Maik auch Steffi und beide knabberten Popcorn, welches Steffi, woher auch immer, gerade besorgt hatte. 

Sie hatten das Ausschalten der Lampen in der Wellness-Oase beobachtet, dann aber hatte Maik beschlossen, doch noch einen Moment weiter hier zu sitzen, die schwenkbare Kamera zu bedienen, ein wenig hin und her und hinein und heraus zu zoomen, bis er sich schlafen legen würde, und auch Steffi brauchte noch einen Moment, um sich klar zu machen, was das für ein aufregender Tag gewesen war. Wenn sie sich das mal so recht vorstellte, war sie, waren alle Vier ja erst heute Morgen aus einem viermonatigen Koma aufgewacht. Dann waren sie aus dem Krankenhaus geflohen, zu der LAN-Party in der Stadthalle gefahren, Justus hatte die Nerds bequatscht, und dann waren sie gemeinsam zum Hauptbahnhof gegangen, hatten ein Auto geklaut und waren damit in den Haupteingang des Museums geknallt, hatten das ganze Ding hochgenommen und ausgeraubt bis der Nazimob gekommen war und sie mit den 1000 Nerds durch ein unterirdisches Tunnelsystem bis zum geheimen Wellness-Bad unter dem Osterdeich gelangt waren, wo sich die 1000 jetzt immer noch befanden. 


Steffi tüddelte durch das kleine, angenehme Zimmer, schaute sich hier und da etwas an, ging ins Badezimmer und besah sich im Spiegel, ging zurück in den Wohnbereich, setzte sich auf die Couch, schaute kurz in eines der Magazine, die dort auf dem Tisch lagen, las einen kurzen Artikel, legte es wieder zurück, stand wieder auf, ging zum Kühlschrank, aß einen Schokoladenriegel und öffnete eine Flasche Wasser, schaute sich weiter um, sah die mit leichter Farbe gemalten Bilder von Bremer Landschaften, die an den Wänden hingen, ging wieder zur Couch, las noch eine Artikel, ging wieder ins Bad, hob die kleinen Shampoo- und Waschemulsionsfläschchen, die herumstanden, hoch, hielt sie vor das Licht, überflog die Inhaltsstoffe, fragte sich, warum da immer „Aqua“ statt Wasser stand, stellte sie wieder zurück, ging zum Spiegel, verwuschelte sich die Haare und die seltsame Frisur, die sie im Krankenhaus verpasst bekommen hatte, schaltete kurz den MP3-Player an, hörte irgendeinen positiven Song von irgendeiner Band aus den Neunzigern, schaltete ihn wieder ab, ging kurz auf die Toilette, las noch einen Artikel und setzte sich dann aufs Sofa. Sie tüddelte halt herum!

Sie sah Maik an, der am Schreibtisch saß. Seltsam! Eigentlich hätte sich jetzt so etwas wie Spannung im erotischen Sinne zwischen ihnen aufbauen können - das wäre auf jeden Fall hier in dem kleinen Zweierzimmer naheliegend gewesen. 

Die Übertragung die sich Maik auf dem Monitor anschaute, hatte keine Tonspur, weshalb nur das seichte Atmen der beiden zu hören war. Maik starrte konzentriert auf den Bildschirm. Er konzentrierte  sich so sehr, dass er die Augen dermaßen zusammenkniff, dass sich harte Falten zwischen seinen Brauen, auf seiner Stirn und in den Ecken seiner Augen bildeten. Zuckend schlich sich ein Krampf in sein Gesicht. 

"Mein Gott!“ dachte er sich. "Mit großer Macht kommt große Verantwortung. Diese Armee im Swimmingpool da unten - diese Armee bedeutet Macht. Und mit der Unterstützung vom ‚Club der Spinner’ können wir alles erreichen. Ich muss sie nur alle in die Reihe bringen. Sie müssen zu mir stehen. Ich muss nur aufpassen, nichts Böses zu wollen - das hier ist immerhin meine Stadt, die ich angreife!" Er grübelte weiter und hatte das Glück, dass die Kamera die Nerds in einem schrägen Winkel von oben beobachtete. Unbewusst griff er mit seiner rechten Hand zum Tisch, klickte mit dem Zeigefinger auf dem Tisch die nicht vorhandene Computermaustaste und versuchte ein Kästchen über die schlafenden Nerds zu ziehen, um sie so auszuwählen und ihnen Aufgaben zu geben. 

Der Fingernagel seines Zeigefingers klickerte nervös auf die Glasplatte des Schreibtischs und es brauchte einen Moment, bis er bemerkte, dass da gar keine Maus war. Seine Stirn warf sich in noch tiefere Falten. Der Krampf in seinem Gesicht flammte wieder auf. Er hörte auf, in Worten zu denken, und folgte nur noch dem sinnlosen Rauschen von Gedanken, die in seinem Frontallappen tobten.

"Buh!" machte Steffi.
Maik fuhr hoch, kickte mit seinen Kniekehlen seinen Stuhl nach hinten weg, sprang auf, knallte mit beiden Knien unter den Tisch, fiel wieder dorthin zurück, wo noch bis eben gerade der Stuhl gestanden hatte und landete auf seinem Hinterteil. Dann versuchte er aufzustehen, doch da knallte ihm der von der Wand zurückschnellende Stuhl mit der Sitzfläche genau unter die Nase. Sein Gesicht entspannte sich. War er im ersten Moment noch wütend gewesen, besänftige ihn die Abfolge von vier Unfällen hintereinander und zeigte ihm die Albernheit des Lebens, der eigenen Person und des Universums an sich auf!

Steffi konnte nicht mehr vor Lachen. Hatte sie eben noch im Raum gestanden, so saß sie nun auf dem Hosenboden und kugelte sich herum. Ein Wahnsinn, wenn so etwas klappte, ein schlechter Witz, eine super Wirkung! Geschichte ihres Lebens. Sie robbte zu Maik hinüber.

"Ey, tut mir leid!" sagte Steffi und schaute Maik in die Augen, der sie mit einem Versuch, böse zu gucken, anblickte. Sein Gesicht entkrampfte sich endgültig, und auch wenn sein albernes, selbst ausgedachtes Ehrgefühl es ihm anders befohl, musste er nun auch anfangen zu lachen. Dann versuchte er erneut, böse zu gucken. Steffi knuffte ihn in die Seite und schubste ihn quatschig, so dass auch er auf die Seite rollte.

So lagen sie nebeneinander auf dem erdfarbenen, frisch gesaugten Teppich in diesem netten Zimmer in einem geheimen Bau vier Stockwerke unterhalb der Sielwallkreuzung. Steffi wusste gar nicht, was sie da tat, aber sie schob sich von hinten an Maik heran und nahm ihn in den Arm. Als ihre Brüste seinen Rücken berührten, bemerkte Steffi, wie sich alle seine Muskeln entspannten. 

"Alles gut!" sagte Steffi, doch das hörte Maik schon nicht mehr.


"Gute Nacht!" sagte Willehad und schloss die Tür hinter sich. Justus und Emma standen alleine im Zimmer. Auch hier die schönen Brauntöne, nicht unähnlich dem Interieur der mittleren siebziger Jahre, aber mehr in einem warmen Beige. Was die Farben anging, waren die Zweitausendzwanziger mit Sicherheit nicht das schlechteste Jahrzehnt. Emma schaute Justus an. Es schien wirklich ein anstrengender Tag gewesen zu sein, denn erst jetzt fiel ihr wieder auf, dass Justus ja immer noch den lustigen Vorne-kurz-und-hinten-lang-Haarschnitt trug mit den kleinen gegeelten Löckchen, die wie ein Wasserfall im Frühling seinen Nacken hinunterronnen. Ein sehr lustiges Gefühl, sich zu jemandem mit einem dermaßen bescheuerten Haarschnitt hingezogen zu fühlen. Sie blickte ihm in die Augen. Der Moment des Schweigens war intensiv. Und nah. 

"Ey, Justus, schicke Haare!" sagte Emma.
"Dito!" sagte Justus.

Emma fuhr sich mit der Hand über die Stirn und bemerkte die harten Knoten der Cornrows auf ihrem Kopf. Sie erschrak. So viel war den ganzen Tag passiert. Eine Armee hatten sie aufgestellt, die verrücktesten Sachen getrieben, hatten sich in die ersten tiefen Geheimnisse der Stadt Bremen einweisen lassen. 

So viel war geschehen, aber, ganz ehrlich, wie viel war so eine Erinnerung an so einen großen Tag wert, wenn man bemerkte, dass man all das mit der blödesten Frisur der Welt auf dem Kopf erlebt hatte. Das war so ähnlich, wie den Literaturnobelpreis zu gewinnen, am Ende des langen Verleihungstages abends in Oslo im Hotelzimmer noch einmal für sich selbst mit der Urkunde vor dem Spiegel zu posieren und zu bemerken, dass einem den ganzen Tag der Reißverschluss der Hose aufgestanden hatte und die  Unterwäsche ungünstig zur Seite verrutscht war. 

"Wir brauchen eine Schere und einen Kamm - mindestens! Mit diesen Haaren werden wir die Weltherrschaft nicht an uns reißen!" sagte Justus.

"Weltherrschaft?" fragte Emma. "Das ist der Plan? Endlich verstehe ich mal, was wir hier wirklich vorhaben!" 

"Nein, war nur so vor mich hin gesagt, vergiss es, darum geht es nicht. Wenn zwei Menschen so Frisuren wie wir haben, dann sollte die Weltherrschaft ihre letzte Sorge sein. Im Moment sehe ich aus, als würde ich die Herrschaft über einen Dauercampingplatz anstreben und Du guckst so aus der Wäsche, als hättest Du Ansprüche, die Queen von irgendeinem Hartz4-Ghetto in Tenever zu werden!" 

Emma eilte ins Badezimmer und versuchte, nicht in den Spiegel zu gucken. „Cornrows! Meine Fresse!“ So blöd hatte sie tatsächlich noch nie ausgesehen. Auch eine bereichernde Erinnerung. Sie schnappte sich die Schere und kehrte zurück ins Wohnzimmer, in dem sich nun auch Justus im Spiegel der Garderobe begutachtete und seinen Kopf, mal wieder, nicht fassen konnte.

"Komm her, Freundchen, Kurzhaarfrisur." sagte Emma und drückte Justus ins Badezimmer. "Zieh’ dein Hemd aus!" 

"Also, ich kann das auch selber machen. Kein Problem!" sagte Justus und rutschte genierend auf seinem Stuhl hin und her.
"Mann, Typ, was ist los mit Dir? Zieh das Hemd aus, Herr im Himmel!" zischte Emma, nahm Justus’ Kopf in beide Hände und drehte ihn nach vorne.

Wahrscheinlich war es besser, auf Emma zu hören. Auf jemanden hören, das hatte Justus so direkt und im Privaten seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht. Er erwartete von sich selber, nun eine große Ablehnung zu verspüren, so wie er das immer tat, wenn ihn irgendwer zu irgend etwas bringen, zwingen oder überreden wollte. Wenn jemand so etwas mit ihm tat, musste er immer an seine Tante und ihr mit Spucke getränktes Taschentuch denken, mit dem sie ihm in Kindertagen den Schmutz aus dem Gesicht gewischt hatte.

Die Ablehnung blieb aus.
"Emma darf das!“ dachte er sich und war verwundert, wieviel Ruhe ihm diese Einsicht schenkte. "Emma darf das!"

Während sich Steffi und Maik auf dem weichen Fußboden ihres Zimmers vom Schlaf hatten übermannen hatten lassen und nun in unschuldiger Löffelchenstellung  dem Morgen und dem nächsten aufregenden Tag entgegen schlummerten, und Emma Justus in einem intimen Moment die Haare schnitt, machten sich zwei Stockwerke höher unter dem Grollen der Nachtlinie N12 über ihren Köpfen, zwei Arbeiter in Maßanzügen und Sportschuhen auf den unterirdischen Weg zum Weserwehr. 

"Es gibt einen Sorte von Wal, die von der Wissenschaft ‚Der einsamste Wal der Welt’ genannt wird, weil er nicht in der Lage ist, in der Tonhöhe der anderen Wale zu kommunizieren", sagte der eine der Arbeiter im Anzug, der überraschenderweise eine Grufti-Frisur mit auftoupierten Haaren trug.

"Das ist sehr traurig!" sagte der andere Arbeiter, der sehr dick war und sich beleidigt und doch verstanden fühlte. Ein passender Walvergleich. Das war ihm auch noch nicht untergekommen. Trotzdem musste er an die Therapie denken, in die er als Kind nach Jahren des Mobbings gesteckt worden war, und nutze nun die Fähigkeiten, um sich zu beschweren.

"Stop! Ich möchte das nicht!" sagte er laut zu dem anderen. Die beiden blieben stehen. "Stop!" wiederholte er noch einmal. "Ich möchte das nicht!"

"Was möchtest du nicht?" fragte der andere.
"Ich möchte nicht mit einem Wal verglichen werden!" antwortete der rundliche, sehr sympathische Arbeiter.

"Wer hat Dich denn mit einem Wal verglichen?" 
"Na, Du, Du hast mich gerade mit einem einsamen Wal verglichen!"

"Reg Dich mal ab, hier hat Dich niemand mit einem Wal verglichen. Ich habe nur gesagt, dass es irgendwo im riesigen Pazifischen Ozean einen Wal gibt, der sehr einsam ist. Dafür, dass Du einsam bist und Dich dick fühlst, da kann doch der Wal nichts dafür!"

"Sicher?" fragte der Dicke.
"Sicher!" antwortete der kleinere der beiden. "Schau mal, ich bin klein. Da kannste ja auch Witze drüber machen!"

"Ameisen legen ihre Friedhöfe immer in der nordwestlichen Ecke ihres Ameisenhügels an und begraben dort ihre Toten. Wenn man eine von diesen Ameisenfarmen von früher zwischen zwei Glasplatten hat und sie umdreht, rennen alle Ameisen los, graben die Toten aus und begraben sie auf der anderen Seite, die ja dann nach Nordwesten zeigt. So sind sie, die winzig kleinen Ameisen!" sagte der große, rundliche Arbeiter zum kleinen, hageren Arbeiter.

"Stop!" sagte nun der andere. "Nur weil ich ein Grufti bin, bedeutet das noch lange nicht, dass ich nachts auf den Friedhof gehe und meine Oma ausgrabe, nur weil die Welt sich dreht!"

"Touché!" dachte sich der Rundliche, und die beiden liefen weiter durch die alten Bremer Katakomben unter den Gleisen der Linie 3 entlang in Richtung Weserwehr – geredet wurde kaum.

"Wir gehen da jetzt nur hin, um auf diesen Knopf zu drücken?" fragte plötzlich der stämmige, tolle Typ den anderen auch sehr netten, kleineren Arbeiter. 

"So wurde mir das gesagt. Wir drücken jeder auf einen Knopf, das Ganze gleichzeitig. Daraufhin fahren die Filter im Wehr und in der Schleuse hoch, und die Filter fangen zu filtern an!" sagte der Kleine.

"Und dann ist überall reines, klares Wasser in der Weser? Das finde ich gut - auf der anderen Seite, ich weiß gar nicht, was da für Tiere wohnen in der Weser. Die ist ja sehr schlammig, und oft sind ja Tiere, die nicht gesehen werden können, sehr unschön anzusehen. Dagegen sind Tiere, die sich gerne zeigen, ja auch oft für das menschliche Auge sehr schön, aber die Abseitigen in der Tiefe oder im Dunklen, die schaut man sich nicht gerne an. Ich meine ja nur: Stell Dir vor, Du kannst die ganze Weser hinunter überall bis auf den Grund sehen und die Tiere sind alle hässlich - vielleicht will man das ja gar nicht!" sagte der Große.

"Da hatte ich auch schon drüber nachgedacht. Ich habe viele Freunde, die den ganzen Tag nur im dunklen Zuhause sitzen und nur nachts rausgehen - die sind auch nicht sehr schön, aber - will man ihnen das Nichtschönsein jetzt für immer übel nehmen?" fragte der Kleine.

"Nein, natürlich nicht! Vielleicht sollten wir etwas in der Weser auswildern. Ich fände das schon schön, so ein paar tolle Tiere zu haben, die man sich lieber anschaut, lieber als beispielsweise einen hässlichen Wels. Vielleicht Delfine?" fragte der Große.

"Delfinschulen in der Weser auswildern. Dann könnte ich vielleicht von Walle aus auf einen Delphin ins Viertel reiten. Das wäre schon verführerisch. Und Pinguine hätte ich auch gerne, und am tollsten wäre natürlich ein Wal!" sagte der Kleine.

"Stop!" rief der Große.

"Alter, echt jetzt! Ich mein’ nicht Dich, ich meine einen richtigen Wal. Vielleicht diesen ‚einsamsten Wal der Welt’, dann könnte er immer vor der Schlachte und dem Osterdeich herumschwimmen und neue Freunde finden und vielleicht sogar einen Job als alternative Biofähre zum „Café Sand“ bekommen. Da stehen die im Viertel doch so drauf. Vielleicht gewinnen wir ja „Al Natura“ für eine große Werbung auf des Wals Bauch!" 

"Stop!" wollte der Dicke sagen, glaubte dem Kollegen nun aber doch, dass es hier ausschließlich um einen Wal und nicht um ihn ging.

"Dann würde ich vorschlagen, wir drücken die Knöpfe und fahren dann hoch zum ‚Zoo am Meer’, da sollten wir ja wohl eigentlich alles finden!" sagte der Kleine, und die beiden gaben sich ‚High Five’. Sie machten auf Höhe der Endhaltestelle der Straßenbahn einen Knick nach rechts, liefen noch fünfzig Meter weiter und kamen zu einer Tür, zückten ihre Schlüssel, schlossen die Tür auf und betraten einen Raum, in dem nichts war außer unter der Decke eine Klappe mit Leiter und zwei große rote Knöpfe. Das Donnern des Weserwehrs war zu hören.

"Na, dann wollen wir mal!" sagte der Kleine und haute auf den einen großen, roten Buzzerknopf; der Große tat es ihm bei dem anderen Knopf gleich. Ein Grummeln ging durch den Raum, alles begann zu wackeln und nacheinander sprangen sie auf die Leiter, öffneten die Luke und kletterten hinaus auf das Wehr, welches im Sternenschein menschenleer vor ihnen lag. Sie gingen auf eines der Plateaus hinauf und schauten hinab, dorthin, wo die Weser unter ihren Füssen drei Meter hinunterfiel. Eine Wand schob sich von unten in die Fluten, und tatsächlich klärte sich das Wasser und lief blütenrein in Richtung dorthin, wo die Weser einen großen Boden macht.

Emma schaute Justus an. 

"Sieht doch gut aus!" sagte sie und legte die Schere zur Seite, trat noch einen Schritt auf Justus zu, nahm noch einmal sein Gesicht in beide Hände und gab ihm einen Kuss. 

"Zeit zum Schlafengehen!“ sagte sie und zog ihn an der Hand mit sich.



Tag 27 (31.5.2012)

Unterschiedliche Träume und ihre Bedeutungen


Dunkel war es am Himmel über der Stadt. Verdächtig dunkel. Man musste an Folgendes denken: Sag einem Menschen, dass da draußen im Universum dreihunderttausend Billionen Sterne sind. 
Er wird es dir einfach glauben. 
Sag ihm, die Bank ist frisch gestrichen. 
Er wird sie anfassen.

Stockduster lagen die Schatten auf der Stadt.
Dann flammte das Licht auf.

Wenn einer von oben, etwa aus einem Zeppelin oder einem Flugzeug in die Weser geschaut hätte, wäre ihm wahrscheinlich der Mund offen stehen geblieben. 

Wahrscheinlich hätte er an einen leckeren Salat gedacht und an das Aufeinandertreffen von Essig und Öl, besser gesagt, er hätte an Essig gedacht - braunen, saftigen, geschmackvollen Essig, der lustig glänzte und herumgluckste. 

Essig, der sich aber rasend schnell aus dem Staub machte, sobald irgendwer, warum auch immer, erotisches Massageöl auf den Salat gekippt hätte, so dass der dunkle Essig, ebenso wie das Wasser der Weser, nur noch in den Ecken der Blätter hängen geblieben wäre und so den Zuseher aufgrund von Leckersein dazu gezwungen hätte, den Salat möglichst schnell herunterzuschlingen.

Nur war das hier nicht ein Salat, sondern die Weser, immerhin der drittgrößte Fluss in Deutschland - und wer vorgehabt hätte, sie auszutrinken, diese Weser, der sollte das wirklich möglichst schnell tun und dann sterben, denn wer versucht, die Weser auszutrinken, der ist ohnehin geistesgestört. 

Nicht Salatfresser-geistesgestört, sondern so richtig geistesgestört, halt Riesenfluss-austrinken-geistesgestört.

Die Filteranlage im Weserwehr funktionierte und hatte das schmuddelige Brackwasser der Weser in eine türkise, leicht im Mondlicht glitzernde Lagune verwandelt, und hätte die Stadt nicht geschlafen, hätte auch sie große Augen gemacht. 

Nur ein paar betrunkene Jugendliche, die nach wie vor tief in der Nacht an der Jugendlichen-Wiese bei den „Weserterrassen“ zechten, bemerkten eine leichte Veränderung. Die Jugendlichen beschlossen aber, statt sich zu wundern nach Hause zu gehen, weil sie ihren Augen nicht mehr trauten, denn Jugendliche können mit Alkohol schlecht umgehen und werden betrunken zu schnell müde. Kaum ein Jugendlicher weiß um das Geheimnis, immer noch auf einen letzten Drink zu bleiben, denn beim letzten Drink - da starten die guten Geschichten. So auch in dieser Nacht.

Vier Stockwerke unterhalb der Sielwall-Kreuzung zog Emma gerade Justus an seiner Hand in Richtung Bett, und so richtig wussten die beiden nicht, wie ihnen geschah. 

Die Geschwindigkeit, in der sich ihr Leben in letzter Zeit verändert hatte, war nur einer der Gründe, sich nun endlich einmal fallen zu lassen - es machte ja doch keinen Sinn mehr, an altbackenen Moralvorstellungen festzuhalten. Es war ohnehin seltsam, überhaupt noch schüchtern zu sein im Angesicht der Begegnung mit Gott und dem wahrscheinlich bald anstehenden Weltuntergang. Und überhaupt - warum machte sich Justus denn jetzt Gedanken über irgendwen anderes als Emma? Wie gehemmt er immer war! 

Es gab ja nicht vieles, was Justus an sich selber störte, aber wenn es etwas gab, dann war es mit Sicherheit dieses Gehemmtsein, oder besser gesagt, der Unterschied zwischen seinem alleine ausgelebten Sexualleben und der Art und Weise, in der er außerhalb seiner Gedanken mit der Umsetzung seiner erdachten Sexualpraktiken umging. 

Was für Fickwelten er sich nicht schon erschaffen hatte!
Ein Künstler war er in seinen Wichsphantasien: Regisseur, Kameramann, Drehbuchautor, Hauptdarsteller, ja manchmal sogar Hauptdarstellerin! Ein Wahnsinn, wie sehr die Welt von großer Kunst überschwemmt wäre, wäre nicht Fortpflanzung, sondern Liebe oder Verständnis oder sogar Humor der Hauptinhalt eines Menschenlebens. Doch auch so war es schon schlimm genug, dass all die geilen Phantasien der Menschen in den Köpfen blieben und als einmalige Orgasmuskrücken dienten, statt den anderen das Leben befriedigender zu machen. Denn eigene Befriedigung ist nicht selten der Schlüssel zur Befriedigung anderer. 

Justus war der König dieser Phantasien. Ein riesiger, funkelnder Stern auf dem „Walk of Fame“ der erotischen Phantasien wäre ihm sicher!

In der echten, richtigen Welt war aber genau das Justus’ Problem:
Er nahm sich einfach nie das, was er wirklich wollte, sondern glitt in der Anwesenheit von begehrten Menschen und Genitalien immer in Apathie und Tatenlosigkeit ab. Einer hatte mal gesagt: Beischlaf hält nie das, was die Masturbation verspricht - und recht hatte er gehabt! Karl Krauss, das war schon ein kluger Kopf gewesen, sowohl in der Politik, als auch in der Sexualität, denn die war ja auch irgendwie politisch, und im Angesicht der modernen Zeiten war es ja wohl für einen männlichen Sexpartner kaum noch möglich, die beim Pornoschauen ausgedachte Dominanz und Aggressivität auszuleben, ohne der Frau ihr Recht auf Selbstbestimmung und ihren gesellschaftlichen Stand abzusprechen. Was aber nicht nur Schuld der Männer war, denn wer verdirbt sich seine Seele schon mit Vorsatz?

Plötzlich küsste Emma ihn auf den Mund, riss ihm das Hemd vom Oberkörper, zog ihm in einer blitzschnellen Bewegung die Hose aus und hatte, ehe er noch einmal "Karl Krauss" denken konnte, schon seinen Penis in der Hand, und für einen kurzen Moment war Justus tatsächlich einfach nur geil, aber nur eine winzige Sekunde, nämlich genau bis zu dem Moment, an dem er bemerkte, dass er nun doch wieder an Karl Krauss denken sollte, um dieses Intermezzo nicht nur eine Sekunde dauern zu lassen. 

Schon saß Emma, die oben herum immer noch voll bekleidet war, auf Justus und bewegte sich in einer Art und Weise, die Karl Krauss in Justus’ Kopf innerhalb von kürzester Zeit hocherotisch erscheinen ließ. Wenn schon das Aussehen von Karl Krauss einen vorzeitigen Orgasmus nicht abwenden konnte, was dann? In genau diesen Momenten ist es ein Wahnsinn, zu beobachten, wie die menschliche Sexualität in der Lage ist, jegliche andere Regung des Geistes voll und ganz auszuschalten. Wenn erst einmal die Idee von Sexualität und Intimverkehr auftaucht, ist es ein Wahnsinn, sie wieder zurückzufahren. Eigentlich gibt es kaum ein Mittel, ein aufkeimendes sexuelles Verlangen alleine zu stoppen. Nur durch ein „Nein!“ der Gegenseite ist es aufzuhalten. Ein eigenes „Nein!“ hilft da null. Vollkommenes Opfer! Allein die Idee an Selbstbefriedigung ist unstoppable. Wer auch nur einmal in einem ungestörten Raum mit Zugang zum Internet an Masturbation gedacht hat, wird sich durch reine Kraft der Gedanken von der Ausführung dieses Planes nicht distanzieren können. Durch nichts ist dieser Plan zu stoppen, außer vielleicht durch ein Elternteil, welches ohne zu Klopfen das Jugendzimmer betritt.

Justus betrachtete Emma und verteufelte sich selbst, diesen Anblick nicht genießen zu können. Ihn nicht als Geschenk, sondern als Bürde wahrzunehmen und als Zwang, das Ende möglichst lange herauszuzögern. Was war das für eine Welt, in der ein vorzeitiger Erguss als Enttäuschung und nicht als Kompliment wahrgenommen wurde!

Es war zu spät. Nichts mehr fiel Justus ein, um sich abzulenken. Jegliche nonsexuelle Fantasie verdrehte sich in auf irgendeine noch so schräge Art und Weise ins Geile. Und als Justus beim ausgedachten Tod seiner Eltern und sterbenden Kindern in Afrika und Ailton angekommen war, ejakulierte er im Sinne seiner geistigen Gesundheit. Was soll’s. Es wäre ein Wunder, sollte das hier das letzte Mal mit Emma gewesen sein! 

Emma lächelte ihn an, rollte von ihm herunter, schaute ihm in die Augen und lächelte. 

"Manchmal hat auch Karl Kraus unrecht!" sagte sie, nahm ihn in den Arm und schlief ein. 
Das hier passiert", sagte der eine, "und wenn ich es twittere, glaubt es mir doch eh keiner. Ich werde getrollt bis zum geht nicht mehr!"
"Ich auch", antwortete der andere. "Auf der anderen Seite - wie soll ich das denn twittern, wenn ich selber nicht weiß, was wir hier tun?" Er riss sich eine Dose Bier auf. "Warum bist Du denn eigentlich hier? Ich meine, machst Du so was öfter? Museen überfallen und einer Armee beitreten?"
"Nur", antwortete der andere, "wenn ich getrunken habe!“. Auch er öffnete ein weiteres Bier. "Aber mich würde schon interessieren, was da draußen vor sich geht!" Die beiden schwiegen müde.
"Willst Du Speed ziehen?" fragte der eine ansatzlos.
"Klar, was soll’s!" war die Antwort. Ein kleines Briefchen wurde aus der Tasche gezogen, aufgeklappt, mit einer Werder-Bremen-Stadion-Plastikkarte in große Lines gehackt und geschnupft.
Die Pupillen weiteten sich. Die beiden schauten sich an, dann sahen sie umher und kurze Zeit später stand ihnen der Schweiß auf der Stirn. 
Ihre Augen wanderten durch den Raum und sie bemerkten, dass unter dem hinteren Tor an dem großen Schwimmbad am Ende der Halle plötzlich Unterwasser ein Lichtstrahl ins Wasser fiel.
"Kannst Du paddeln?"
"Klar kann ich paddeln, ich war in einem Camp für schwer Erziehbare. Jeder Schwererziehbare kann paddeln!"

"Dann los!" sagte der eine, und schniefend, das brennende Gefühl die Nase hochziehend und den bitteren Geschmack in der Kehle, schlichen sie mucksmäuschenstill, wie allerdings auch nur sie selbst fanden, an den Whirlpools vorbei zum Ende der Halle.

Sie schulterten einen Ureinwohnereinbaumkanu aus dem zweiten Jahrhundert, welcher auf dem großen Haufen von Ureinwohnereinbaumkanus lag, und ließen es in das große Schwimmbecken gleiten. Ungelenk sprangen sie in das Becken, das trotz seiner unterirdischen Verbindung zum Weserwasser überraschend warm und angenehm war. Mit den Paddeln in den Fäusten begannen sie zu schwimmen, legten ihre Hände auf den Einbaum und planschten zum großen Tor, welches nur bis zur Wasseroberfläche heruntergelassen war. 

Beim Tor angekommen, stießen sie sich vom Boden ab, drückten schräg auf das Kanu, so dass es unter dem Rolltor hindurchflutschte, tauchten hinterher und waren im Freien.

Die ganze Weser leuchtete. Aber sie leuchtete nicht einfach nur so, viel mehr stiegen majestätische Lichtsäulen aus der Tiefe empor und ließen das Ufer im vom Wasser wellenartig gebrochenen Licht erstrahlen. Die beiden schauten sich an, mahlten mit den Kiefern und wussten nichts zu sagen. Sie schwammen weiter, warfen die Paddel ins Boot und hievten sich hinterher. 

Wie kleine Kinder bekamen sie den Mund nicht zu, außer, um manchmal wegen der Drogen mit dem Kiefer zu mahlen. Das Ufer, der Osterdeich und die Jugendlichen-Wiese lagen wie ausgestorben vor ihnen und Lichtflecken, die von der leichten Oberflächenkräuselung hervorgerufen wurden, wanderten an den blühenden Bäumen und den saftigen Wiesen entlang. 

Wenn jeder Mensch einmal im Leben einen Moment hat, in dem er sich einsam auf der Welt fühlt und eben dieses Alleinsein mehr als alles andere zuvor genießt, dann war das für die beiden eben dieser Moment in ihrem Leben. Und wenn man das Alleinsein lernen muss, um nie wieder einsam zu sein, dann war eben das hier dieser Moment, an den sie sich für immer erinnern würden, um zu wissen, dass das Leben schön war.

Wenn ihnen nicht noch ein Filmriss dazwischen kam.

Sie paddelten langsam vorwärts, ließen sich von der Strömung in Richtung „Werder“-Kiosk treiben, öffneten sich noch ein Bier, stießen an und freuten sich, bei irgend etwas Großem dabei zu sein, auch wenn sie noch nicht verstanden, was dieses Große sein sollte. Aber wie so oft bei Großem, war es eher ein Gefühl als ein wirkliches Wissen. Das erhabene Gefühl, dass das Dasein gerade wichtiger war als sonst!

Das Wasser war nicht nur glasklar, es war auch warm, körperwarm, so dass sie in ihren nassen T-Shirts kaum froren. Sie trieben weiter, schlugen ein, zwei mal mit dem Paddel, so dass sie sich in die Mitte der Fahrrinne bewegten und schauten ins Wasser hinab, wo doch einiges zu sehen war.

"Hey! Da ist mein Fahrrad!" rief der eine.
"Hey! Da ist mein Auto!" rief der andere.

In der Ferne tuckerte ein Binnendampfer auf sie zu, und sie paddelten mit dem Einbaum in Richtung Osterdeichwiesen und sahen, dass sich langsam, still, leise und ungläubig Menschen einfanden, manche in Alltagskleidung, andere - sieh her, das gab es noch! - in Pyjamas und Pantoffeln. Ihnen schien von unten das Licht ins Gesicht und die glitzernden Wasserflecken unterstützten noch die Verwunderung in ihren Augen. "Was ist das?" fragten sie und begannen, langsam den Deich herunter in Richtung Weserufer zu tapsen. 

Die beiden im Einbaum sahen sie kommen, wie sie schlaftrunken und in seltsamer Kostümierung den Deich hinunterwankten, was für einen Internetmenschen auf Speed natürlich ein Problem darstellte und ihn unweigerlich an eine Zombie-Apokalypse denken ließ, was natürlich blöd, aber durchaus nachvollziehbar war. Sie begannen langsam vom Ufer weg zu paddeln, erst weiter in die Mitte, wo aber gerade der riesige Binnentanker vorbeizog, was die beiden in Panik versetzte, so dass sie sofort stoppten und fast hysterisch anfingen, in Richtung Weserwehr zu paddeln. Fast auf Höhe der „Weserterrassen“ und selbst kurz vor dem Durchdrehen, sprangen sie verzweifelt aus dem Boot und schwammen mit rasenden Herzen durch das Wasser die letzten Meter zum versteckten Tor, tauchten und fanden sich auf der anderen Seite im großen und versteckten Schwimmbad wieder.

"Alter, was war das denn?" 
"Irgendwie war das wie ein Zombieangriff auf einer Karibikinsel. Das ist cool, aber auch uncool!"
"Und jetzt?"
"Ich glaube, ich will jetzt schlafen gehen. Joint zum Runterkommen?" fragte der andere, zog sich aus dem Schwimmbecken und ging zu seiner Tasche.
"Joint zum Runterkommen!" antwortete der andere.

Langsam wanderte der relativ volle und angemessen große Mond in einer flachen Bahn über den Himmel von Bremen und wirkte ein bisschen wie eine mit verbotenen fluoreszierenden Farben aus dem Ostblock angemalte Frisbeescheibe, die wahnsinnig langsam und leicht flackernd durch den Kosmos über Bremen eierte. 

Die wenigen Wolken, welche sich hin und wieder vor diesen Mond schoben, glichen keiner interessanten Form und hatten keine Chance, sonst wie interpretiert zu werden, was den Wolken natürlich weh tat, denn sie regneten ja nicht einmal - und ohne zu regnen und interpretiert zu werden, war das Dasein einer Wolke schrecklich sinnlos und einsam.

In den frühen Morgenstunden begann der Mond langsam zu verblassen, als die Sonne gut gelaunt über den Horizont blinzelte und wie eine Katze nach dem Aufstehen ihre Gliedmaßen streckte.

Lange Schatten fielen auf die Bürger der Stadt, von denen einige noch ziemlich verzecht an den Weserwiesen lagen, weil sie die neue Schönheit ihres Flusses nur mit einer Überdosis der Designerdroge Korn vertragen hatten. Erste kluge Menschen waberten herum und verdienten sich eine fast schon goldene Nase, als sie begannen, in die Weser hinein zu waten, um die Unmengen der dort versenkten Pfandflaschen zu bergen. Gute Stimmung herrschte unter den Pfandsammlern, von denen einige so weit gingen, davon zu träumen, durch das hier verdiente Geld in ihr altes Leben mit Ehepartner und ohne größere persönliche Probleme zurückzukehren. 

Alle waren gut gelaunt, wie schon seit langem nicht mehr, und eigentlich akzeptierten alle diese Freude an dem karibischen Wasser, außer einer kleinen Expertenkommission, welche sich am Weserwehr eingefunden hatte und rätselte, wer sich denn nun schon wieder diesen Filter- und Heizungsanlagen-Dullibuff für die Weser ausgedacht hatte. Nachdem sie zu keinem Ergebnis gekommen waren, jedoch auch keine Ahnung hatten, wie sie das alles wieder abstellen sollten, zogen sie ihre Speedos in Speckflaggen-Optik über und begannen, wie übermütige Teenager von der Erdbeerbrücke zu springen.

Von all diesem Aufruhr in der Stadt bekamen weder Steffi noch Maik, weder Emma noch Justus etwas mit. 

Unten, in den Katakomben des „Clubs der Spinner“, tief unter den Füssen der coolen, aber ahnungslosen Viertelbewohner war Maik als erster aufgewacht und fand sich in den Armen von Steffi wieder, welche sich von hinten an ihn schmiegte. "Na, das fühlt sich aber gut an!" dachte sich Maik, dem aber leider der Vergleich fehlte, da sein normales Aufwachen meist von einem schmerzhaften Abdruck der Tastatur in seinem Gesicht gekennzeichnet war.

Noch öfter wachte er davon auf, dass seine Ohren hörten, wie sein rechter Zeigefinger zu Doppelklicken anfing, noch bevor sein Bewusstsein aus seinen seltsamen Träumen zurückgekehrt war.

"So viel zu tun!" dachte er sich, dann spannte Steffi ihren Arm noch einmal an, zog sich noch ein Stückchen näher zu ihm heran, und für "Ach, nur noch eine halbes Stündchen!" war ihm Gott, Weltuntergang und die auf ihn wartende Armee egal. Steffi schnarchte ein bisschen, doch es war diese Art von Schnarchen, die einen Jungen mit verqueren Geschlechteransichten dazu brachte, mal drüber nachzudenken, jemanden dafür zu mögen und zu begehren, dass ein Mensch zeigte - und wenn es durch Schnarchen war -, dass er ein Mensch war, anstatt jemanden dafür zu mögen, dass er sich ansatzlos für jeden sexuell und blitzschnell verfügbar machte. Maik dämmerte wieder in seine Träume zurück.

Im Nebenzimmer lag Justus mit weit ausgebreiteten Gliedmaßen auf dem Rücken und träumte seltsame Dinge von einer Armee aus Computerspielern, von einem geheimen Club in seiner Heimatstadt, von einem Fluss, klar wie das Wasser eines Wildbachs in Tirol, und dem Ende der Welt und von einem Mädchen, das neben ihm lag, das er anschaute und sich freute, weil er im Schlaf merkte, dass seine Zuneigung zu ihr ihn zum ersten Mal befähigte, nicht alles auf der Welt albern und ablehnenswert zu finden, sondern tatsächlich einfach einmal den Moment zu genießen. 

In seinem Traum schaute er sie an und genoss den Frieden. Plötzlich begann das Mädchen, nervös zu atmen - immer schneller ging das  Ein- und Ausstoßen der Luft aus ihren grazil geschwungenen Lippen. Er roch etwas Seltsames, Erdiges, was so gar nicht zur Schönheit dieser Frau passte, und plötzlich klatschte ihm ein nasser Feudel ins Gesicht und die Frau begann zu bellen! 

Justus riss die Augen auf und schaute in große schwarze Kulleraugen, die ihn aufgeregt und erwartungsvoll anschauten. Er spürte ein Trommeln auf seinem Bauch und fuhr hoch. Ein großer schwarzer Hund lag neben ihm im Bett und leckte sein Gesicht ab, so dass es kitzelte und Justus lachen musste. Der Hund wälzte sich hin und her, sprang auf und schlug weiter mit seinem Schwanz auf Justus Bauch ein, so das es fast weh tat, aber dennoch unglaublich süß war. Justus nahm den Kopf des Hundes in die Hand und drückte den Kopf hin und her, so dass der Hund noch wilder wurde, ein freudiges Jaulen anstimmte und noch mehr in seinem Gesicht herumleckte.

"Ist ja gut, ist ja gut!" sagte Justus lachend und drückte den Hund von sich weg, welcher nun aufsprang und ungelenk vom Bett fiel, sich aber sofort wieder aufrappelte und zu Emma hinüberlief, welche nur mit Justus‘ weißem Hemd bekleidet im Zimmer stand und einen Zettel las. 
"Guten Morgen, Sonnenschein!" sagte sie zu Justus und las weiter in dem Brief, welchen sie in der Hand hielt. 
"Guten Morgen!" sagte Justus und wälzte sich hinüber, so dass er mit der Bettdecke im Schoß auf der Bettkante zu sitzen kam.
"Was ist denn los?" fragte er.
"Hier ist ein Brief von Willehad!" sagte Emma und wedelte damit in Richtung Justus. "Soll ich vorlesen?"
"Nein!" sagte Justus, der fast mit den Augen gerollt hätte, weil er die Frage so doof fand, wofür er sich augenblicklich schämte. Sein Traum war eindeutig vorbei, und wie er bemerkte, war er wieder der alte zynische Idiot. "Doch, natürlich sollst du ihn vorlesen – Entschuldigung!" sagte er. 
Emma schaute ihn an. 
"Ok!

‚Guten Morgen, Du Sau!‘ steht hier, aber das ist durchgestrichen.  Hier fängt es richtig an: 

‚Guten Morgen, Ihr vier Freunde. Ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen. Wir alle sind sehr froh, dass Ihr hier seid. Wir saßen gestern noch bei einem Wein unter dem Ratskeller zusammen und haben darüber gesprochen, wie lustig Ihr seid, sind aber zu dem Punkt gekommen, dass Euch irgendetwas fehlt. Weil alle müde waren, hab ich mir Gedanken gemacht und mir gedacht: Vier lustige Spinner, zwei Weibchen, zwei Herrchen, was könnte da fehlen? Also habe ich euch einen Hund gekauft. Er hat noch keinen Namen, vielleicht könntet ihr Euch etwas ausdenken. Ich erwarte Euch zum Frühstück in der Bibliothek‘“. 

Emma schaute Justus an.
"Bismarck!" sagte Justus. "Ich wollte schon immer einen Hund, der Bismarck heißt!"

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Tag 28 (7.6.2012)


„Wetzt die Messer, wir paddeln gegen die Schlachte!“


Es war früher Morgen, als Maik, Steffi, Emma und Justus die Bibliothek des „Clubs der Spinner“ betraten. Das Licht des fensterlosen Raumes war gedimmt, es roch nach Kaffee, frischen Brötchen und etwas nach Rosmarin. 

Leicht war dieser Frühstücksduft, nicht so, wie in einer dieser verlebten Studenten- oder Hartz-IV-Buden, wie die Vier sie kannten. Eher wie in einem Büro, aber nicht, wie in einem dieser schrecklichen Büros, in denen so viele Menschen ihr Leben schrecklich bis zur Rente fristeten. Es roch eher wie in einem Raum, in dem etwas geschah, in dem Leben war - wie einer dieser Räume aus der türkisen Kaffeewerbung der frühen 90er Jahre. 

Der Geruch des Kaffees erweckte nicht das eklige Gefühl des legalen Drogenkonsums, ohne den der Tag direkt in den Selbstmord geführt hätte. Es war nicht die todesähnliche Geruchsmischung aus Filterkaffee und Desinfektionsmittel, die so manchen Büroalltag bis ins geruhsame, viel zu späte Sterbebett begleitet. Es roch im Großen und Ganzen einfach warm.

Über all diesen Gerüchen lag aber auch noch eine milde Note, welche Justus an seine Kindheit erinnerte, genauer an einen Jugendherbergsaufenthalt, als er zum ersten Mal ein Mädchen heimlich im Wald geküsst hatte und dann des Abends durch das Fenster des frisch gewischten Speisesaals der Jugendherberge zurückgeschlichen war. Ein gewisser Hauch von Bohnerwachs lag in der Luft des Clubraums, ein Duft, der Justus sofort in diese Zeit zurückwarf und ihn Schmunzeln machte.

Ähnlich ging es Emma, die neben ihm stand, für die allerdings unter all dem Warmen ein Geruch von Salzwasser lag, welcher sie an einen Ausflug an die Nordsee denken ließ, den sie im Alter von zehn Jahren mit ihrer Mutter unternommen hatte. 

Eines Morgens war sie aufgestanden in einem kleinen Ferienhaus an der Küste, hatte leise die Terrassentür geöffnet und war, nur in eine Decke gemummelt, barfuss an den Strand gegangen und hatte auf die See hinaus geschaut. In diesem Moment war ihr zum ersten Mal aufgefallen, dass die Welt grösser war als die staubige Bude in dem Hochhaus, aus dem sie stammte. Das war ein Moment der Ahnung um die Größe und Schönheit der Welt gewesen. Einen Moment, nach dem sie insgeheim den Rest ihres Lebens bis heute auf der Jagd gewesen war, ohne es wirklich zu wissen. Sie blieb neben Justus stehen, wippte lustig vor und zurück, und auch sie musste lächeln.

Der Duft, der für Maik unter allem lag, war der für manche Menschen unschlagbare Geruch, welcher einem ins Gesicht strömt, wenn man mit dem Fingernagel die Verschweißung eines neuen elektronischen Gerätes öffnet - dieser kühle, perfekte Geruch, der einen eins mit dem Fortschritt der Welt werden lässt. Dieser Duft ließ Maik aufgeregt an das Jahr 1996 denken, als unter dem Weihnachtsbaum das Geschenk seines nach Liebe heischenden Stiefvaters lag. Ein eckiges Paket, dessen Inhalt Maik eigentlich schon kannte, das ihn aber trotzdem so aufregte, dass er den Weihnachtsbaum einmal hoch und wieder herunter hätte rennen mögen. Als er hektisch das Geschenkpapier aufriss und übernatürlich groß das „Super-Nintendo“-Logo vor seinen Augen leuchtete und diese sich soweit weiteten, dass sie ihm fast aus den Fassungen gesprungen wären. Beim Gedanken an diesen tollen Tag erinnerte sich Maik, wie viel Freude er empfinden konnte, und musste lächeln.

Der Duft, den Steffi roch, als er durch den Raum schwebte, erinnerte sie an das Parfüm "Vanilla Kisses", welches sie am Anfang ihrer Pubertät getragen hatte. Es erinnerte sie daran, wie ihr damals auf dem „Freimarkt“ hinterhergeschaut wurde. Wie Jungs in ihrem Alter sie angesprochen hatten und ganz nervös und schüchtern gewesen waren und endlos um den heißen Brei herum geredet hatten. Steffi hatte es trotzdem verstanden. Lustig war es gewesen - eigentlich hatten alle nach "Vanilla Kisses" gerochen! Das ganze Volksfest war von diesem lieblichen, die jungen Sinne verklebenden Stoff gesättigt gewesen, und sie war auf dieser dicklich satten Wolke aus Vanille und Billigtum ins Land der Teenagerträume entfleucht.

So standen die Vier im Clubraum der „Spinner“, und der Tisch war reich gedeckt mit allen nur erdenklichen Speisen. Da stand das größte „Nutella“-Fass der Welt, herrlichster Vanilleplunder, „Coca Cola“ und eben der in saftigen Wolken dampfende Kaffee in riesigen Pötten, die einen zu einem Kind werden ließen, das sich die Tasse heiße Schokolade mehr ins Gesicht als in den Mund kippte, sich verbrannte, aber nicht schrie, weil ihm sonst die Eltern den Rest des herrlichen Lebenssaftes entrissen hätten.

Willehad lag auf dem Bauch auf einer der Pritschen, die rundherum an den Wänden des kreisförmigen Raumes standen. Leise lief ein Radio - der Nachrichtensprecher verkündete, dass die durchschnittliche Bremer Lebenserwartung auf 27.010 Sonnenaufgänge gestiegen war und merkte an, dass der pakistanische Konvertit Abas Mohammed Sajus sich nun zum deutschen Glauben bekannte und ab sofort Klaus-Dieter genannt werden wollte. 

Willehad lag da und las in einem Comicbuch, einem sehr alten Comicbuch. Genauer hingesehen, las er ein altes Comicbuch von Willhelm Busch, und noch genauer hingesehen, las er ein sehr schmutziges Comicbuch des Autors Willhelm Busch. Justus ging durch den Raum, sah sich um und näherte sich Willehad. Der neue Hund Bismarck war ihm auf dem Fersen, rannte umher, schnüffelte hier und da und blieb neben Justus vor Willehads Bett stehen.

"Was lieste denn da?" fragte er.
"Oh, Hallöchen!" sagte Willehad. "Ach, wir haben so eine Sammlung von alten Büchern, die zu ihrer Zeit nie veröffentlicht wurden, weil sie dem Zeitgeist nicht entsprachen. Das hier hat Wilhelm Busch mal nebenher zur Entspannung gemacht, als er eigentlich an ‚Max und Moritz’ saß. Davon gibt es ziemlich viel - da hinten, da hinten steht ein Buch, das Baron Knigge abends geschrieben hat, während er an seinen Benimmbüchern saß. Ist eigentlich viel interessanter. Da steht drin, wie man sich auf gar keinen Fall in der Gesellschaft verhalten darf und wie man es schafft, jede Sympathie und jedes Ansehen auf einen Schlag zu verspielen. Naja, das waren andere Zeiten, und der Name ‚Anleitung zum Russischsein’ war wahrscheinlich schon damals nicht okay. Guck rein, steht dahinten. Schau Dich um, das gilt auch für die anderen hier. Das ist jetzt auch Eure Bibliothek. Ich kann Euch das nur empfehlen. Aber genug von den Büchern. Setzt Euch, lasst uns Essen!"

Willehad erhob sich vom Bett und ging gemeinsam mit Justus zum Frühstückstisch hinüber. Sie setzten sich. 
"Habt Ihr gut geschlafen?" fragte er.
Bismarck bellte. Alle lachten. Sie schauten sich an und fühlten sich ein bisschen wie eine Jugendbande aus den Achtzigern, die Detektivfälle löste. Willehad hatte Recht gehabt: Ihnen hatte tatsächlich ein Hund gefehlt!

"Wuff!" machte Bismarck noch einmal, sprang herum, versuchte, sich in den eigenen Schwanz zu beißen, und alle lachten wieder beherzt, so wie die Tanners knapp vor dem Abspann von „Alf“. 

"Ich saß die Nacht wach", sagte Maik, "und habe mir die Armee der Spinner im Schwimmbad angeschaut. Willehad, können Sie uns sagen, was da draußen vor sich geht?"

"Jetzt mal nicht so schnell, iss doch erstmal was!" antwortete der. "Ich erkläre Euch das gleich alles, aber erstmal, und das soll jetzt nicht altväterlich oder herablassend klingen: Glaubt mir einfach, dass wir das hier unten und die Sache mit dem Club und dem Untergrund und dem "Quatsch-in-der-Stadt-machen" schon etwas länger professionell betreiben.
Und glaubt mir, wenn ich sage: Immer erstmal Frühstück! Ich werde Euch in nächster Zeit ein paar Sachen zeigen, bei denen Eure Eltern euch angelogen haben. Aber bei einem hatten die Recht: Immer erstmal Frühstück, das hat sonst alles keinen Wert. Und zweitens: Beim Frühstück bespricht man nichts Ernsthaftes, beim Frühstück hört man Radio oder ärgert Leute, die morgens immer schlecht drauf sind. Oder? Also: Essen!"

Während Justus und Emma sich mit aller Ruhe der Welt die Marmelade auf ihre Brötchen schmierten und sich wegen gestern Nacht grinsend in die Augen schauten, schlotzte Maik eine weitere Ladung „Nutella“ auf sein nicht einmal aufgeschnittenes Brötchen, rammte es sich in den Mund und kippte einen Viertelliter „Cola“ hinterher.

"Du musst ein trauriger Junge sein!" sagte Willehad, der ein Müsli mit Joghurt aß. 
"Wieso das denn?" fragte Maik.
"Wenn einer so einen Müll isst wie Du, muss er vor lauter Sorgen echt oft das Essen vergessen, um nicht fett zu werden", sagte er.
Maik wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, starrte auf seinen Teller und trank wütend in hektischen Schlucken aus der ZweilIiter- Flasche „Cola“, die vor ihm stand. 
"Ich hoffe, den anderen schmeckt es?" fragte Willehad in die Runde, doch Emma, Steffi und Justus hörten ihn gar nicht mehr. Der Hunger war bei dem ganzen Stress des gestrigen Tages vollkommen in Vergessenheit geraten, schlug jetzt aber um so wilder zurück, und die Vier stopften sich die hervorragenden Früchte und Brote und Quarkspeisen und Frischkäse und Weichkäse und Goudas und Radieschen und was nicht noch alles  auf dem Tisch lag in den Mund. 

Willehad betrachtete sie amüsiert.

"Siehst du, Deine Freunde hier, die haben es verstanden!" sagte er an Maik gewand, der immer noch grummelnd da saß. Willehad griff unter den Tisch, zog blitzschnell eine Vuvuzela hervor und trötete Maik ins Gesicht. 

Maik schreckte zurück, kam auf seinem Stuhl ins Taumeln, der Stuhl kippte nach hinten, und er purzelte auf den Boden, wo er liegen blieb.

Alle am Tisch begannen zu lachen, aber es war nicht so, dass sie Maik auslachten - eher löste sich jetzt endgültig die Anspannung, die sich irgendwo tief in ihnen angestaut hatte. Erst lag Maik noch grummelig wie eine eingeschnappte Schildkröte auf dem Rücken, doch als die anderen den herrlichen Moment erlebten, gemeinsam mit ihren Freunden mit dem Lachen nicht mehr aufhören zu können, stimmte auch er ein, stand auf und setzte sich wieder an den Tisch.

"Entschuldigung, Maik!“ sagte Willehad. "Aber das konnte man sich ja nicht mit angucken, wie verkniffen Du da rumgesessen bist!" 

Als alle Fünf ihr Frühstück beendet hatten, ließ Willehad den Blick einmal durch die Runde schweifen. Dann erhob er das Wort.

"Wir haben heute Abend die Weser in Karibikwasser verwandelt: Türkisblau und achtundzwanzig Grad warm. Nur, um Euch mal zuvor zu kommen: Ihr wollt ja mit Sicherheit wissen, was gerade da draußen so vor sich geht. Nun, die Stadt ist in ziemlichem Aufruhr deswegen. Die Leute haben ein bisschen Angst und kaufen sich Badeinseln. Bis jetzt gibt es noch keine weiteren Beschwerden. Wir können mal kurz einen Blick nach draußen wagen!" sagte er und deutete mit einem Kopfnicken zu einem Metallkorb, der in der Ecke stand und an Stahlseilen verankert war, welche in einen Schacht in der Decke des Raumes führten. 

Willehad stand auf, öffnete den Korb und stellte sich hinein. Die anderen wischten sich mit ihren Servietten die Münder ab und folgten ihm. Willehad drückte einen Knopf, und klappernd setzte sich der Fahrstuhl, in dem sie standen, in Bewegung.

Über ihren Köpfen auf der Sielwallkreuzung stand Wolfgang, den manche abschätzig den Aufräumpenner vom Eck nannten, und wunderte sich ein wenig belustigt über die seltsamen Bürger, die um ihn herumwuselten, Badekleidung trugen und ihre Badeinseln den Sielwall hinauf zur Weser schleppten. Sie jubilierten, sprangen sinnlos aufgedreht in die Luft und jauchzten.

Wolfgang setzte sich in einen Treppenaufgang und öffnete sich eine Dose „Cola“.

Er schaute sich um. Schon lustig, wen die Menschen so „Spinner“ nannten! 

Amüsant, wie die Leute durchdrehten, sobald etwas Neues in ihr Leben gelangte. Sie waren aufgeregt wie Kinder im „Heidepark“. Wahrscheinlich waren sie das letzte Mal mit neun Jahren so aufgeregt gewesen, als sie noch mit unversautem Blick durchs Leben gelaufen waren. Immer musste erst etwas Großes passieren, das die Menschen verband! Dabei taten sie eh immer alle das Gleiche und verbrachten ihre Leben auf die gleiche Art und Weise, nur redeten sie nie drüber und wussten es deswegen auch gar nicht!

Die Leute gingen in einen Raum, vergaßen, was sie dort wollten, gingen wieder hinaus, und in diesem Moment fiel es ihnen wieder ein.
Sie alle hatten als Kinder Bilder angefertigt und eine Sonne oben rechts in die Ecke des Papiers gemalt, so dass nur drei Viertel von der Sonne zu sehen waren.
Sie hatten früher alle gedacht, dass ihr Herz wirklich aussähe wie die Herzen, die sie heute in ihren überflüssigen Chatnachrichten benutzten.
Sie hatten alle früher den Kühlschrank ganz langsam geschlossen, um zu sehen, ob das Licht da drinnen wirklich ausging, und sie alle hatten versucht, den Lichtschalter in ihrem Kinderzimmer in die Mitte von "an" und "aus" zu balancieren, um zu sehen, was passieren würde.

Alle waren sie gleich - und nicht zuletzt war diese Einsicht Wolfgangs Grund, auf der Strasse zu leben. Eigentlich waren wirklich alle gleich, nur ließen sie sich nur allzu gerne einreden, dass dem nicht so wäre, und vertrieben sich den Tag damit, über andere zu urteilen. Wenn Wolfgang auf der Strasse saß und die Leute auf ihn herabblickten, genoss er eines der schönsten Gefühle, die er sich vorstellen konnte: Das herrliche Gefühl, unterschätzt zu werden!

Ein surrendes Geräusch drang durch das Freibadgekreische der Bürger an Wolfgangs Ohr. Er schaute nach unten zu seinen Füssen, wo in die unterste Stufe der Treppe, auf der er saß, ein kleines Fenster eingelassen war, welches eigentlich von den Getränkeverkäufern zum Nachfüllen ihrer Bierbestände genutzt wurde. Das Surren wurde lauter und langsam erschienen - von unten herauf gefahren - erst Haarschöpfe, dann Haaransätze, dann Stirnen, dann Augenbrauen und am Schluss fünf Paar Augen, welche kurz auf und ab wippten, als der Fahrstuhl in Höhe der nackten Füsse der innerstädtischen Badegäste zum Stehen kam. 

Wolfgang schaute in den Schlitz und sagte:" Moin Willehad!" Und Willehad antwortete: "Ey Wolfgang, what’s up?" "Same old, same old, weißt ja! Eh alles cool! Auch ne ‚Coke’?" fragte Wolfgang und reichte aus seinem großen Mantel eine eiskalte „Coca Cola“ durch das Loch in der Treppe. Willehad öffnete die Flasche, nahm einen Schluck und bot sie Steffi an.
"Jo, Wolfgang, was geht hier oben?"
"Siehste ja, das mit dem Wasser hat gut geklappt, die Leute drehen durch!"
"Gut, gut, danke Wolfgang!" sagte Willehad und gab ihm einen Sack voller Zwei-Euro-Stücke, mit welchem Wolfgang losstiefelte und begann, in jedes Münzrückgabefach der Zigarettenautomaten eines der Geldstücke zu legen, weil er wusste, dass alle Kinder umherliefen und guckten, ob da nicht Geld drin lag. Und natürlich auch, um das Rauchen zu unterstützen, das er als letzte Bastion der Selbstverwirklichung ansah.

Die fünf Augenpaare glotzten weiter aus dem kleinen Loch auf den Sielwall hinaus. Die Pupillen zuckten von links nach rechts und wieder zurück. 

"Gut, gut!" wiederholte Willehad. "Dann jetzt weiter!" Er drückte auf einen kleinen Knopf in seinem Ohr. "Okay - Go in sechzig Sekunden!" sagte er und betätigte den Schalter im Fahrstuhl, so dass sie zuerst ein Stück zurück und dann weiter nach oben fuhren. Es ruckelte einen Moment, dann machte es leise "Pling!" und der Fahrstuhl blieb federnd im Dunkeln stehen. Es roch muffig. Justus machte einen Schritt nach vorne und stieß gegen etwas Hölzernes, das aufschwang und Licht in den Fahrstuhl fallen ließ. Sie blickten jetzt in ein winziges, unaufgeräumtes Studentenzimmer. Ihnen direkt gegenüber drang Licht durch ein ungeputztes, verschmiertes Fenster. 

"Rüber da! Wir sollten rausgucken, das könnte lustig werden!" sagte Willehad. Die Fünf drängelten sich aus der Gitterkabine ans Fenster, öffneten die nett-bremisch verzierten Fensterknäufe und blickten ins Freie. Sie schauten direkt auf die Kreuzung - von einer Wohnung im zweiten Stock des Eckhauses, direkt überm „Taco“. Ein reges Treiben war auf dem Platz zu ihren Füssen. Haufen von Leuten standen an den Ecken der Kreuzung - manche tranken schon Bier. Angeregtes Gelächter war zu hören, und ausgelassene Stimmung  herrschte da unten.
"In zehn Sekunden!" sagte Willehad.
"Was dann?" fragte Emma.
"Fünf, vier, drei, zwei, eins ..." zählte Willehad herunter, dann flogen an allen Häusern an allen Ecken in allen vier Himmelrichtungen die Fenster der obersten Stockwerke auf. Ein einzelner Plastikball flog heraus, titschte in der Mitte der Kreuzung auf, kullerte zu einer der Straßenecken und blieb liegen. Plötzlich löste sich jemand aus der Menge der Leute, hielt eine Flasche Bier in der Hand und trat gegen den Ball, so dass dieser steil in den Himmel schoss.

Dann begann es! 

Ein Schwall von tausenden und abertausenden Plastikbällen ergoss sich aus den Fenstern aufs Eck. Wie herrliche, in der Sonne blitzende und glänzende Wasserfälle strömten sie aus den Dachgeschosswohnungen, fielen auf den Asphalt, prallten ab und flogen gegen die Hauswände. Es waren so viele, dass sie sich gegenseitig vor dem Wegrollen blockierten und so das gesamte Eck immer mehr zu einem Ballparadies für alle Anwesenden wurde. 

Als die Bälle nicht mehr auf und nieder hüpften, wurden sie zu einer Form grobkörnigen Wassers, welches wie in Wellen hin und her wogte. Einzelne Köpfe tauchten immer wieder breit grinsend aus der Masse auf, die Menschen sprangen in die Luft und ließen sich in die Bälle fallen - es war wie das Ballparadies bei „Ikea“, nur wollte hier niemand abgeholt werden!

"Geil! Wie geil!" zischte Maik ungläubig und lehnte sich weiter aus dem Fenster.
"Ja, oder? Und das Beste ist, in jedem Ball ist eine geladene 9-Millimeter-Pistole eingenäht, entsichert und bereit zur Benutzung!" sagte Willehad jovial.
"Ernsthaft?" fragte Emma.
"Nein, natürlich nicht! Bist Du bescheuert?" antwortete Willehad.

Einer der Bälle wurde zu ihrem Fenster hinauf geschossen. Justus fing ihn auf. Schon beim Hinunterschauen war ihm aufgefallen, dass die Plastikbälle ein seltsames Muster aufwiesen. Justus besah sich jetzt das Motiv – unglaublich: Die Bälle waren fotorealistische Abbilder von Justus’ Kopf.

"Ernsthaft?" fragte Justus und streckte Willehad den Ball entgegen.
"Ja, geil, oder? Keine Revolution ohne ein Gesicht, das sich die Menschen merken können! Und Deins ist hier ja wohl mit Abstand das Merkwürdigste!" lachte er und haute Justus den Ball wieder aus der Hand, so dass dieser zurück auf die Strasse flog. 

Dort knallte er einem etwa zwanzigjährigen Mädchen an den Kopf, das daraufhin seine Brille verlor und in die Bälle abtauchte, um sie zu suchen, aber sogleich wieder den Kopf über die Bälle bekam, sich die Brille zurück auf die Nase setzte und grimmig genau in das Fenster starrte, aus dem die vier Freunde sich immer noch vollkommen verdutzt herauslehnten. Das Mädchen hielt einen Ball in der Hand, schaute ihn an und schaute zurück zum Fenster. Sie hob den Ball, so dass sie Ball und Fenster gleichzeitig im Blick hatte. 

"Ey! Da ist der Typ!" schrie sie, und zuerst drehten ihre Freunde den Kopf in Richtung Fenster, dann immer mehr der umstehenden Menschen, bis fast die ganze Meute auf dem Platz gebannt das Haus hinauf starrte.

"EYYYY!" rief die Masse und brach in Geschrei aus.

Justus stand am Fenster und wusste nicht, was er tun sollte - welche Geste war denn jetzt angebracht? Das klassische Winken aus dem Handgelenk? Das bei Politikern übliche Verschränken der Hände über dem Kopf bei gleichzeitigem Schütteln der Arme? Der königlich wedelnde Gruß mit nach innen zeigender Handfläche? Die ausgebreiteten Messiasarme? Was nur? Was nur? 
Er hob die linke Faust. 
Es wurde still auf dem Platz und die Menschen glotzten ihn erwartungsvoll an.
Die Sekunden krochen wie gebannt vorbei.

"BAZINGA!" rief Justus.
"BAZINGA!" schrie das Volk.

Willehad packte ihn von hinten, zog ihn vom Fenster weg, von dem er sich aber nicht trennen wollte. Justus stolperte rückwärts zurück in den Wandschrank, wo der Fahrstuhl auf sie wartete, Bismarck sprang hinter ihm her, die anderen folgten und Willehad zog die Schranktür in der Wohnung überm „Taco“ hinter sich zu, haute auf den Knopf in der Kanzel, auf dem sehr unaufgeregt "Erdgeschoss" geschrieben stand, und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.

Es war dunkel.

"Wie gemein von Dir!" sagte Justus in die Dunkelheit, zu Willehad gewandt.
"Glaub’ mir, von dem Gejohle und der Anerkennung und den Groupies wirst Du noch genug haben, wenn unsere Sache erstmal richtig ins Rollen gekommen ist!" sagte Willehad. Die Fünf schwiegen - nur das Geschnüffel von Bismarck war zu hören.

Sie fuhren abwärts, noch einmal an dem kleinen Fenster auf Gehsteighöhe vorbei und kamen kurze Zeit später wieder im geheimen Raum unter dem Sielwall an, in den das Getrampel der aufgedrehten Bürger im Ballparadies über ihnen drang.

Sie verließen den Fahrstuhl und setzten sich wieder an den Tisch.
"Erstmal zweites Frühstück!" sagte Willehad. "Und dann sollten wir mal nach der Armee im Spaßbad gucken. Ich glaube, es ist nicht gut, die alleine zu lassen. Ich denke, wir sollten alle schwimmen gehen!"

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Tag 29 (15.6.2012)

Justus bekommt einen Feind


In einer Straßenbahn saß eine junge Frau, welche sich den Vanillepuddingüberschuss des Vorabends in Mayonnaisegläser abgefüllt hatte, diese nun in der aufsteigenden Hitze leicht schwitzend in der Straßenbahn aß und dabei in die Sonne schaute, daraufhin in ihr Mayonnaiseglas nieste, so dass alles dem Vordermann in die Haare flog. Später heiratete sie ihn, und die beiden waren mit dieser Geschichte der Mittelpunkt jedes Familientreffens.

Eben diese Sonne stieg über Bremen höher in Richtung Zenit und verkürzte nach und nach die Schatten, die über die Stadt fielen. Leider verkürzte sie nicht die Schatten der Vergangenheit, die einigen der Einwohner durch die Köpfe wanderten, und leider war sie auch nicht stark genug, Gardinen von Kellerwohnungen zur Seite zu ziehen. Sie war aber stark genug, um in ihrer unnachahmlichen Art zu sagen: „Mach’ was aus deinem Leben, das ganze Grübeln bringt ja doch nichts!“

Während diese Sonne also, ignorant, wie sie schon immer gewesen war, über den Horizont scharwenzelte, fanden in den Wohnungen der Menschen, die beschlossen hatten, die Sonne zu ignorieren, düstere Dinge statt.

In einer dunklen Wohnung irgendwo in einer der kleinen Seitenstraßen, irgendwo in einem Keller, irgendwo im Viertel saß ein Junge und biss sich aus Hass selbst die Wangen von innen blutig. Ähnlich einem Affen in einem Käfig, der sich selbst aus Hass und Langeweile den Schwanz blutig beisst. 

Das war für den Jungen in der dunklen und eklig verzweifelt-aufgeräumten Wohnung keine Option und das Gebeisse keine neue Reaktion auf die Welt - es war mehr ein Versuch, den Ärger der Welt wegzunagen, bis ein ganz leichter und feiner Blutgeschmack im Mund entstand, der ihn an etwas erinnerte. 

Der ihn zum Beispiel daran erinnerte, dass er diese ganzen Schwuchteln, die diese Welt mittlerweile beherrschten, im Alleingang tot gehauen hätte. Wenn er nur wirklich gewollt hätte.
Denn darum ging es. 

Wer den anderen tothaut, der hat recht, so dachte sich Dennis, der hier alleine vor dem Fernseher saß. Das war aber noch nicht immer seine Einstellung gewesen. In Jugendtagen war Gewalt nichts Evolutionäres gewesen, es war eher ein Spiel mit den Opfern gewesen. Ein Spiel, in dem er die Regeln machte. Werden Regeln doch meistens von den Schwächeren gemacht, war dies hier eine Allmacht: Opfer in gewisse Rollen bringen, um dann zu wissen, wie sie sich als Nächstes verhalten würden, um ihnen dann einen Schritt voraus zu sein. Wie Fliegen, die immer wieder versuchen, durch eine Fensterscheibe in die Freiheit zu gelangen, bis man sie genervt totschlägt. 
Was war das für Dennis für ein Spaß gewesen - aber die Zeiten waren vorbei! 

Dennis ging es nur noch um nackte Macht. Das war das Einzige, was ihn noch irgendwie anturnte. 
Nichts sonst mehr! 
Sexuelle Macht hatte ihm ein paar Jahre geholfen, ihn von seinem wirklichen Verlangen abzuhalten, aber - tatsächlich: Auch das hatte ihm nicht mehr gereicht. Er brauchte eine andere Macht. Macht über andere Männer. Macht über seinesgleichen! 

Er dachte an Männer, ignorierte die zwischenzeitlichen Erektionen, die mit seiner Machtsehnsucht einhergingen, und wäre überhaupt nicht darauf gekommen, dass Macht über seinesgleichen Macht über Arschlöcher bedeutete. 
Eine Armee von Arschlöchern. Das wäre nicht ganz ungefährlich gewesen!

Dennis saß vor seiner „PlayStation 2“ und machte die Welt dafür verantwortlich, dass es für ihn nie zu einer „PlayStation 3“ gereicht hatte. Ein klarer Beweis, dass die Welt dumm war und von linken Schwuchteln und Juden regiert wurde. Keiner in der Welt machte sich gerade!

Nach dem Grundwehrdienst war ihm klar geworden, dass Kameradschaft das Einzige war, was im Leben eines Mannes zählte. Doch nachdem man ihm wegen psychischer Probleme eine Verpflichtung beim Bund verwehrt hatte, war ihm auch klar geworden, dass sogar schon die deutsche Armee von Schwuchteln und Schlampen unterwandert war. 

„PlayStation 2“ - jetzt saß er da im Kellerloch und musste das alte „Fifa 2009“ spielen, während die Vaterlandsverräter und Kanaken sich mit deutschem Geld einen volksfeindlichen Lenz machten. Widerlich! Das war früher einmal anders gewesen. Früher in seinem Leben war noch klar gewesen, was man zu tun und zu lassen hatte, um wie ein Mann dazustehen, um von seiner Herde respektiert zu werden - vielleicht sogar gefürchtet zu werden. 

Beim Mannsein ging es nun mal um Stärke, um Werte, aber nachdem das, was er in seiner eigenen Vergangenheit gelernt hatte, nicht mehr funktionierte, war es still um ihn geworden. Da hatten sich die Freunde abgewandt. 

Dennis konnte nicht hinnehmen, dass Frauen bei seinen Freunden plötzlich höher im Kurs standen als die Kumpels. Dass seine Freunde plötzlich ruhiger geworden waren als früher. Das sie nicht mehr jedem, der krumm guckte, auf die Fresse schlagen wollten. Dass sie plötzlich mit anderen Typen herumhingen und ihn nicht immer dabei haben wollten. 
Langsam bröckelte alles. Und Stärke und gewaltsame Macht waren nichts mehr, das ihn für Schwächere anziehend machte. 

Nur noch er selbst war stolz darauf, sich zu kennen. Keiner scherte sich mehr darum, wenn gesagt wurde: "Ich hol’ Dennis". 

Sein Name verblasste erst auf dem Schulhof, dann auf der Straße und am Schluss auch bei seinen Freunden. Und alles das schon mit Anfang Zwanzig! 

Da saß er in seiner kleinen Bude im Souterrain, in das selten Tageslicht brach - war die Nacht wach geblieben, hatte Bier getrunken, gewichst und „Fifa 09“ gespielt, das er mehr hasste als alles auf der Welt, weil er es auf Profi-Schwierigkeit durchgespielt hatte und nun gerne stolz sein wollte, aber es nicht schaffte, irgendwie auf sich selber stolz zu sein. 

Was blieb, war nur sein Land, sonst nichts. Er hatte die Deutschland-Fahne aus seinem kleinen Kellerfenster gehängt, nicht nur zur Europameisterschaft, auch weil er fand, dass es als Deutscher lächerlich war, Europameister zu werden, wo dem „Deutschen Volke“ doch die Welt und nicht nur das kleine lächerliche Europa zu Füssen liegen sollte!

In Gedanken versunken saß er da und drückte mit siffigen Augen an der Aufstellung seiner deutschen Computer-Fussball-Nationalmannschaft herum, schaffte es aber nicht, seine Mannschaft nur aus Ariern bestehen zu lassen, und wusste auch nicht mehr, was er jetzt noch tun sollte.

Es wurde still im Raum, er schaute an die Wand, schaute auf sein altes Gammel-Handy, das auf dem hässlich gekachelten Couchtisch vor dem speckigen Ledersofa lag und ewig nicht mehr aufgeleuchtet hatte. 

Dann glotzte er ziellos gegen die Wand.

Irgendetwas musste sich ändern. Alles, was ihm einfiel, war: Bier - was denn sonst. Er wuchtete seinen angespeckten Körper auf die dürren Beine. 

Da knallte ein Ball gegen die Scheibe, so dass er sich erschrak und direkt wieder auf die Couch plumpste. Was war das denn gewesen? Er stand auf und ging die drei Schritte hinüber zu seinem Fenster, zog die Vorhänge zur Seite und sah einen Kopf rollen, hin und her in der Betonwanne, die vor seinem Fenster in den Bürgersteig eingelassen war.

Die Fensterscheibe kühlte seine Nase, welche mitten aus seinem roten Gesicht ragte, als er - wie immer -, das Gesicht wie ein wildes Tier nach vorne gestreckt, zum Ball hinausglotzte. 

Seine Nerven begannen zu vibrieren.

Die Fresse, die da durch seinen Vorgarten kullerte, kannte er doch. In diese Fresse hat er doch nicht nur einmal hineingeschlagen und sich dann nur von seinen Freunden abhalten lassen, noch einmal hineinzutreten, als der echte Kopf von diesem Jungen in Freistossposition vor ihm lag!

Justus!

"Die kleine Schwuchtel!" schrie er.

Da war er wieder, der alte Hass, der gute alte Hass. Der Hass, der nicht gegen die ganze Welt gerichtet war. Nicht diese Art von Hass, bei dem auch der dümmste Mensch merkte, dass er eigentlich sich selber galt. Nicht der verwaschen leuchtende Hass, der die ganze Welt in Schatten warf. Nein, dieses war der andere Hass, der gute alte Hass, gebündelt wie ein Laserstrahl, unaufhaltsam und zielgerichtet, geradeaus und durch nichts abzulenken!

Da war sie wieder, diese kleine Fotze: Justus! Der blöde Wichser vom Schulhof. Das hässliche Arschloch, das da immer stand, kicherte und einfach nur ein paar an die Fresse verdient hatte!

Da verspürte Dennis eine Idee, Justus endgültig fertig machen. 
Für immer. Dem zu zeigen, wer das Leben verdient hatte. 
Er - Dennis, nicht Justus!

Aber, shit! Das ging ja nicht mehr wie früher. Er brauchte einen Plan! 
"Beruhige dich, Dennis!" dachte er sich, wenn das noch Denken war. Mehr war es so, als hätte dieser Hass sich selbstständig gemacht, so, als wäre der alte Hass aus seiner Jugend wieder auferstanden, wäre auf seine linke Schulter geklettert und würde ihm nun ins Ohr flüstern, was zu tun war.

Er setzte sich vor seinen Computer und gab Justus’ ganzen Namen ein. Die Suchergebnisse ploppten auf. Dennis klickte auf den ersten Treffer. Eine Seite öffnete sich. Da grinste ihn schon Justus’ Fresse an. Dennis jauchzte fast vor Freude über seinen Hass! 

Das war der Moment! Die Befehle, die er das letzte Mal bei der Armee gehört hatte, die Ansagen des Feldwebels, denen unbedingt Folge zu leisten war, waren wieder in seinem Kopf. Der Ton, der Gefolgschaft im Namen einer größeren Sache einforderte.
Ganz ruhig! Er klickte auf den ersten Punkt der Seite, genannt Lebenslauf.

Dort stand geschrieben:

„Liebe Besucher und Freunde!“

"Er nennt mich einen Freund! Den ficke ich!" dachte sich Dennis.

Er las weiter: „Mein gesamtes Leben hier aufzuschreiben, würde wohl ein wenig weit gehen - lasst uns die ersten Jahre einfach so zusammenfassen:
Ich wuchs relativ schnell im Bremer Stadtteil Tenever auf: Eine Kindheit und Jugend, die nicht ganz ohne die Übergriffe jugendlicher Gewalttätern auskam. Aber vergessen wir das.“

"Das nächste Mal wirst du nicht vergessen - das wirst du nicht vergessen können!" dachte sich Dennis schreiend in seinem Kopf.

„Also, vergessen wir die unrühmliche Kindheit und Jugend. Lasst mich nur die letzten Jahre zusammenfassen:

Ich war: Bootsmann auf der ‚Hallöver’-Fähre zu Bremen. Es folgte der Diebstahl der ‚Hallöver’-Fähre zu Bremen, dann Bootsverfolgungsjagd nach Bremerhafen. Flucht. Ich wurde Skipper auf einem Frachtschiff auf der Route Bremerhaven-Südengland. 
Dann Pferdedieb in Südengland. 
Dann Cowboy in England, machte Pferdeüberführungen von England nach Irland. Wurde Matrose auf einem Schweröltanker auf der Route Irland – Island, dann illegaler Preisboxer auf Island. Darauf war ich Ein-Sternekoch auf einer überaus geizig organisierten Nordpol-Expedition. 
Ich wurde Hubschrauber-Copilot auf der Linie Nordpol-Kanada. Im Norden Kanadas machte ich dokumentarische Recherche zu Thema: ‚Moderner Iglubau der Inuit im Nordwesten Kanadas’ -  eine Recherche inklusive Wohnrecht. Danach wurde ich Goldschürfer, Preisboxer und Wettkampftrinker in Kanada-Mitte. Dann Hypochonder. Ich ließ mich durch die deutsche Sozialkrankenkasse - unter Mithilfe einer vormaligen Affäre mit meiner Sozialkrankenkassensachbearbeiterin - von Kanada nach Florida, USA, auf Kururlaub schicken. 
Ich war schlechtbezahlter Playboy im US-amerikanischen Seniorenparadies Florida und wurde Nebendarsteller in der Rolle des Copiloten in der deutschen Lowbudget-Softerotikkomödienproduktion ‚Arschbus 320 - Mayday über Amiland’.
Es folgte Diebstahl des Flugzeugs und Absturz über Mexiko. 
Wieder illegaler Preisboxer, diesmal in illegalen mexikanischen Indianerreservaten. 
Es folgte meine Hochzeit mit der Häuptlingstochter.
Ich wurde Anführer mexikanischer Indianersplitterpartei-Guerillas
und Autor des Bestsellers ‚Der weiße Apache’ und des Diktatoren-Standardwerks ‚Ausbeutung und Niederschlagung mexikanischer Indianersplitterpartei-Guerillas’.
Dann Religionsgründer: ‚Freie Gesellschaft zur Vernichtung mexikanischer Indianersplitterpartei-Guerillas’ und Anführer selbiger Selbstmordbewegung. Ich war Gefängnisinsasse in Panama, dann Gefängniswärter in Panama, dann Gefängnisdirektor in Panama, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein und schließlich: Präsident von Panama! 

Ich war Initiator der Zerstörung und Zuschüttung des Panamakanals.

Ich wurde Freibeuter am ‚Kap der guten Hoffnung’ zwischen Südafrika und Feuerland auf der ehemaligen Panamakanalroute.
Abenteuer, Abenteuer, Abenteuer - Schatz gefunden, Schatz verloren, keinen Bock mehr gehabt, zurück nach Bremen gekommen. Wir haben wenigstens Straßenbahnen!’“

Dennis schnaufte durch. "Bald. BALD ficke ich dich!" flüsterte er bitter in sich hinein.

"Blablabla, wir haben wenigstens Straßenbahnen!" beendete Justus seinen Satz und gab damit die Antwort auf Emmas Frage, was er denn so die letzten Jahre getrieben hätte, während sie beim zweiten Frühstück saßen und den nächsten Kaffee tranken. 

"Menschen, die Kaffee trinken, senken die Wahrscheinlichkeit, sich selber umzubringen, um bis zu 30 Prozent!" hatte Willehad gesagt und ordentlich Kaffee nachgegossen. 

Justus, Steffi, Maik und Emma saßen wieder an dem gemütlichen Tisch in der Bibliothek des „Clubs der Spinner“ und plauderten ein bisschen vor sich hin, bis Maik sich ein letztes großes Glas „Cola“ eingegossen, es hinuntergestürzt und mit einem lauten kohlensäurebedingten "AHHH" das zweite Frühstück offiziell für beendet erklärt hatte.

"Gut!" beschloss Willehad. "Dann würde ich vorschlagen, wir machen uns auf den Weg ins Schwimmbad!"

"Und was genau machen wir da?" fragte Emma nach. 
"Ach so, ja, okay - noch mal kurz zusammenfassen!“ erinnerte sich Willehad selber. "Also: Wir gehen jetzt runter ins Schwimmbad - die anderen müssten langsam mit dem zweiten Frühstück fertig sein. Dann setzen wir uns in die Kanus und greifen die Schlachte an!"

"Ernsthaft? Ich dachte das wäre ein Scherz!“ warf Steffi ein. 

"Na, ich spreche mir zwar einiges an Humor zu, aber die Sache mit dem Museumsraub, der inszenierten Nazi-Demo und das ganze Holladrio drum herum wäre als Scherz dann doch wohl ein wenig zu ausufernd!"

"Aber wir brauchen doch einen Plan, einen Schlachtplan!" sagte Maik. "Wir können doch nicht einfach so einen Teil der Stadt angreifen und besetzen! Was ist mit der Polizei und so weiter?"

"Die Polizei ist nicht so ein großes Problem, wie alle immer denken. Die spalten sich ziemlich schnell auf - das ist nicht mehr so wie bei den Soldaten - die glauben ja meist noch an ihre bescheuerten Befehle. Das ist bei der Polizei mittlerweile ein bisschen anders. Wenn man da ein bisschen Geld ins Spiel bringt und dann noch ein oder zwei Leute hat, die ein bisschen Zwietracht sähen, dann sind die ganz schnell nur noch mit sich selbst beschäftigt."

"Und der ‚Club der Spinner’ hat Geld?" fragte Steffi mit großen Augen. "Woher das denn eigentlich?"

"Wir sind hier immerhin in Bremen!" antwortete Willehad. "Man vergisst das ja schnell, aber eigentlich sind fast alle Auswanderer aus Europa damals über Bremerhafen nach Amerika gegangen. Das hatte der ‚Club’ damals ganz gut gemacht. 

Die ‚Spinner’ hatten ziemlich schnell erkannt, dass es da was zu holen gäbe - nicht finanziell, aber was Kontakte angeht. Wir, das heißt, unsere Vorgänger im Club, hatten aus alten Hansezeiten einen ganze Menge Geld an die Seite geschafft, und mit dem Geld haben sie dann im Bremerhavener Hafen Kneipen und Hotels eröffnet, in denen die Aussiedler umsonst schlafen, essen und trinken konnten. Egal, welche Nationalität, welche Religion, welches Geschlecht, Alter oder politische Richtung. Ihr wisst, was ich meine!

Als es in Amerika für die Aussiedler dann anfing, gut zu laufen, haben sie uns zum Glück nicht vergessen. Irgendwann sind die Menschen von damals dann in den noch nicht vereinigten Staaten einer Bewegung namens ‚Freimaurer’ beigetreten - das ist bis heute ein guter Kontakt, eine Bruder- und Schwesternschaft, will ich fast sagen. Und die haben Geld, glaubt mir das, die haben Geld!"

"Okay?" fragte Justus zweifelnd, aber eigentlich machte das Sinn.
"Hattet ihr auch die Nazi-Demo vor dem Überseemuseum organisiert?" 

"Ja, für irgendwas müssen die Arschlöcher ja gut sein!" antwortete Willehad und erhob sich. "Macht euch keine Sorgen. Wird schon, und wenn nicht, dann wird es wenigstens lustig. Da drüben liegen Rucksäcke. Darin sind einige nützliche Dinge und Brötchen für das Mittagessen. Und Schwimmzeug. Gute Laune haben wir ja, also los!"

Willehad ging in Richtung der Stahltür im Rund der Bibliothek, tippte einen Code ein, und hörbar entriegelte sich das Schloss. Er zog die Tür auf, die vier Freunde schnappten sich die Rucksäcke und schlüpften in den Gang hinein.

Ein bisschen ein Kribbeln machte sich breit. Justus freute sich darüber, dass sein Leben diese Wendung nahm. Das endlich mal was passierte! Das veränderte ihn. Es linderte die Angst, die er seit Jugendtagen mit sich herumschleppte. Seine Jugend, das waren Tage des Stillstands, Tage der Angst gewesen. 

Taub war er vor Angst gewesen, hatte in seinem Zimmer gesessen und sich vorgestellt, was da draußen auf der Strasse oder auf dem Schulhof mit ihm passieren konnte. Nachgedenke ohne Schranken, blutige Fantasien davon, dass sein Feind – Dennis, wenn er sich recht erinnerte - nicht nur ein Teenagerschläger war, sondern ein blutdurstiger, ernsthaft verrückter Junge, der keine Grenzen kannte, sein Leben lang Kleinstlebewesen zu Tode gequält hatte und dies nun mit ihm fortsetzen wollte. 

Die Auseinandersetzung mit Dennis konnte nur mit dem Tod enden. Da war sich Justus ganz, ganz sicher! Totenstarre sicher! Das würde kein gutes Ende nehmen, Dennis würde ihm die Lichter ausblasen und dann als Bürgermeister einer wahnsinnigen Proll-Diktatur ins Rathaus einziehen und alle Opfer für immer versklaven und in Arbeitslager stecken, wo sie den ganzen Tag unter unmenschlichen Bedingungen „Levis-501“-Hosen und „Helly-Hansen“-Jacken nähen mussten und bei der tödlich giftigen Herstellung von Kokos-Haarwachs ihr jämmerliches Leben aushauchten.

Justus ging neben Willehad den Gang zum Schwimmbad entlang, welcher im Dämmerlicht vor ihnen lag. Alles ein Wahnsinn, ein geiler Wahnsinn!

"Und das hier ist echt alles kein Witz?" fragte Justus, an Willehad gewandt.

"Ein Witz ist es, sich einen Papageien zu kaufen und ihm den Satz beizubringen: ‚Hilfe, ich wurde in einen Papageien verwandelt!’
Ein Witz ist es, in einen Laden zu rennen, außer Atem zu fragen: ‚Welches Jahr ist es?’, und dann, wenn der Verkäufer sagt: ‚Das Jahr 2012!’, ihn mit großen Augen anzustarren und laut zu rufen: ‚Es hat funktioniert! Die Maschine funktioniert!’ Aber wir, Justus, wir sind in einem göttlichen Auftrag unterwegs. Und das, mein lieber Justus, ist trotz aller Beweise, dass Gott ein lustiges Kerlchen ist, mit Sicherheit kein Witz!“

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Tag 30 (21.6.2012)


Davon abgesehen, dass sich Gummibänder im Kühlschrank länger halten, Erdnüsse ein Hauptbestandteil von Dynamit sind, dass es 263 Arten gibt, einen Dollar zu wechseln, es mehr Hühner als Menschen auf der Welt gibt und dass das Ei eines Straußes größer ist als sein Auge, hatte sich in den letzten fünf Minuten nicht viel getan.
So taperten die vier Freunde, gesättigt vom reichhaltigen und
nahrhaften zweiten Frühstück, den Bauch voll feinster Cerealien, den gleichen Gang zurück, durch den sie am gestrigen Abend die Bibliothek der „Spinner“ betreten hatten. Sie gingen zurück in Richtung Schwimmbad.
Willehad ging wie gehabt voran, Justus neben ihm, und eigentlich wollte Justus ihm tausend Fragen stellen, aber ihm fiel nichts ein.
Es war ein Gefühl, wie man es manchmal hat, wenn man sich in
einem Streit befunden hatte und einem die gute Antwort erst
Stunden später einfiel.
Sollte Justus nun zum fünften Mal fragen, was das hier alles sollte, was der Plan war, was es mit diesem „Club der Spinner“ auf sich hatte? Sollte er noch einmal versuchen, aus Willehad herauszubekommen, warum er und Maik und Steffi und Emma angeblich dazu ausersehen waren, eine Armee anzuführen, obwohl ihnen jegliche Qualifikation dazu fehlte? Oder sollte er noch einmal nachhaken, wieso um alles in der Welt es eine gute Idee sein sollte, die Bremer Tourismusmeile mit Kanus anzugreifen?
Ihm fiel nichts ein, und schlimm war das Gefühl, das ihm, sobald er Willehad nicht mehr fragen konnte, mit Sicherheit hunderttausend Dinge einfallen würden. Eben genau so, wie nach einem Streit, wenn einem in den Stunden, Tagen, ja teilweise Jahren die einhundert Prozent passende Antwort einfällt, aber dann niemand mehr da ist, den diese Antwort interessieren würde. Und wer ruft schon zwei Jahre nach einem Streit den Streitpartner an und sagt folgendes: "Selber!" - lacht dann dämonisch und legt auf?
Justus schaute sich um, und sah seine drei Freunde hinter sich
laufen, die auch alle ein bisschen seltsam aus der Wäsche guckten, so wie man halt aus der Wäsche guckt, wenn man weiß, dass etwas passiert, auf das man schon Lust hat, dessen Sinn man aber nicht wirklich versteht.
"Alles klar?" fragte er nach hinten.
"Ja!" klang es von hinten aus Steffis Mund leise an sein Ohr.
"Ja!" wiederholte Maik mit leiser Stimme in grübelndem Ton.
"Nein!" hörte er von Emma
"Na dann ist ja gut, hier ist auch alles in Odnung!" entgegnete er.
"Ich habe ‚Nein!’ gesagt!" wiederholte Emma.
Justus blieb stehen und wandte sich um.
"Wie – nein?" fragte er Emma und blickte ihr in die Augen.
"Ich habe Zweifel!" sagte sie in einem für sie ungewohnt besorgten Tonfall. "Ich weiß nicht, ob wir das Richtige tun."
"Nee, wissen tue ich das auch nicht!" antwortete Justus. "Aber hast Du was anderes vor? Wir kennen uns im Moment nicht so gut aus, aber trotzdem, man hat ja nicht oft die Möglichkeit an etwas großem teilzunehmen, und auch wenn man es nicht versteht, ist es doch besser, als jetzt rumzuhängen, ausgiebig zu frühstücken und dann zu machen was man will!"
"Ja, Du hast ja recht, aber trotzdem - ich weiß auch nicht!" sagte Emma und musste daran denken, dass sie ja tatsächlich gerade eigentlich rumgehangen, ausgiebig gefrühstückt hatten und jetzt machten, worauf sie Bock hatten.
Was für eine hinterhältige Taktik von Willehad!
Brot und Spiele.
Aber gegen das Frühstück konnte man nichts sagen, und -
tatsächlich, dachte sie sich, tatsächlich machte sie ja gerade
eigentlich genau das, was sie sonst in ihrem bohèmeartigen Leben sonst auch tat. Nur auf höherem Niveau! Anstatt jetzt in ein Schwimmbad mit tausenden rumhängenden Nerds zu gehen, und mit ihnen zusammen einen großen Quatsch zu machen, hätte sie sonst wohl drei Stunden vor dem Internet rumgehangen und ihren Kopf mit sinnlosen Informationen vollgestopft, Informationen, die darauf warteten, im echten Leben benutzt zu werden. Nur, dass es erfahrungsgemäß niemals dazu kam!
All diese alltäglichen Informationen um Weltpolitik,
Prominentenklatsch und neue, absurde, populistische,
wissenschaftliche Erkenntnisse, fanden sowieso nie eine
Anwendung in ihrem – Emmas - normalen Alltagsleben.
Allein schon deshalb, weil ihr die Kommunikation mit den
Menschen, mit denen sie sich überhaupt abgab, zu wertvoll war, um sie mit derlei Schwachsinn zu belasten, und natürlich auch, weil sie nicht auffliegen wollte als jemand, der sich mit oberflächlicher Weltpolitik, Prominentenklatsch und populistischen, neuen, absurden wissenschaftlichen Erkenntnissen auskannte.
Vor dem Internet herumhängen, das war ein wenig, wie in der
Schule, in der sie sich auch immer gefragt hatte, wozu sie das denn alles lernte und sich sicher war, dass sie es ja doch nie wieder brauchen würde. Manchmal machte es sie verrückt, wie viele Informationen sich da oben in ihrem Kopf angestaut haben
mussten. Und mal genau betrachtet, füllte sie ihren Kopf tatsächlich immer weiter mit Quatsch, den sie - objektiv betrachtet - nie wieder brauchen würde.
Tatsächlich war das aus Langeweile angesammelte Wissen um
„Brangelina“ und irgendwelche anderen vollkommen unwichtigen Prominenten genauso überflüssig wie alles in der Schule. Nur dass dieses Wissen nicht im Geringsten dazu diente, die Welt irgendwie besser zu verstehen, oder Emmas Fähigkeit erhöhte, Dinge besser einordnen und in Verbindung setzen zu können. So viel Quark in der Birne! Und manchmal machte sie sich Sorgen, dass ihr Gehirn irgendwann einmal voll sein könnte, und dass jede neue Information die sie hineinsteckte, eine andere einfach raus schmeissen
könnte.
Das war ja das Verrückte: Eigentlich hatte sie mal alle Länder mit ihren Hauptstädten in der achten Klasse gelernt. Das steckte noch irgendwo da drin im Kopf, war nur überlagert von einer Schleimschicht aus Trivialwissen und schwachsinnigen Interessen, die sie nur noch mehr durcheinanderbrachten, anstatt ihr Klarheit zu verschaffen.
Manchmal saß sie in ihrem gemütlichen Hängesessel, las
ein bisschen Goethe oder Hegel oder Kant und hatte
immer mal wieder das Gefühl, mit deren Hilfe die Welt ein bisschen besser zu verstehen. Aber manchmal, wenn sie so ein Werk fertig gelesen hatte, bemerkte sie, dass die einzige Hilfe, welche sie aus diesen Büchern mitgenommen hatte, das Wissen war, dass sie jetzt nicht mehr mit Menschen zu tun haben musste, die nicht Goethe, Hegel oder Kant gelesen hatten.
Das war eigentlich kein Unterschied zu jemandem, der in einen Teil der Stadt zog, wo die Mieten so hoch waren, dass er keinerlei Kontakt mehr zum niederen, armen Volk haben musste.
Aber wie sollte man denn nahe am Volk bleiben und nicht
überheblich werden? Sie ließ sich ja gerne mal von den
Privatsendern mit irgendeinem Quatsch über einsame, asoziale
Männer auf Brautschau oder den „brutalsten Flugzeugabstürzen der Welt" berieseln - aber das machte sie auch zu keinem Mitglied des Proletariats. Wenn sie sich diese Dinge anschaute, erwischte sie sich dabei, wie sich ihre Meinung verfestigte, besser als dieses Pack zu sein.
Also - wenn man es genau betrachtete, betrieb sie diesen gesamten Kulturkonsum nur zu Abgrenzungszwecken und um sich besonders und besser zu fühlen. Und das half ihr mit Sicherheit nicht dabei weiter, ihren Frieden mit der Welt zu machen.
Da mussten schon Taten her, oder, besser gesagt, die Möglichkeit, etwas zu machen und keine Chance zu haben, darüber nachzudenken. Das war wohl die moderne Form davon, was man früher einmal "sich treiben lassen" genannt hatte.
Und wenn sie jetzt einmal nachdachte, dann war das hier, diese Aktion mit Justus und Maik und Steffi, vielleicht genau dieser Moment, der ihr Leben zum ersten mal seit langer Zeit wirklich bereichern würde, solange sie nur den Quark in ihrem Kopf Quark sein ließ und einfach möglichst lange zu allem ja sagte und mitmachte.
"Ey!" sagte Justus ein bisschen zu nah an ihrem Gesicht, und Emma schreckte aus ihren Träumen auf.
"Ja. Nee. Ist gut. Alles klar! Laß uns zu den ‚Spinnern’ gehen!" sagte sie.
"Alles klar?" fragte Justus.
"Ja, alles klar, läuft. Ich hab Bock, laß uns nicht weiter
Nachdenken!" sagte Emma.
"DAS ist der Geist, DAS will ich hören!" lachte Willehad von vorne und drehte sich im Laufen kurz um. "Macht euch keine Sorgen. Ihr wisst doch: Aus dem Nichts zurück ins Nichts!"
"Wie? Aus dem Nichts zurück ins Nichts, das kapier ich nicht!"
mischte sich Steffi ein.
"Na, ist doch so: Am Anfang hattest Du nichts, und am Ende wirst Du auch nichts haben. Wenn Du jetzt Angst hast, hast Du nur Angst, irgendetwas zu verlieren. Aber wenn Du es verlierst, dann bist Du nur wieder am Anfang. Wie damals, als Du aus deiner Mutter geflutscht bist. Klein, neu, unverbraucht und unschuldig!
Jungfräulich eben. Und – jungfräulich - da könnte ich mir vorstellen, das Dir, Steffi, das ganz gut gefallen würde!" sagte Willehad, guckte Steffi an, und Steffi drehte sich erwischt zur Seite und wurde rot.
Die anderen grinsten und wanderten weiter den Gang hinunter.

Im Schwimmbad saß währenddessen die Armee der „Spinner“ und beendete das zweite Frühstück, was eigentlich kein zweites
Frühstück gewesen war, weil das bedeutet hätte, dass das erste Frühstück zuvor ein Ende gefunden haben musste. Doch dem war nicht so gewesen, es wurde einfach und ohne Pause weiter geschlemmt. Es düdelten leise Smooth-Jazz-Remixe alter „Nintendo“- und „DOS“-Spieleklassiker aus den Boxen.
Manch einer der Computer-Einsiedler, der noch nie in
Frankreich gewesen war - und das waren eigentlich alle -, fühlte sich wie in Frankreich, weil sie der Meinung waren, das Franzosen jeden Morgen vier Stunden frühstücken. Es waren die gleichen, die glaubten, dass Franzosen immer „O là là!“ sagten, und so wurde "O là là!" innerhalb von kürzester Zeit ein Running Gag, so wie ein sogenanntes „Meme“ im Internet - nur hier im echten Leben. Ein nerviger Sinn für Witz erfüllte langsam den Raum. "O là là!" sagten alle. 
Wenn die nicht demnächst etwas zu tun bekamen, würde es bald
unerträglich werden!

Oben auf dem gläsernen Rundlauf, welcher des geheime
Spaßbad unter den Osterdeichwiesen umspannte, öffnete sich
eine Tür und Willehad kam, mit den vier Freunden im Schlepptau, heraus. Sie liefen ein Stück den Rundlauf entlang, bis sie zu einem kleinen Podest kamen, welches auf einem kurzen, gläsernen Vorsprung in den Raum ragte. Darauf stand ein Rednerpult und aus irgendeinem - wahrscheinlich Willehads - eigentümlichen Geschmack geschuldeten Grund, stand darauf eines dieser silbernen Elvis-Presley-Metallmikrofone.
Willehad wandte sich zu Maik um.
"Okay, sag ihnen Bescheid, dass wir los wollen!"
"Was soll ich denen sagen?" fragte Maik
"Na, dass wir loswollen: Kanus paddeln, Schlachte angreifen, diese ganzen Sachen!" sagte Willehad.
"Hä?" machte Maik.
"Maik!" bekam er zur Antwort. "Ich weiß sehr wohl, dass Du Dich gerne dumm stellst, und ich weiß selber ganz genau, dass Sichdummstellen oft das Klügste ist, was man tun kann. Nicht nur dass es klug ist, es erspart einem auch eine Menge Arbeit. Trotzdem: Das ist jetzt nicht die Zeit, um sich hinter sich selbst zu verstecken. Das geht jetzt leider nicht mehr. Du wirst dich da jetzt hinstellen und denen sagen, was Sache ist. Du bist einer von ihnen, Dich werden sie respektieren. Also. Da hinten liegen die Klamotten aus dem Museum - sowohl die Kleider als auch die Kanus als auch die Speere. Klamotten an, Speere in die Hand, ab in die Boote und dann Richtung Innenstadt!"
"Hä?" machte Maik noch einmal im Versuch, aufgrund seiner
Dummheit doch noch um diese Aufgabe herum zu kommen.
Aber Willehad schubste ihn ein Stück, und Maik fand sich hinter dem Mikrofon wieder, welches ein Fiepen durch den Raum schoss.
Er klopfte mit dem Finger auf den Stahlkäfig des Mikrofons.
Langsam bewegte er den Mund zur Membran und räusperte sich.
"Also!" begann er. Unsicherheit durchfuhr seinen Körper. Alles was er sich gestern Nacht noch ausgedacht hatte: Schlachtpläne, Ansprachen und Motivationen waren wie weggeblasen! Er räusperte sich, dabei hatte er sich seit Jahren nicht geräuspert! Was ist ein Mittel bei Aufregung? Das Alphabet rückwärts hersagen. Also sprach er im Geist „zyxwvutsrqponmlkjihgfedcba“.
Dann begann er seine Rede.
"Hallo. Ich bin Maik!" sagte er in einem jugendlichen Tonfall, der
wenig davon verriet, was er zu sagen hatte. "Ähem, ja, also, ich bin Maik!" Die Köpfe der tausend Leute im Schwimmbad drehten sich zu ihm nach oben.
"Hallo Maik!" riefen einige im Chor, es klang ein wenig wie in einer Selbsthilfegruppe.
"Also - wir kennen uns ja schon von der ‚LAN-Party’ und dem Museum gestern, und ein paar von Euch kennen einander ja auch schon länger vom Raiden. Also - bestimmt wundert Ihr Euch, was das hier werden soll und warum ihr hier seid. Das mit der Armee habt ihr ja wahrscheinlich schon mitbekommen, und Justus, der hier hinter mir steht, hatte Euch ja schon einiges von dem erzählt, was wir vorhaben und so weiter. Die Idee war ja, alle diese Kanus zu klauen und dann
an der Schlachte die dort liegenden Schiffe anzugreifen. Und ohne großes Gelaber würde ich jetzt vorschlagen, dass wir uns in die Kanus schmeissen und da rüber fahren!"
Die Menge schaute zu ihm herauf und einige trugen schon die
seltsamen Kostüme, welche sie gestern aus dem Museum
entwendet hatten. Sie hatten sich den antiken Goldschmuck
umgehängt und hätten einzeln sicher ziemlich seltsam gewirkt, waren in dieser schieren Menge aber in einer Art und Weise absurd, dass sie fast etwas Grauenhaftes an sich hatten! Sie standen aber immer noch reglos im Raum, sie hatten etwas von Hunden, die mit wedelndem Schwanz darauf warteten, ja fast bettelten, dass jemand den Stock warf.
Jetzt trat Emma neben Maik an das Mikrofon. Die Leute schauten immer noch nach oben. Sie begann zu sprechen:
"Ihr Spinner!" eröffnete sie. "Ihr steht da herum. Und es passt ja
perfekt, dass Ihr in einem Spaßbad seid. Was denn sonst? Das
ganze Leben ist ja ein verdammtes Spaßbad. Für immer Spaßbad, könnte man sagen! Es geht ein Gespenst um in Europa, ein Gespenst namens Spaßbad! Seht uns doch mal an: Eine Nacht lang kriegen wir mal wieder eine Wurst an einem Stock vor den Kopf gebunden, und schon fangen wir an, im Kreis der Wurst hinterher zu rennen. Und da ist schon ein ganzer Blumenstrauß aus Würsten an unseren Kopf gebunden. Ein Hut wie der Hut der Königin von England, nur aus Wurst und nicht aus Juwelen, und er sitzt uns so fest auf dem Kopf, das wir ihn gar nicht mehr runter bekommen. Unser Körper ist förmlich in diesen Wurst-Hut hineingewachsen, und egal, was wir tun wollen, egal was wir sehen - die Wurst, die wir wollen, hängt immer ein Stück in unserem Blickfeld, und egal was wir sehen, egal was uns nicht gefällt oder was wir vielleicht verändern wollen – es tritt immer an die zweite Stelle, sobald auch nur ein kleines Stückchen Wurst in unserem Blickfeld auftaucht.
Alles ist vergessen! Vergesst Euer Scheißleben, Euer Leben,
unser Leben, das nur noch aus Ablenkung besteht. Ablenkende
Beschäftigungen. Kurzweiliges. Das ganze Leben besteht nur noch aus Belohnungen für nichts. Wir werden bezahlt mit Spaß. Wir bezahlen uns selber für Spaß. Aber für was bezahlen wir denn da?
Wie bezahlen wir denn den Spaß, den wir haben?
Doch damit, dass wir nur noch kleinen Spaß, kleine Freuden haben!
Der große Spaß, das Glück, bleibt uns vorenthalten, weil wir
zuwenig bezahlt haben, ja - weil wir mittlerweile überhaupt nicht
mehr bereit sind, etwas von uns selbst zu investieren! Weil wir uns nichts mehr trauen.
Wir kennen kein Glück mehr. Wir kennen nur noch Spaß. Glück ist etwas Großes, etwas Allmächtiges, etwas, das Zeit und Arbeit und Anstrengung braucht. Etwas, das lange dauert. Und wer hat noch den Nerv für etwas Großes? Wer hat die Aufmerksamkeitsspanne, so lange an etwas zu arbeiten, bis es wirklich gut ist?
Keiner! Keiner von uns hier. Und es gibt nur ein Gegenmittel: Mut!
Sonst nichts. Mut ist keine Reaktion, keine Antwort. Mut ist eine
Ansage. Mut ist eine Art zu leben. Mut muss keinen Zweck haben. Mut ist ein Gefühl, durch die Welt zu gehen.
Es ist egal, ob Mut sinnvoll oder sinnlos ist. Mut ist es, was es
braucht. Für die Welt und ihre Zukunft. Und vor allen Dingen für uns selber.
Wir stehen hier in diesem Spaßbad.
Da kommt jemand und sagt, wir greifen die Schlachte an. Und ich sage Euch, egal wie Idiotisch das klingt: Jetzt ist die Chance, mutig zu leben. Jetzt. Und vielleicht kommt sie nicht wieder, weil Ihr alleine nicht mutig genug seid. Doch jetzt könnt Ihr es sein!
Gemeinsamer Mut ist der Kindergarten des Mutes!
Also lasst uns mutig sein, lasst uns in diesen Goldschmuck
anlegen, lasst uns in diese Kanus steigen, und dann lasst uns
gegen die Schlachte paddeln, und lasst sie uns nehmen, denn sie gehört uns, wie alles allen gehört. Lasst uns paddeln!" rief Emma und hielt entkräftet inne. Sie schaute nach unten, wo die Menge sie nach wie vor gebannt anstarrte.
Stille.
Sie schaute Justus an. Er näherte sich mit den Lippen dem
Mikrofon.
"BAZINGA!" rief er, und mit einem Schlag herrschte ein geschäftiges Treiben da unten im Schwimmbad.
Die Helden der Armee der „Spinner“ warfen sich die seltsamen Kleider aus dem Museum über, schnappten sich die Boote und die Speere und sprangen in das große Becken am Ende der Halle.
Die vier Freunde liefen die Glasbalustrade entlang - nur Willehad blieb zurück. Sie schauten sich um.
"Was ist?" rief Justus.
"Macht Ihr das mal, ich werde hier noch gebraucht!" sagte er und drückte Justus ein Walkie Talkie mit einem Headset und ein Schlüsselbund mit einem Seemannsknoten als Schlüsselanhänger in die Hand.
"Meldet Euch!" sagte er, machte auf dem Absatz kehrt und lief
zurück zur Tür, aus der sie gekommen waren.
Die Vier schauten Willehad nach und sahen ihn wieselflink in der Tür verschwinden. Sie sahen sich an. Ein Moment verstrich, dann hob Steffi die Schultern und stieß hörbar den Atem aus.
Auch Justus hob die Schultern, atmete aus und ließ sie wieder
fallen. Davon hatte er mal als Übung gegen Aufregung gelesen. Er atmete noch einmal tief ein, hielt die Luft an, atmete aus und sagte in diesem Moment. "Was soll’s?"
Die anderen schauten ihn an.
"Was soll das denn werden?" fragte Maik. "Waldorfschule oder
was?" Justus überlegte kurz.
"Nee, das hab ich mal in einem Männer-Manager-Magazin gelesen. Soll gut für die Entspannung sein, wenn man aufgeregt ist vor dem Skispringen oder einem Gladiatorenkampf oder so!" sagte er.
"Und das hilft?" fragte Maik, zog selber die Schultern zu den Ohren hinauf, ließ sie wieder fallen und grummelte: "Was soll’s?"
Emma schaute ihn an und tat es ihm nach. "Was soll’s!" drang auch aus ihrem Mund, und sie schaute Steffi an, die nun auch noch einmal die Schultern hob und sie wieder fallen ließ. Dann wieder Justus, dann Maik, dann Emma, dann Steffi, Justus, Maik, Emma, Steffi. Sie kamen in einen Rhythmus und sahen aus wie Roboter-Breakdancer aus den Achtzigern, die versuchten, die kleinste „LaOla“ der Welt zu starten.
Das sah natürlich sehr albern aus. Und es war ja auch genauso albern, wie es aussah. Aber gerade da durch war es wahrscheinlich die beste Vorbereitung, die es nur geben konnte.
Dann ebbte die Welle ab, sie drehten sich um und liefen weiter zur Treppe, welche nach unten führte. Sie stiegen hinab und fanden sich nun bei dem großen Haufen Kanus wieder, welcher neben dem größten Schwimmbecken am Ende der Halle lag.
"Was hat Dir Willehad denn überhaupt da gerade in die Hand
gedrückt?" fragte Emma Justus.
"Ein Walkie Talkie und einen Schlüsselbund!" antwortete er.
"Und für was den Schlüsselbund?" fragte sie und sah Justus an, während dieser über das Schwimmbecken schaute und mit
seinem Blick in einer der hinteren Ecken hängen blieb.
"Ich weiß nicht genau, aber ich habe eine Ahnung!" antwortete er.
"Kommt mal mit!“
Justus setzte sich in Bewegung, lief mit den anderen um das Becken herum und sah in der Ecke vier kleine Motorboote liegen, die wie Delfine geformt waren, auf der
Wasseroberfläche dümpelten und tatsächlich wie lächelnde Delfine aussahen, die nur auf ihre menschlichen Herren warteten.
Justus drückte auf die kleine Fernbedienung, welche am
Schlüsselbund hing, und surrend fuhr an jedem der vier
Delfinboote eine Klappe im Rücken auf. Steffi ließ sich als erste
hineingleiten.
"Oh, Delfine!" stieß sie aus. "Ich liebe Delfine!"
Auch die anderen glitten hinein, und knapp, bevor sich Justus’ Delfin als letztes schloss, rief er noch dem „Club der Spinner“ zu, die in ihren Kanus im Schwimmbecken gondelten und sich albern mit Wasser nass spritzten: "Ihr fahrt vor!"
Justus’ Klappe schloss sich, und er griff zum WalkieTalkie.
"Willehad, wir sind startklar!" sagte er.
In diesem Moment begann sich das riesige Tor der Halle zu öffnen, und die vier Freunde sahen zum ersten Mal das kristallklare Wasser der neuen Weser.



Tag 31 (28.6.2012) – Langversion


Strahlend blendete sie das kristallklare Wasser der Weser. Es stach wie feine Stecknadeln in den Augen, und die vier Freunde mussten die Augen so sehr zusammenkneifen, dass sich von ihren Schläfen aus ein Schmerz durch ihre Köpfe zog.
Sie saßen in ihren Booten, die wie Delfine geformt waren und
deren Schnauzen nur knapp über der Wasseroberfläche dümpelten.
Justus schaute über die Armaturen. Er hielt einen Joystick wie an einem Computer oder einem Flugzeugsimulator in der Hand. Als er ihn nach vorne schob, neigte sich die Schnauze des Delfins und tauchte sanft ins Wasser hinab, so dass die Wellen des blauen, lagunenartigen Wassers über ihm zusammenschlugen und der Fluss ihn verschlang.

"Was zum Teufel!" sagte er zu sich, und Emma fragte über den
delfininternen Funk: "Wie hast Du das denn gemacht?".
Anscheinend waren die vier Delfine der Freunde durch Sprechfunk verbunden. Kaum hatte Emma fertig gesprochen, tauchte ihr Delfin blubbernd unter Wasser und schob sich neben Justus. Es machte "Platsch!" und schon tauchten Maik und Steffi neben ihnen herab.
"Ich liebe Delfine!" rief Steffi noch einmal. Maik beschleunigte und beschrieb eine weite Kurve, während der Delfin mit seiner
mechanischen Schwanzflosse wedelte und weiter beschleunigte.
Auch die anderen drückten ihre Steuereinheiten nach vorne und begannen, Fahrt aufzunehmen. Sie beschleunigten nebeneinander her und ihre Boote wedelten tatsächlich wie eine Delfinschule durch die Weser.
Steffi lehnte sich zur Seite und tatsächlich vollführte ihr Delfin eine Seitenrolle, und als Justus sich nach hinten lehnte, schoss sein Gefährt nach oben, durchbrach die Wasseroberfläche, flog in die Höhe, beschrieb einen Bogen und tauchte in einem wunderschönen Winkel wieder ins Wasser ein.
"Emma! Ich finde Dich toll!" rief er vollkommen ansatzlos, aber auch wieder auf seltsame Art und Weise zum Moment passend.
"Ich sage so was nicht oft, aber - tatsächlich: Ich. finde. Dich. toll!" rief er. "Eigentlich geht es mir hier in meinem Delfinboot sogar so gut, dass ich gerne rufen würde: ‘Ich liebe Dich!‘, jedoch glaube ich, dass unsere Beziehung noch nicht an diesem Punkt angelangt ist!"
"Ich finde Dich auch toll!" rief Emma. "Jedoch teile ich Deine
Einschätzung, dass es übertrieben wäre, an diesem Punkt unserer Beziehung bereits ‚Ich liebe Dich!’ zu sagen, denn hier in unseren Delfinbooten ist dies bestimmt nicht der richtige Moment für peinliches Schweigen! Aber auf jeden Fall: Danke!"
"Gerne!" rief Justus, durchdrang mit seinem Delfin abermals die
Wasseroberfläche und vollführte einen waghalsigen Sprung
inklusive Seitenrolle, welche die herrliche Sonne auf der Finne
seines Bootes aufblitzen ließ und die Menschen am Ufer der
Weser für einen Moment blendete.
Während die vier Freunde unter und oberhalb der Wasseroberfläche ihre Spinnereien betrieben, gondelten über, unter und neben ihnen die Einboote und Kanus der „Spinner“ umher.
Die Armee hatte sich nun komplett in die Boote begeben und begann, ungeschickt loszupaddeln. Manche - in den schmalen Einbooten der Amazonas-Völker - kippten um, schluckten Wasser und tauchten gurgelnd wieder auf. Sie wussten zuerst nicht, wo sie waren, kletterten dann aber unbeholfen zurück in ihre Boote und bemühten sich erneut, vom Fleck zu kommen.
Andere, die in Katamaranen oder Einbäumen mit Seitenauslegern saßen, hatten es besser und behielten die Balance und schauten in das Wasser, welches gestern noch kalt, stinkend und brackwasserbraun gewesen war.
Ungläubig glotzten sie bis auf den Boden des Flusses, wo sie neben alten Fahrrädern, alten Autos und Kuhskeletten auch die kleinen Delfinboote der vier Freunde herumzischen sahen.
Justus’ Boot tauchte auf, stoppte, wiegte sich in den Wellen, dann öffnete er die Haube des Delfins, nahm das kleine Megaphon, welches zwischen seinen Beinen verstaut war, an die Lippen und schlug in lautem Ton vor, sich doch einfach ein bisschen treiben zu lassen.
Augenblicklich hörte die Armee auf zu rudern und schaute begierig in den Fluss hinab. Manche schauten in ihre Proviantrucksäcke und öffneten sich eine Dose Bier oder eine der mitgebrachten Rotweinflaschen. Wie herrlich es hier war! Ein Traum!
Wie ein satt gewordener Wildbach in den Alpen plätscherte die
Weser unter ihren Booten hindurch und freute sich darüber, dass jemand sich doch endlich mal um sie als Fluss gekümmert hatte!
Nicht immer nur als fader Transportweg überflüssiger Güter, nicht als Abwasserkanal, sondern sich als das, was sie war, um sie gekümmert hatte! 
Sie war alt. Und schön!
Ein Fluss, älter als alle Menschen, uralt und trotzdem frisch wie damals, als sich der erste Tropfen vor Äonen von Jahren seinen Weg gebahnt hatte und als erstes kleines Nass die Ländereien fruchtbar gemacht hatte, um dann in das große Meer zu münden und durch die Ozeane die Welt zu bereisen.
Schön fühlte sich der Fluss Weser, und tatsächlich war es mehr als ein Kompliment, dass nun wieder Jung und Alt, Mann und Frau, verliebt und verloren in ihm planschten und sich freuten, am Leben zu sein.
Schön fühlte sich interessanterweise auch Maik, was mehr als seltsam war, da er lange nicht daran gedacht hatte, dass er irgendwie schön sein könnte, weil Schönheit  ja nur dann etwas Gutes ist, wenn sie für den Schönen von Vorteil ist. Nun gab es in Maiks Leben kaum etwas, für das es sich lohnte, schön zu sein. Weil - mit den Frauen im echten Leben, das war nicht so wirklich was für Maik gewesen, und wo kein Geschlechtspartner, da auch keine Attraktivität. Und wo keine Attraktivität, da auch keine Schönheit. Also - Maik und Schönheit, das war schwieriges Neuland!

Zumal Maik ja Schönheit auch nur aus der Ferne kannte - sei es die Ferne, eine Sonnenbrille aufzusetzen und Frauen hinterher zu starren, oder die Ferne, die aus dem Glotzen in den Computermonitor bestand.

Aber, so oder so, saß er jetzt in einem Delfin, kurvte durch die karibischen Weser, hatte gerade dem Sprechfunk von Emma und Justus gelauscht  und musste nun an Steffi denken. Ein Hochgefühl durchzuckte ihn, er befeuchtete seine Lippen, doch in dem Moment, als er all seinen Mut zusammengenommen hatte um Steffi etwas Nettes zu sagen, machte es laut "BONK!" und Steffi hatte mit der Nase ihres Delfins spielerisch Maiks Delfin gerammt.

"JEEHAAW!" rief Steffi und war ebenso schnell wieder aus seinem Blickfeld verschwunden, wie sie zu ihm herangeschwommen war.

"EY!" rief Maik, während sein Delfin sich schlingernd wieder fing und nur knapp einem Riesenhaufen von alten Fahrrädern und Einkaufswagen entronnen war. "NA WARTE!" rief er, riss das Steuer herum und machte sich an Steffis Verfolgung. Beide kicherten und fühlten eine Nähe, die Justus, wäre es ihm nicht ähnlich gegangen, zum Erbrechen gebracht hätte.

"Reicht dann aber auch mal!" rief er in seinen Sprechfunk, und tatsächlich hörten Steffi und Maik recht schnell mit dem Rumgekalbe auf, schwammen zurück in die Formation der vier Boote und bildeten wieder eine frische, fromme, fröhliche und freie Delfinschule, in der Zucht und Ordnung herrschten.

Langsam tauchten die Vier wieder über die Wasseroberfläche. Um sie herum trieben die Spinner in ihren Booten, lachten und spaßten und machten Quatsch, triezten sich, und so manch einer schubste den anderen ins Wasser, was aber keiner übel nahm, sondern sich sofort im Spaß rächte und den anderen aus dem Boot zog, ihn umarmte und mit unter Wasser zog, was nicht nur zu einem lauten Lachen und einem anschließenden tiefen Blick in die Augen führte.

Tiefe, intensive Blicke wurden getauscht und verwirrte die anwesenden, in erster Linie asexuellen Nerds, welche diese Gefühle nicht so recht einzuordnen wussten. Nur die wenigsten küssten sich unauffällig und ungesehen unter der Wasseroberfläche, schwangen ihre Schenkel um die Taille des anderen und beobachteten die perlenden, in der Sonne blinkenden Tropfen auf dem Oberkörper des anderen. Das taten die wenigsten. Aber die Blicke wurden getauscht. Es waren so ähnliche Blicke wie kurz vorm Sex, wie die Blicke, welche in einer Band von Musikern getauscht werden, kurz bevor sie in den Klängen zu einem untrennbaren Soundkollektiv verschmelzen und dann in einem endlosen Gitarrensolo in den Sternen gemeinsam verglühen.

So oder so ähnlich sahen sich die „Spinner“ in ihren Booten auf der Weser an, und tatsächlich war diese aufkeimende Sexualität ein interessantes Vorzeichen für einen Krieg, oder wenigstens für eine tätliche Auseinandersetzung. Dieses Gefühl durchfuhr auch die „Spinner“, und so manch einer von ihnen dachte sich: „Geil! Sexkrieg!
Krieg: Eigentlich schon geil, aber doch nicht so megageil, aber: Krieg weniger ungeil als sexgeil! Deswegen: Geil! Sexkrieg!“

Die vier Delfine tauchten zwischen den Booten auf, die Klappen auf den Rücken der Delfine fuhren auf, und die vier Freunde schauten sich um. Elektrizität lag in der Luft. Die „Spinner“ saßen größtenteils in den Booten, streichelten ihre Speere und schauten sich seltsam an. Im Namen ihres göttlichen Auftrags unterbrach Justus das Geflirte unter den Männern. Schön und gut, aber alles zu seiner Zeit!

Sie trieben mittlerweile auf die Domsheide zu, und es war nur noch eine Frage der Zeit, ehe sie bei der Schlachte angelangt waren und es kein Zurück mehr geben würde. Justus schnappte sich das Funkgerät und hob es zu seinem Mund.

"Willehad, wir sind gleich da, was sollen wir tun?" fragte Justus in das Funkgerät und wartete auf eine Antwort. Nichts tat sich. Er wiederholte seine Frage, doch wieder bekam er keine Antwort.

"Was sagt er?" fragte Emma, die nun im Delfin mit geöffneter Haube neben Justus trieb.

"Nichts, er antwortet nicht!" sagte Justus.
"Vielleicht sollten wir mal vorfahren und gucken, was da überhaupt los ist, ich meine, könnte ja auch sein, dass die da gar keinen Bock auf Stress haben und uns die Boote so überlassen. Ich meine, die sind ja auch alle versichert!" antwortete Emma und blickt den Fluss hinunter.

"Maik, sag mal, gibt es bei Euren Spielen so eine Art "Formation", die Ihr alle kennt, und die Ihr jetzt mit den Booten einnehmen könntet?" fragte sie in Richtung Maik.

"Klar, vielleicht der ‚Diamant‘? Oder diese andere: ‚Alle-nebeneinander- aber-auch-noch-ein-paar-dahinter‘?" sagte Maik.

"Okay, kümmere Dich darum, dass wir da ein bisschen geschlossen bei der Schlachte aufschlagen - wäre ja schade, den ersten Eindruck so zu versauen. Denk dran: Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck! Justus und ich fahren vor zur Schlachte und gucken, was da überhaupt los ist. Wir funken Euch gleich an!"

Maik sagte "Okay!" und Justus und Emma tauchten ab und schwammen weiter nach vorne und in Richtung Schlachte.

"Aber denk dran!" äffte Steffi Emma nach. "Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck!  Mimimi, Alarmstufe Rahmstufe, Mööpmööp, blabla - manchmal frag ich mich, wer er glaubt, dass sie ist!"

"Ich kann Dich hören!" klang Emmas Stimme trocken aus dem Sprechfunk. "Ich glaube nicht - ich weiß, dass ich eine Prinzessin in einem Delfin bin! Und jetzt kümmert Euch mal um die Leute!"

Steffi war ein bisschen peinlich berührt, aber wischte die Peinlichkeit weg - wie ein leichtes Makeup nach einem peinlichen Date.

Maik schaute nach vorne. Er nahm seine Flüstertüte und sagte: "CHECK, CHECK!", und der Sound knallte - vom Wasser getragen - direkt in die Gehörgänge der „Spinner“, die vor ihm in den Kanus trieben und nach wie vor mit ihren Speeren herumspielten.

"Also!" sagte er. "Ich würde sagen, Ihr habt ja alles - also, Boote und Kanus und so. Ich würde sagen, wir paddeln mal in Formation. Wir sind ja bald auch schon an unserem Zielpunkt angelangt!"

"Welche Formation denn?" schrie einer zu Maik hinüber.

"Ich würde sagen", antwortete Maik, "wir machen dieses ‚alle-nebeneinander-aber-auch-noch-ein-paar-dahinter-und-noch-ein- paar-daneben‘!"

"OKAY!" riefen die seltsamen „Spinner“ in ihren Booten erstaunlich schnell und erstaunlich einverstanden. Sie trieben weiter und ließen nun schon fast die Osterdeichwiesen hinter sich.

Justus und Emma gaben Gas und senkten die Nase ihrer Boote.
Emma schoss voraus, knapp unter der Wasseroberfläche und Justus folgte ihr. Sie wurden immer schneller. Er klebte mit der Nase an ihrer Schwanzflosse und folgte ihr bei jedem Schwenk und jedem Abtauchen. Zischend floss das Wasser an den Scheiben ihrer Kanzeln vorbei, und als Justus nach vorne schaute, sah er knapp unter Emmas Schwanzflosse einen kleinen roten Knopf, auf dem "Stopp" geschrieben stand.

"Auch witzig: ‚Stopp‘!" dachte sich Justus. "Was sich liebt, das neckt sich, sagt man doch so. Vielleicht wäre es jetzt lustig, da mal einfach so mit der Schnauze gegen zu schwimmen. Ha! Das hab ich schon mal gesehen. Das machen Jungs mit Mädchen, die sie mögen. Hab ich gesehen. Das ist, wie wenn sich Jugendliche im Schwimmbad gegenseitig ins Wasser schubsen und dann lachen. Obwohl das in der Zeit, in der jeder immer sein Mobiltelefon in der Tasche hat, auch stark nachgelassen hat. Aber was soll’s!" dachte er sich, schwamm noch näher von hinten mit seiner Schnauze an Emma heran und titschte auf den Schalter.

Irgendwo an der Schlachte saß ein Gott namens Justin an einem Tisch und trank „Aperol Spritz“. Er fand es durchaus lustig, was sich die Menschen so ausdachten, wenn er - als Gott - sie mal einfach machen ließ, und tatsächlich war es toll, wie sie sich - Jahrtausend um Jahrtausend - immer was Neues zu trinken ausdachten. Tatsächlich tat sich auf der Welt eigentlich nicht viel, außer alle paar Jahre mal ein neuer Cocktail!

Er saß da und besah sich so die Menschen, die ihn nicht bemerkten, weil er diesmal nicht die Form von Allah, Gott, Buddha, Xenu oder eines anderen der kommerziell erfolgreichen Götter angenommen hatte. Nein, er saß da in seiner normalen Hose, über die er sich wunderte, denn es war schon seltsam, dass die kaputten Hosen im Handel teurer waren, als die unversehrten. Auch wunderte er sich über die hunderttausend Sachen, die überall auf sein T-Shirt und seine Hose gedruckt waren. Aber tatsächlich waren alle hier von oben bis unten mit Sachen und Buchstaben und Symbolen bedruckt, und sie benahmen sich auch auf eine Art und Weise, die ihn irgendwie sehr verwirrte. Die Frauen schienen den Unfreundlichen am Rockzipfel zu hängen und die Männer rannten den Dummen hinterher. Das war ja irgendwie auch anders gedacht gewesen. Was - wenn das hier schon der angekündigte letzte Kampf war, die letzte Schlacht, und wenn die Schlacht nur daraus bestand, den Leuten die doofen T-Shirts auszuziehen und die Frauen dazu zu bringen, die Menschen zu lieben, die gut für sie waren, und den Männern zu zeigen, dass ein Mensch nur so klug ist, wie die Dinge, die er begehrt?

Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem „Aperol Spritz“-Glas und schaute über die Weser, die gut aussehend an ihm vorbeifloss. "Die zu teilen, da hätte auch der Moses seinen Spaß gehabt!" dachte er sich. Da vibrierte seine Armbanduhr, leuchtete rot auf und sagte mit einer Roboterstimme "Pausenmodus aktiviert!", und plötzlich gefroren alle vor ihm hin flanierenden Menschen.
Nichts bewegte sich mehr!

Justin freute sich. Endlich hatte mal jemand die Pausentaste gedrückt! Endlich mal Zeit, sich ein bisschen ungestört auf der Welt umzuschauen -  und wenn es nur eine Woche wäre!


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Tag 32 (19.7.2012)


Gott und seine Probleme mit der Welt/“Fordert nicht Arbeit und Brot, fordert Freizeit und Kuchen!“


Die Sonne schien über die Stadt und brach sich gut gelaunt auf der Wasseroberfläche des örtlichen Flusses. Ihre Strahlen zischten ein bisserl dösig quer durch die warme, ein wenig staubige Luft und knallten dann mit gebremstem Enthusiasmus gegen die alten und roten Backsteinwände der Bremer Schlachte.

Von dort aus reflektierten sich ein paar dieser Strahlen zurück auf das für megaviel Geld neu gemachte Pflaster, bouncten weiter, und irgendwann waren sie so faul geworden, dass sie sich sogar von der Schwerkraft fangen ließen und sich müde, aber glücklich auf den Bürgersteigen zu einem Nickerchen niederließen. 

Da stand er nun, der gut gelaunte, aber leider schon relativ alte Gott Justin und sah sich wieder mal auf seiner Erde um. 

Wirklich lustig war ja immer noch, dass die Menschen, die so viel Angst hatten, zu sterben, das einfache Konzept nicht verstanden hatten, das ihnen all das Glauben an irgendeinen tollen Gott erspart hätte. Tatsache war Folgendes: Es war ganz egal, wie gefährlich oder verrückt oder vorsichtig oder spießig oder langsam man lebte. Die Länge eines Lebens bemaß sich nach Inhalt, und nicht nach Zeit. Das war alles. Der Tod hatte nur einen Auftrag, und der war, genau dann zu kommen und ein Lebewesen mitzunehmen, wenn es genug erlebt hatte. Wenn es durch Erfahrung an eine Stufe gelangt war, dass es bereit war für etwas Neues.

Das war eine ganz wichtige Einsicht: Langeweile bringt nichts. Sie macht keinen Sinn. Sie verkürzt das Leben nicht. Denn sie bringt keinen Inhalt. Und die Langeweile verlängert das Leben auch nicht, denn sie schafft ja keinen Inhalt!

"Wie scheiße schwer kann diese Scheiße denn sein!" fragte sich Gott, der mit einem „Bubble Tea“ mit einem Schuss Wodka an der Schlachte saß und sich die Leute ansah, die da wie eingefroren standen und doof guckten, weil - und das fiel Gott immer wieder auf: Das hatte er nur sehr schlecht hinbekommen! Menschen guckten immer, wenn man mal auf Pause drückte, dumm wie sonst was. Da konnte man mal wieder sehen, dass das Schöne der Welt in Bewegung bestand und niemals im Stillstand. Das war auch der Grund, warum alle Menschen auf Fotos so dumm aussahen. Schrecklich dumm! Einfach nur, damit sie bemerkten, wie dumm es war, Fotos zu machen. 

Es bemerkte ja leider kaum einer diese kleinen Tricks, die Gott einbaute, um den Menschen Momente zu schenken, in denen sie bemerken könnten, dass organisierte Religion doch ziemlich albern war. Ob das nun für Christen dieser Blödsinn mit den Fotos und Bildern war, die sie anbeteten, oder für die Moslems, dass sie bei einem Gottesdienst mehr oder minder dazu gezwungen wurden, am Hinterteil ihres Vordermannes zu schnüffeln.

Da war Gott schon ein bisserl stolz auf sich selber, dass wenigstens er den Humor hatte, der den Menschen, die den Glauben an ihn organisierten, abging. 

Priestern den heterosexuellen Beischlaf zu verbieten und sie dann unbeobachtet mit kleinen Jungen in ein riesengroßes Superhaus zu stecken, war genauso ein Moment, genau so eine Herausforderung, um mal kräftig über seinen Glauben nachzudenken.

In einer Welt des Schönheitswahns einen dicken Mann mit Glatze anzubeten, war genauso eine Möglichkeit, nur nannte sich das dann Buddhismus und war moderner, weil es älter war, und man somit auf der längerwelligen Religions-Retrowelle mitsurfte.

Und witziger Weise hatten die ja alle recht, weil - herrlich, denn Tatsache: Es gab nur einen Gott, das wusste Justin selber nur allzu gut, wie er hier mit seinem „Bubble Tea“ an der Schlachte saß. Inschallah - einen einzigen Gott, nur wussten sie halt alle nicht, was er von ihnen wirklich wollte.

Da sagten die einen: „Reise nach Tibet!“ Die anderen: „Nein, Vatikan ist ‚Place to be‘!“ „Nein, ohne Mekka auch keinen Himmel!“ schrie es dann von der Gegenseite. Eigentlich waren sich da ja alle Religionen gleich: Sie wollten, dass man irgendwo hinging und da irgendwas machte und das Meiste von seinem Geld abgab. Das fand Gott von der Blödheit her schon relativ amüsant!

Eigentlich, und das musste Justin zugeben, gab es den „Himmel“ nur für den kleinen lustigen Moment, wenn die Idioten von Menschen vor der Himmelspforte standen und ihnen gesagt wurde, dass sie vollkommen sinnlos auf die schönen Dinge des Lebens verzichtet hatten. 

Erstens war es für Justin sehr, sehr lustig, wie die Menschen immer wieder auf die Himmelspfortenfototapete reinfielen, die er in seinem Hobbykeller aufgehängt hatte. Zweitens war es natürlich auch lustig, den Leuten beim Ausflippen zuzusehen, wenn sie bemerkten, dass es keine der Belohnungen gab, die sie oder ihre religiösen Führer sich ausgedacht hatten. 

Da hatten es die, die an keinen Gott im Sinne irgendwelcher Bücher oder dem Gerede von machtgeilen Typen glaubten, schon besser. 

Es war ja so: Seit Anbeginn der Geschichtsschreibung, welche sich auf die Erfindung der Schrift durch die Sumerer vor etwa 6000 Jahren bezieht, haben die Menschen an insgesamt ungefähr 3700 übermenschliche Wesen geglaubt, von denen 2870 als göttlich bezeichnet werden können. Wenn nun heute einer kam und fragte: "Glaubst du an Gott?", dann konnte ja einer, der nicht an so einen Gott glaubte, einfach sagen: "Ja, welchen Gott meinst du denn - Zeus? Hades? Jupiter? Mars? Odin? Thor? Krishna? Vishnu? Ra?" Und wenn dann die Antwort kam: "Ich glaube an Gott, den einen einzigen Gott!", dann konnte man schön sagen: 

"Naja, der Unterschied zwischen uns ist ja nur, dass ich nicht an 2870 Götter glaube und du nicht an 2869!"

Seltsam sinnierend saß Justin an der Schlachte. Religion ist, wenn der eine sagt: „Zwei mal zwei ist fünf!“ und der andere ausflippt, weil er meint, das zwei mal zwei drei wären und sie sich dann gegenseitig tothauten.

Er sog noch einmal an seinem „Bubble Tea“ und sog und sog, aber der „Bubble Tea“ wurde nicht weniger, was daran lag, dass einer der Vorteile daran, Gott zu sein, ja war, dass der Becher nicht leer wurde, wenn man das nicht wollte! 

Was toll war und auch notwendig, insbesondere, wenn Justin beschloss, ein Bier zu trinken, denn wer schon seit unendlich langer Zeit gerne mal ein Bier trinkt, der braucht schon eine ganze Menge davon, um betrunken zu werden. Und wer für das Universum und den ganzen Mist, der darin geschieht, verantwortlich ist, der tut sich nicht ganz leicht damit, mal eine Trinkpause zu machen.

„Apropos Pause!“ dachte sich Justin, schaute nach oben und bemerkte aufs Neue die angehaltene Welt um ihn herum. Er stand auf und trat zwischen die Menschen, die wie eingefroren dastanden. 

„Schon witzig und süß, diese Typen!“

Was er nicht so witzig fand, war die Idee der Menschen, ihn als allmächtig, allwissend, allsehend zu bezeichnen, aber dann so zu tun, als ob er nicht mit Geld umgehen könnte und deswegen immer neues verlangte. Das fand er irgendwie unhöflich und tatsächlich, dachte er sich, während er schlürfend am „Bubble Tea“ sog: Das war das einzige, was er wirklich verlangte: Höflichkeit. Und er empfand das als berechtigte Forderung. Es gab ja nun wirklich nicht viele Forderungen an einen modernen Menschen, außer vielleicht, sich ein bisschen an die Gesetze zu halten, aber das auch nur, wenn gerade einer guckte. 



Wie Justin sich so umsah, war eigentlich alles in Ordnung. Da war nichts, was man wirklich beanstanden konnte hier in Westeuropa. Und trotzdem widerten ihn die Menschen irgendwie an, und das war nicht so ganz leicht zu verknusen. Die Menschen hier widerten ihn sogar noch mehr an, als die Menschen in Afrika, und auf Afrika war er schon nicht besonders stolz. Bis auf die Landschaft - die war gut!

Dinge nicht mehr mögen - schön und gut und gutes Recht eines jeden, ob Mensch oder Gott. 

Aber gefährlich: Die eigenen Kinder nicht mehr mögen. 

Das heißt nicht, dass Justin seine Kinder, sprich - diese Menschen um ihn herum, hasste. Das wäre zu emotional, das war nicht das Gefühl.

Das Gefühl gegenüber diesen Menschen schmeckte eher schal und alt, so als wäre es im Reifungsprozess irgendwann gekippt und versauert, ranzig geworden - keine Chance, es wieder zu reanimieren! 

Ärgerlich, denn viel Arbeit hatte er schon hineingesteckt in diese Menschheit. Anstrengend war das gewesen. Aber es war  mittlerweile so wunderbar eingespielt. Wie das in langjährigen Beziehungen halt so ist. 

Angenehm unaufgeregt eben, aber tatsächlich war zu konstatieren: Vielleicht war es Zeit, diese Beziehung zu beenden. Vielleicht sollte er, Gott, mit den Menschen Schluss machen. Vielleicht war das für beide besser! 

"Nein!" würde er sagen." Es liegt nicht an Euch, es liegt an mir - da hat keiner Schuld. Wir haben uns einfach auseinandergelebt, wir befinden uns an unterschiedlichen Stellen in unseren Leben. Und das bedeutet ja nicht, dass wir uns nicht mehr sehen könnten, und natürlich bin ich immer noch da, wenn es euch mal schlecht geht, aber ich denke, es ist das Beste, wenn wir uns erstmal eine Zeit lang nicht mehr sähen!" 

Vielleicht war diese Masche ein bisschen abgegriffen, aber allemal war es besser, als einfach nicht mehr ans Telefon zu gehen oder eine SMS schreiben - so eine Rund-SMS, aber das wäre sogar für ihn, dem als Gott ja viel Rachsucht und Zorn vorgeworfen wurde, zu unpersönlich!

Erstaunlich war es schon, wie sehr er die Menschen nicht mehr mochte. Aber - da war er dann doch sehr menschlich! Eigentlich wurde er nur dann böse auf sie, wenn sich Menschen schlecht verhielten und er sich dabei in ihnen wiedererkannte, etwa beim Internetsurfen am Mittagstisch mit der Familie. Oder wenn immer die Hälfte des Planeten ohrenbetäubend schnarchte. Oder dass sie nie zuhörten, wenn er etwas sagte, und sie sich anschließend beschwerten, ihnen hätte ja keiner was gesagt. Oder wenn sie sich betranken und sich dann übertrieben lustig fanden. Oh, wie ihn das nervte! Eben, weil das alles Dinge waren, die er selber auch tat, die er aber auch nicht änderte!

Justin fand sich in den Menschen selber wieder. Und das war das Problem! Vielleicht war er als Gott einfach ein bisschen zu menschlich geworden. Vielleicht, weil die Menschen mit ihren Atomwaffen und ihren Raumschiffen und ihren „Higgs-Boson-Gottesteilchen“ immer mehr wurden wie er selber. Eigentlich könnte das lustig werden, wenn Gott und Mensch sich in der Mitte treffen und gesellig beisammen sitzen und diese Gottesdinge bereden, mit denen er sich momentan ein bisschen überfordert fühlte, weil er ja keinen hatte, mit dem er hätte reden können. Und toll wäre es schon gewesen, einen Therapeuten zu haben, der ihn von seinem Menschenkomplex hätte heilen können.

„So oder so!“, dachte er sich, nahm noch einen Schluck „Bubble Tea“ und bemerkte, dass dieser „Tea“ wahrscheinlich eine Randerscheinung der Geschmacksgeschichte bleiben würde! 

Vor und einige Schritte unter ihm dümpelten die Boote der Armee der „Spinner“ auf der Weser. Wie in der Bewegung versteinert, saß und stand die Armee in ihren Booten, und man machte vorwiegend sehr doofe Gesichter - eben die Gesichter, die man macht, wenn einer auf Pause gedrückt hat oder aber gerade jemand ein Foto auslöst. Fotos, bei denen man so dumm aussah, dass die Kraft der Peinlichkeit so unerhört hoch wurde, dass man mit einem sehr feinen Instrument wahrscheinlich sogar eine Änderung im  Energielevel der Erde hätte feststellen können! 

Durch die modernen Anhäufungen von digitalen Fotografien entstand eine Art Batterie von Peinlichkeitsenergie, bei der man sich nur wünschen konnte, dass kein Superschurke diese potenzielle Superwaffe jemals entdeckte! 

Justin glotzte vor sich hin, als ein kleiner Junge mit einem Skateboard unbeholfen an ihm vorbei fuhr. Justin schaute ihn an, und der Junge blieb stehen. Er schaute Justin in die Augen, und als Justin ihn fragte "Warum kannst Du Dich bewegen?" antwortete der Junge: "Weil ich tot bin!" 

Da erschrak Justin: „Auch seltsam!“

Er ließ den Jungen links liegen und ging hinunter zum Fluss, dorthin wo sie alle mit ihren dummen Gesichtern in ihren Kanus saßen und standen und tatsächlich so wirkten, als hätte sich die Welt von selber angehalten, weil sie diese doofen Gesichter auch nicht eine Sekunde länger ertragen wollte. Versteinerte Gesichter, kurz vor dem Angriff.

Justin ließ mit großen Schritten die weiten und tiefen Treppen hinter sich, die zum Wasser hinunter führten. Er überquerte den neu gepflasterten Fußweg, ging weiter die betonierte Böschung hinunter
und setzte den ersten Fuß aufs Wasser. Dann den zweiten. Dann stand er vollends auf dem Wasser und begann zu spazieren. Er drehte sich, tat so, als wäre er ein Eiskunstläufer, sprang kurz hoch, knallte mit den Fersen zusammen und freute sich. Dann lief er noch ein Stück weiter und sah durch die Wasseroberfläche unter seinen Füssen hindurch das Gesicht von Justus in einem seltsamen Boot, das aussah wie ein Delfin.

Er schaute Justus ins Gesicht und musste an eine Geschichte aus Justus’ Kindheit denken, die er ihm, Gott, einmal erzählt hatte. Tatsächlich war es das einzige Mal gewesen, dass Justus gebetet hatte. Justin erinnerte sich noch sehr gut daran:

"Es ist jetzt fünf Uhr und zehn, ich bin seit Stunden wach und es gibt nichts, das ich tun kann. Ich bin in einem Raum mit meinen Eltern - sie schauen mich an, und ich kann nichts anderes tun, als zurückzugucken und zu versuchen, nicht zu schreien. Der kalte Metallgeruch von Blut schwängert die Luft, und ich kann mich vor Angst nicht bewegen.

Die Sache ist die: In dem Moment, in dem ich irgendetwas tue, das verrät, dass ich nicht mehr schlafe, bin ich tot. Ich werde sterben, und hier ist niemand, der mir helfen könnte. Ich habe überlegt, ob ich etwas tun könnte, aber es gibt nichts. Das einzige, was mir einfällt, wäre, zur Haustür zu rennen und nach den Nachbarn zu schreien, so dass sie mir helfen könnten. Vielleicht hört mich niemand. Es ist gefährlich, aber wenn ich hier bleibe, sterbe ich auf jeden Fall.

Er wartet darauf, dass ich aufwache und sein Meisterwerk sehe.

Vielleicht fragt Ihr Euch, wovon ich rede. Manchmal denke ich schneller, als ich reden kann!

Vor etwa drei Stunden habe ich Schreie aus dem Erdgeschoss unseres Hauses gehört. Ich bin aufgestanden und habe heimlich aus meinem Schlafzimmer geschaut und Blut auf dem Teppich gesehen.

Ich bin sofort zurück ins Bett, habe mich unter den Bettlaken versteckt und versucht, mir einzureden, ich würde nur träumen.

Aber dann hörte ich, wie sich langsam die Tür meines Schlafzimmers öffnete, und natürlich konnte ich es mir nicht                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  
verkneifen, unter meiner Bettdecke hervorzuschauen. Ich konnte sehen, wie irgendetwas meine toten Eltern ins Zimmer zerrte. Ich glaube nicht, dass es etwas Menschliches war.

Es zerrte meine Eltern weiter bis zu meiner Bettkante und drapierte sie so, dass sie aufrecht saßen und mich anschauten. Dann begann es, seine Finger an den Wänden abzureiben und so das Blut durch den ganzen Raum zu schmieren. Es malte Kreise und okkulte Symbole, gekrönt von feinen Pentagrammen in der Mitte. Ich würde das Ergebnis ein Meisterwerk nennen. 

Immer noch linste ich unter der Bettdecke hervor und sah, wie es sein Werk mit einer Nachricht an der Wand vollendete, welche ich in der Dunkelheit nicht lesen konnte. Dann schlurfte es von der Wand in meine Richtung und versteckte sich unter meinem Bett.

Das Schlimmste war, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten und ich schließlich in der Lage war, die Nachricht an der Wand zu lesen. 

Ich will sie nicht lesen - ich erstarre schon im Gedanken daran, sie zu lesen. Aber ich muss sie lesen, bevor ich sterbe. 

Langsam drehe ich meinen Kopf unter der Decke herum und schaue zur Wand. Dort steht geschrieben:

"Ich weiß, dass Du wach bist!"
...

"Huch! Üble Geschichte!" dachte sich Justin und schämte sich ein bisschen, dass er Justus solch eine Angst gemacht hatte - aber das war jetzt auch nicht mehr rückgängig zu machen. Und wenn er ihn sich so besah, dachte er: „Naja, wirklich geschadet hat es ihm jetzt auch nicht. Also, was soll’s! Außerdem mach ich das ja jetzt wieder gut, weil – Tatsache war doch: Jetzt ging es ihm gut, und der Anführer von dieser Armee zu sein, die gerade dabei war, die Schlachte anzugreifen, musste ihm gefallen!“

„Eh witzig!“ dachte er sich, machte auf der Oberfläche der Weser kehrt, pirouettierte noch ein bisschen nur zum Spaß, ging zurück zum Ufer, die Böschung hinauf, zwischen den stillstehenden Menschen hindurch, die großen Stufen wieder hinauf und zurück zu seinem Platz, an dem noch sein „Bubble Tea“ stand.

Er kickte den Pappbecher auf die Straße, bekam ein schlechtes Gewissen, hob ihn wieder auf, warf ihn in den Altmüllcontainer, den er kurzerhand neben sich hin kreiert hatte, machte kehrt, setzte sich auf die Stufen, von wo aus er einen besseren Blick über die Weser hatte und schnipste mit dem Finger. Die Zeit begann wieder zu laufen, und ein markerschütternder Schrei zerfetzte die Ruhe.

Alles geschieht aus einem Grund, aber manchmal ist der Grund, dass du saudumm bist und sehr schlechte Entscheidungen triffst.

„Manchmal schreibe ich jemandem, der Auto fährt, eine SMS, damit er stirbt, weil er sie liest. In dieser SMS steht normalerweise: „Ich hoffe, Du stirbst bei einem Verkehrunfall!“


Busbahnhof und Flughafen sind die gleichen Fehler vom Worte her. Kalte Busfenster sind der schnellste Weg, einen Menschen zum Nachdenken zu bringen.




Tag 33 (Freitag, 27.7.2012 - ab heute jeden Freitag auf Sönkes Parzelle an der Weser)


„Wollt ihr den totalen Beef?“


Ganz leicht kräuselte sich das kristallklare Wasser der Weser. Winzig kleine Wellen zogen flussaufwärts und vermittelten den Eindruck, als hätte die Stadt eine Gänsehaut. Nicht zu Unrecht!
Trotzdem bemerkte die Stadt nichts anderes als ein kurzes Schütteln, wie man es manchmal hat - nur eine kurze, nervöse Anspannung der Muskeln, bei der man nicht weiß, woher und wozu. 

Es ruckelte leicht, als die Zeit wieder ansprang. Kaum merklich, eigentlich nur für Justus zu bemerken, der gerade den Stoppknopf an der Schwanzflosse von Emmas Delfinboot gerammt hatte und es nicht gut fand, dass sich nichts tat. Er ließ sich zurückfallen und versucht es erneut, verfehlte dieses Mal aber den Knopf, glitschte an Emmas Unterseedelfinboot vorbei und fand sich neben ihrer Glaskanzel wieder. Er sah ihr in die Augen, und sie lächelte, als die beiden nebeneinander dahinglitten. 

Normalerweise hätte Justus jetzt schnell weg geschaut. Augenkontakt war nicht seine Stärke. Er befolgte den Grundsatz, dass ein Augenkontakt, der länger als sechs Sekunden dauerte, ein klares Zeichen entweder für sexuelles Verlangen oder aber für Mordlust war. Das war der Grund gewesen, warum seine Musikerkarriere so schnell ins Stocken geraten war. Anscheinend war es eine Grundvoraussetzung für das Spielen in einer Band, dass man in der Lage war, den anderen Bandmitgliedern tief in die Augen zu schauen und dann, bei einer gelungenen Harmonie, freudevoll zu lächeln. Das waren immer Momente gewesen, die Justus zutiefst zuwider gewesen waren. Schrecklich! Einfach schrecklich! 

Gerade trötete aus jedem Radio der Stadt eine moderne Textzeile,
die Justus eigentlich ganz passend fand, obwohl er das nicht zugegeben hätte. Da sang einer dieser seltsamen Alt- und Halbpunk-Sänger der späten achtziger Jahre: "Männer und Frauen sind das nackte Grauen, wie sie sich stundenlang tief in die Augen schauen!" Und das traf es tatsächlich ziemlich genau! 

Dieses In-die-Augen-schauen, das hatte etwas zu Ehrliches, und - so sagte es ihm seine Erfahrung - eine längerfristige Beziehung vertrug Ehrlichkeit nun mal nicht allzu gut. Meist war er sogar der Meinung, an der Länge einer Ehe die Qualität im Lügen der an der Ehe Beteiligten ablesen zu können. Den Beweis für diese These sah man ja immer mal wieder in den Fußgängerpassagen am Dienstagvormittag, wo sich gegenseitig ankeifende ältere Pärchen ihre Rollatoren zur Reparatur schoben und sich dann noch Monatspackungen Windeln oder so kauften. Ob es Erwachsenenwindeln wohl auch mit Motiv - wie bei Kinderwindeln -  gab? Nur mit „erwachseneren“ Motiven? 
Vielleicht für die jetzige Inkontinenz-Generation mit Holocaust-Leugnungssprüchen, Führerportraits oder - für die kultivierte Oberschicht - mit der „Maria in der Felsengrotte“ oder den Noten einer Wagner-Arie?

"Unwichtig!" dachte sich Justus und schaute nun doch wieder zu Emma hinüber und ihr tatsächlich in die Augen, und für einen Moment besiegte er sich. Er hielt den Augenkontakt aufrecht, und tatsächlich - die Emma, die musste schon etwas Besonderes sein, denn es stellten sich während des Blickes keine Krampfanfälle ein, Spastiken blieben aus, und er begann nicht einmal wie verrückt zu schwitzen. Stattdessen schaute er sie an, sie blickte zurück, und, ohne dass er es wollte, hoben sich seine Mundwinkel in Richtung Himmel, und er schaute lächelnd diesem anderen Menschen namens Emma in die Augen. 

Ärgerlich dabei war allerdings, dass Justus keine Ahnung hatte, wie lange man wohl so einen verliebten Blick aussenden konnte, ohne bedrohlich zu wirken. Deshalb verpasste er den Moment, in dem ein verliebter Blick über das Starren zum Glotzen wird. Aber Emma schaute schon wieder nach vorne.

"Alles klar?" hörte er es über den bordinternen Sprechfunk tönen.
"Ja, alles klar, Entschuldigung, ich kenne mich mit so was nicht so aus!" antwortete er.
"Mit was nicht aus?" fragte Emma.
"Mit dem verliebt gucken!" antwortete Justus.
"Jetzt hast Du ja doch gesagt, dass Du verliebt bist!" kicherte Emma.
"Echt?" fragte Justus.
"Ja!"
"Hatten wir nicht vorhin nur über Liebe gesprochen, und dass es dafür noch zu früh wäre?" fragte er noch einmal nach. 
"Ist eh das Gleiche“, antwortete Emma, "Liebe ohne verliebt sein ist doch vollkommen langweilig. Da kann ich auch mit guten Freunden rumhängen. Und verliebt sein ohne Liebe ist doch rückwirkend auch eher unsinnig!" 
"Rückwirkend?" fragte Justus. "Das ist aber auch eine etwas seltsame Sicht auf eine romantische Beziehung!"
"Ist doch so!" antwortete sie. "Ist doch ärgerlich sonst - ich meine, so im Nachhinein. Ich hatte da mal so eine Sache mit einem Typen, mit dem ich vorher BFF war!“
"BFF?" fragte Justus.
"Ja, best friends forever!" sagte Emma.
"Hm, Hm!" machte Justus und wunderte sich immer wieder über Emma.
"Also, da war ich nicht verliebt, aber es wirkte wie eine Verschwendung, nicht mit ihm zusammen zu sein, und Liebe war das irgendwie schon, das kann ich bis jetzt nicht anders sagen. So Liebe in dem Sinn halt, dass er mir wirklich wichtig war, aber dann hat es nicht geklappt, weil ich nicht aufgeregt genug war, wenn ich ihn gesehen habe. 
Das Gefühl mit ihm war immer wie satt nach dem besten Essen der Welt und nicht wie hungrig mit der Aussicht auf Beute. Und deswegen war ich rückwirkend böse auf mich selber, weil ich mir wieder mal den gemütlichen Weg gesucht hatte. DAS "rückwirkend" meine ich - verstehst du? Scheiße, erwachsen sein ist echt das Letzte!“

"Hm,Hm!" machte Justus wieder. "Dann möchte ich dazu anmerken, dass ich auf meiner Äußerung bestehe, dass ich vielleicht verliebt in Dich wäre, und die vormalige Äußerung bezüglich Liebe ruhen lasse, bis wir lange genug verliebt waren, dass Du auch ‚rückwirkend’ unsere Beziehung nicht verurteilst!"

"Einverstanden!" sagte Emma und sie schwammen einen Moment schweigend nebeneinander her. Der Sprechfunk meldete sich.

"EY!" drang Maiks Stimme an ihre Ohren. "Wie sieht es denn aus da vorne? Was macht Ihr denn da?" Steffis Gekicher war zu hören.

"Oh!" machte Justus, warf Emma einen professionellen Blick zu und nickte mit dem Kopf in Richtung oben. Sie tauchten auf und durchbrachen mit ihren Delfinen die Wasseroberfläche. 

An der Schlachte herrschte ein buntes Treiben. 

Natürlich war es dem neuen Karibikwasser gedankt, dass die Schlachte proppenvoll von Menschen war. Die Leute flanierten voller Stolz, als wäre Bremen der Mittelpunkt der Welt, an den Ufern entlang.

Das „Pfannkuchen-Schiff“ dümpelte fett und glücklich vor sich hin, genauso wie die Pfannkuchen, die sie dort servierten. Die Betreiber des Veranstaltungsschiffes „MS Treue“ hatten kurzfristig ein Konzert auf dem Deck ihres Kahns arrangiert. Eine Bremer Allstar-Band rund um Sixxxten, Flo Mega, Bassi Bueller, James Last und Baba Saad hatte sich auf dem Aufbau des Bootes getroffen und alle gemeinsam sangen nun: "Wo die Weser einen großen Bogen macht" in einer erstaunlich souligen Version, unterstützt von nach Freiheit schreienden Gitarrensoli, abgemildertem Pornorap und einer swingend Bigband, die ihresgleichen suchte.

Etwas weiter entfernt dümpelte das alte DDR-Kühlboot "MS Stubnitz" im Weserbahnhof. Justus schaute jetzt in diese Richtung und aktivierte den Sprechfunk. "Ich würde sagen, wir schnappen uns erst einmal die ‚Stubnitz’!“ sagte er. 

"Ok!" kam es einhellig aus dem Funk zurück. Justus öffnete die Glaskanzel seines Bootes, zückte sein Megafon und rief der „Armee der tausend Spinner“ in ihren Booten zu, dass sie bis zur „Stubnitz“ weiterpaddeln sollten.

"Wieso denn?" riefen Einzelne der mit Maja- und Inuit-Schmuck behängten Einbootfahrer.

"Wir brauchen ein größeres Schiff!" rief Justus zurück und freute sich, in einem Delfin zu sitzen und einen Witz aus dem Film "Der weiße Hai" zu machen. 

Alle sahen ein, dass die Inbesitznahme der „Stubnitz“ wohl die beste Idee wäre, was auch dem Fakt gedankt war, dass die „Stubnitz“ durchaus wie ein Schlachtschiff in irgendeinem Computerspiel aussah – in einem dieser Ballerspiele, in denen man horizontal in zwei Dimensionen nach oben fliegt und Schlachtschiffflotten ausschaltet. 

Das Wasser lief die Weser herab mit Richtung Ebbe. Der Strömung geschuldet kamen die Boote schnell voran und trieben die Flaniermeile hinunter.

Innerhalb kurzer Zeit hatte die „Armee der tausend Spinner“ das restaurierte und aufgehübschte Quartier hinter sich gelassen und trieb auf die „Stubnitz“ zu. Maik und Steffi hatten zu Emma und Justus aufgeschlossen und bildeten nun die Spitze der Armada. 

Auf Höhe des ehemaligen Kühldampfers, der jetzt als Partyboot und Zuhause einer seltsam sympathischen Crew diente, drehten die Boote bei und richteten sich, so gut es eben ging, in Pfeilformation auf die Seite der „Stubnitz“ aus. Justus hob das Megafon zu seinem Mund.

"Achtung, Achtung! "rief er mit in den Nacken gepresstem Kopf nach oben. Er war mit seinem Delfin zu nahe herangeschwommen, und ihm fiel auf, was das - vom Wasser aus gesehen - doch für ein Riesenkahn war. "Hier spricht die ‚Armee der tausend Spinner’. Wir brauchen ihr Boot!" 

Nichts geschah. 

"Achtung, Achtung! Hier spricht die ‚Armee der tausend Spinner’!" wiederholte er. Weiterhin geschah nichts. Die Tausend warteten. Wenig war zu hören, außer dem Geklapper des seltsamen alten Schmuckes an ihren Hälsen.

Langsam, mit einem hohen Quietschen öffnete sich eines der Bullaugen gut zwanzig Meter über Justus Kopf. Ein müdes Gesicht streckte tiefe Augenringe durch das Fenster, ließ seinen abwesenden Prä-Kaffee-Blick über die Weiten der Weser schweifen und wollte sich gerade wieder wie ein Schildkrötenkopf in sein Bootsgehäuse zurückziehen, als Justus ihn noch einmal anrief:
"Achtung! Du da oben, wir brauchen Dein Schiff. Wir sind die ‚Armee der tausend Spinner’. Wir ziehen in den Krieg!"

"Was ’n für’n Krieg?" kam es von oben genuschelt. 

"Das wissen wir leider auch noch nicht so genau!" rief Justus durch seine Flüstertüte. "Aber als Erstes wollen wir mal die Schlachte besetzen und dann weitersehen!"

Der Mann in seinem Fenster drückte sich von innen in das Bullauge, so dass seine nackten und sehr behaarten Schultern, seine nackte Brust und sogar sein mächtiger Bauch aus dem Fenster ploppten. Was innerhalb des Schiffes noch von dem Mann zu sehen war, wusste zum Glück nur Gott! 

Er fummelte an einem Beutel, den er in der Hand hielt, entrollte ein Blättchen, bröselte eine grün-braune Mischung hinein, befeuchtete die Oberseite des Blättchens und zündete das krumme Ding an. Eine dicke gelbblaue Wolke zog zum Oberdeck hinauf.

"Und Ihr wollte das Schiff hier dafür haben?" fragte er hustend und blickte auf den Pulk von tausend Leuten hinab, die unter ihm vor sich hintrieben und nach oben starrten. Da sie wie jeder Mensch, der nach oben starrt, ihren Mund geöffnet hatten, freute er sich und überlegte kurz, ihnen Brotkrumen zuzuwerfen.

"Ja!" rief Emma nach oben. "Gib das Schiff!"

Der Mann im Fenster schaute sie an. 


"Madame, wenn Sie mal genau gucken, können wir da nicht durchfahren!“ sagte er und wies mit einer fahrigen Handbewegung zur Brücke, die nur ein paar Meter weiter die Weser überspannte.

"Können wir die nicht kaputtfahren?" rief Maik.

"Klar können wir die kaputtfahren. Aber wer bezahlt das und wer fährt das Schiff? Das gibt doch bestimmt Ärger, wenn wir die Stephanibrücke umfahren!" rief der Mann zurück.

"Ja, das gibt bestimmt Ärger. Ich würde das wohl trotzdem machen, und wegen des Geldes", antwortete Maik, "da fällt uns schon was ein. Ich hab gehört, Ihr wollt das Ding eh loswerden!"

"Stimmt eigentlich! Okay, dann komm an Bord. Aber Ihr müsst versprechen, dass wir hier weiter wohnen bleiben dürfen!" schallte es von oben aus dem Mund des dicken Mannes im Bullauge.

"Das ist kein Problem!" sagte Justus in sein Megafon, während Maik mit seinem Delfin schon abtauchte und um die riesige „Stubnitz“ herumfuhr, auf der anderen Seite wieder auftauchte, ausstieg, auf die Kaimauer kletterte und von dort aus aufs Schiff sprang, welches mit zunehmender Ebbe immer tiefer am Kai lag.

Justus nahm das Telefon, das der Generalsekretär des „Clubs der Spinner“, Willehad, ihm gegeben hatte und rief im Hauptquartier an.

"Willehad, wir sind jetzt bei der ‚Stubnitz’, aber die wollen wohl, dass wir ihnen das Schiff abkaufen, damit wir damit die Stephanibrücke einreißen können", sagte er in ruhigem Tonfall.

"Ja, das ist sowieso eine schreckliche Brücke. Eigentlich hieß die früher auch ‚Adolf-Hitler-Brücke’. Das ist eine gute Idee, die zu zerstören!" antwortete Willehad. "Ich schick mal jemanden mit ein bisschen Geld vorbei!" Er legte auf, ging zur Schatzkammer, welche hinter einem der Regale in der Bibliothek unter dem „Eck“ verborgen war, und packte einen Haufen großer Geldscheine in einen riesigen Reisekoffer und drückte ihn einem herbeigeeilten Fahrradkurier in die Hand. 

"Zur ‚Stubnitz’!" sagte er, und schon schleppte der Kurier den großen Koffer davon, schwang sich auf sein Rennrad, welches unter der Last des Geldes barbarisch ächzte, und fuhr los zur „Stubnitz“, wo er nur zehn Minuten später eintraf. Auch er sprang mit dem Koffer aufs Schiff, wo er bereits von Maik und dem dicken, lustigen Mann aus dem Bullauge erwartet wurde.

Maik nahm den Koffer an sich, öffnete ihn kurz geheimnistuerisch, machte so große Augen, dass es mehr als auffällig war, gab dem Kurier einen Tausend-Euroschein und wandte sich an den Mann aus dem Bullauge.

"Hier, das ist ein Haufen Geld, das sollte reichen, um das Schiff zu bezahlen. Natürlich sollen alle, die hier wohnen, genau da bleiben, wo sie sind. Mir müsste nur jemand den Rückwärtsgang zeigen, damit wir ein bisschen Anlauf nehmen können, und dann ‚Bums!’ - und weg mit dem Brückengelöt!" sagte Maik.

Der Mann schaute in den Koffer. Sein Gesicht wirkte wie gülden angestrahlt, als ihn die großen Geldscheine blendeten. Er öffnete eine Klappe im Vorschiff und schrie: "Startet die Maschinen!"

Gemeinsam gingen sie nach oben auf die Brücke und Maik wurden die einfachsten Bedienelemente des hundert Meter langen und 2500 Tonnen schweren Schiffes erklärt.

"Eigentlich auch nicht schwieriger als Autofahren!" dachte sich Maik, der aber leider noch nie ein Auto gefahren hatte. Er haute den Rückwärtsgang rein, die Schraube begann sich langsam, aber mächtig, in das blaue, klare Wasser zu wühlen. Die Vertäuung ächzte und schon schlugen die Taue wie Peitschen durch die überflüssige Luft der überflüssigen Überseestadt, knallte in die Scheiben des überflüssigen „Chilli Clubs“ und zerstörte mit nur einem Streich den zwanzigtausend Euro teuren Latte-Macchiato- Automaten. Der Manager des Clubs brach weinend zusammen.

Das Schiff machte einen Satz nach hinten und begann langsam, aber mächtig Fahrt aufzunehmen.

"Jetzt ganz einschlagen!" sagte der dicke Mann, und die Mannschaft, die nun auch auf die Brücke geeilt war, lachte Maik herzhaft aus, als er verzweifelt auf die Armaturen schaute und nicht wusste, was er tun sollte. 

Das Schiff schabte an der Kaimauer entlang und riss die Spundwände auf einer Länge von fast hundert Metern auf, was zu einem Abbruch der Uferkante führte, einen Erdrutsch auslöste und den „Wesertower“ stark schwanken ließ, bis er in einer Schräglage zum Stehen kam, die ihn - mit seinen blöden schrägen Seitenflügeln - endlich einmal gerade aussehen ließ. Zufällig fuhr der Architekt vorbei und freute sich.

Das Schiff setzte immer weiter zurück, bis es gut vierhundert Meter Anlauf genommen hatte. Dann griff der dicke Mann, welcher anscheinend einer der Nautiker des Schiffes war, aus dem Fenster zum Schubregler, kippte ihn nach vorne, und die Schraube begann in die entgegen gesetzte Richtung zu laufen. Das Schiff verlangsamte seine Rückwärtsfahrt, stoppte dann und begann, sich vorwärts zu bewegen. Der lustige dicke Mann zückte ein ölverschmiertes Stofftaschentuch und wischte seine Fingerabdrücke vom Beschleunigungsknüppel.

"Na dann!" sagte er, und gebannt schaute die Mannschaft auf die näher kommende Stephanibrücke.

Die „Armee der tausend Spinner“ spritzte auseinander, um dem Schiffsgiganten Platz zu machen - dennoch traf sie die Bugwelle des immer größer werdenden Schiffes. Gebannt und ziemlich ungläubig starrte die Armee erst auf die „Stubnitz“, dann auf die Brücke, dann wieder auf die „Stubnitz“. 

Justus schaute nach oben. Er wunderte sich. Das war wirklich ein bisschen zu einfach gewesen. Das würde mächtigen Ärger geben. Der Verlust der Brücke würde Bremen in östlicher Richtung komplett vom Zugverkehr abschneiden. Aber er hatte Zugfahren sowieso nie wirklich gemocht. Jedoch - so oder so - einfach mal eben große Teile der Bremer Infrastruktur zu vernichten, war durchaus eine neue Qualität, die aber durchaus Spaß machte, das konnte man nicht anders sagen. Manche Menschen wollen die Welt einfach brennen sehen!

Jäh wurde Justus aus seinen düsteren Gedanken gerissen, als die Bugwelle einige der kleinen Kanus zum Umkippen brachte und kichernde gekenterte Gestalten lachend wieder die Wasseroberfläche durchbrachen. 

"Eine tolle Armee ist das!" dachte sich Justus und ertappte sich dabei, dass er den Fehler beging, seine Situation auf eine ernsthafte Art und Weise betrachten zu wollen. Direkt vor ihm rauschte das größte Schiff der deutschen demokratischen Fischfangflotte auf eine riesige Brücke zu, und - das war jetzt klar zu sehen – rechtzeitig anhalten würde der Kahn nicht mehr können. Diese Situation ernsthaft zu betrachten, wäre tatsächlich ein Fehler gewesen. Er hob die Schultern, atmete ein, atmete wieder aus, ließ dabei die Schultern fallen und sprach zu sich selbst: "Was soll’s?" 

Er blickte zum Schiff hinauf, erstarrte, schnappte sich das Megafon und begann zu schreien.

Wie paralysiert stand die Mannschaft der „Stubnitz“ auf der Kapitänsbrücke und wusste ebenfalls, dass dieses Schiff ohne großen Knall nicht mehr zu stoppen war. Maik blickte noch einmal zu Steffi hinunter, die in ihrem Delfin in den Wellen dümpelte und winkte. Er winkte zurück, auch Justus winkte, hatte aber das Megafon in der anderen Hand, und schien etwas zu ihnen hinaufzuschreien. Die Maschinen dröhnten, nichts war zu verstehen, Maik ging zur Seite des Kapitänsstandes und öffnete das Fenster. 

"… Brücke …!" hörte er fetzenweise Justus’ Geschrei.
"Ach!" dachte sich Maik. „Ein Witzbold, der Justus!“
"Runter!" hörte er noch, blickte nach vorne und bemerkte, dass sie tatsächlich genau auf gleicher Höhe auf die Brücke zurasten. 
Er schaute sich um. Immer noch stand die verpennte, aber sympathische Mannschaft wie gebannt am Kapitänspult.

"Ey!" schrie Maik. Keiner reagierte.
"EY!" schrie er noch einmal. Nichts.

Er rannte zu ihnen hinüber und schubste ihren Anführer. 
"WAS!" schrie der ihn an.
"Wir knallen da gleich rein!" schrie Maik zurück.
"Ach, das ist ja mal ne frühe Einsicht!" gab der Mann zurück.
"Dafür hast Du uns doch grad das Schiff abgekauft!"
"Nicht das Schiff! Wir, hier oben, wir knallen da doch gleich voll mit unseren Köpfen rein!“
"Hmmm - stimmt!" sagte der Mann, machte auf dem Fuß kehrt und begann zu rennen. Die anderen erwachten, schauten ihn an, wie er sie zur Seite schubste, halb mit sich riss und halb vor sich her trieb. Sie stolperten die Treppe zur Schiffsmitte hinab, kamen in einem Knäuel aus Armen und Beinen zu liegen, rappelten sich wieder auf und rannten nach achtern, bis sie am Heck des Schiffes angelangt waren. Gebannt starrten sie nach oben.

Ein Kreischen von Stahl, der auf Stahl rieb, zerriss die Luft. Ein unendlich hohes Singen zweier mächtiger Konstruktionen schoss in die Ohren der Mannschaft und diejenigen der „Armee der tausend Spinner“. Das Schiff wurde durch den Aufprall langsamer, kam aber nicht zum Stehen, sondern fraß sich - wie in Zeitlupe - kreischend und knallend durch die Brücke. 

Dann brach der erste Pfeiler, die Oberleitungen der Züge rissen und züngelten wie funkenspeiende Schlangen in Richtung Wasser. Dann begann die Brücke, sich zu neigen.

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Tag 34 (3.8.2012)


Das Kreischen über der Stadt hielt an, wurde höher und ging in ein Grollen über.


Das Wasser brodelte, ganz so, als hätte ein verrückter Mensch über Jahre hunderttausend uralte Tauchsieder von seltsamen Flohmärkten zusammengerafft und sie in die Weser geschmissen. 
Die ins Wasser gezüngelten Oberleitungen der Züge setzten die Weser bis zum „Pannekoekship“ unter Strom, so das einigen Kindern beim Pfannkuchenessen die Haare zu Berge standen und einige Fische starben, die vom Boden des Flusses zur Wasseroberfläche hinaufgetrieben wurden und in hohem Bogen aus dem Wasser ploppten, so dass manch einer an Fliegende Fische denken musste. 

Der Teil der „Armee der tausend Spinner“, welcher von der fulminanten Flutwelle der „M.S. Stubnitz“ ins Wasser geworfen worden war, bekam einen anständigen Schock, und alle kletterten sehr wach zurück in ihre Kanus und starrten weiter ungläubig dem großen Schiff hinterher, welches sich gerade in die erste Brücke schraubte.

Der Aufbau der „Stubnitz“ ächzte, als er die Brücke traf, und der Bug begann, sich in die Höhe zu heben. Es wirkte wie ein Kampf, wie ein riesengroßes Armdrücken zwischen Architektur und maritimer Technik. Die Gegner wankten, die Brücke bog sich, die Motoren des Schiffes heulten auf. 

Die beiden kämpften und haderten miteinander, hingen ineinander wie zwei Schwergewichtsboxer im Clinch, drückten und schoben und schrien und warfen alles, was sie hatten, in die Waagschale. Die Hälfte des Schiffsaufbaus war schon eingedrückt, weggerissen und donnernd in die Weser gestürzt, da kippte die Eisenbahnbrücke endgültig, stürzte taumelnd seitlich ins Wasser. K.o.!

Der Maschinenraum der „Stubnitz“ begann zu rauchen. Schwarze Wolken stoben den Strom hinauf in Richtung Schlachte, an der sich die Badenden ans Ufer retteten. Badeverbot hin oder her - immerhin war die Weser für fast sechs Stunden bebadbar gewesen, was einen Rekord in den letzten zwölf Jahren darstellte. Dicht zogen die beißenden Schwaden hinauf, bis sie ein plötzlicher Windstoss auf den Teerhof trieb und sie sich wie Kleinkriminelle auf der Flucht um die nächste Ecke aus dem Staub machten. 

Noch lief der Motor der „Stubnitz“ und nahm noch einmal Fahrt auf. Kurz wurde es leise, und das Geschrei der Menschen am Ufer war noch zu hören, während sich das Schiff nun der Stephanibrücke näherte. 

Am Heck stand nach wie vor die sympathische Crew, die nun auch mit offenen Mündern dorthin starrte, wo sich zuvor noch eine gigantische Stahlkonstruktion befunden hatte. Die Maschine röhrte weiter wie ein sterbendes Megatier in Nahaufnahme. Nur noch der große, massiv gegossene Achterschlot ragte in den Himmel, als sie sich weiter auf die eigentliche Brücke zu bewegten. 

Für Justus, der immer noch in seinem Delfinboot saß, war die Zeit der ernsten Miene endgültig vorbei. Wie bei einem Kind mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, dem man „Ritalin“ gab, damit es noch aufgedrehter wurde - so aufgedreht, dass seine Stimmung so weit in die Höhe gejagt wurde, dass es hinten wieder herunterfiel und ruhig wurde. 

Justus nahm das Telefon und rief Willehad an.
"Willehad", sprach er ins Telefon, "das klappt alles ganz gut - die erste Brücke ist hin und das Riesending knallt jetzt auf die zweite zu!"
"Ja, ich weiß!" kam es zurück. "Freut mich, guck mal nach rechts ans Ufer!" 
Justus wandte sich nach links um, dann nach rechts, kniff die Augen zusammen und sah eine fröhliche winkende Gestalt mit einem Fernglas am Ufer stehen. 


"Ihr seht gut aus!" hörte Justus aus dem Telefon. "Das ist ja toll, wie der Schmuck der Armee in der Sonne glänzt! Ich mach schnell ein Foto, warte!"

Justus hörte die elektronische Imitation einer Kameraklappe.

"Da bin ich wieder!" hörte er Willehad. 
"Sonst alles gut bei Euch?"

"Ähem, ja!" sagte er in das Telefon. Er dachte nach. Was für eine interessante Frage. Fast beiläufig bemerkte er, wie eine Lok einen mit Panzern und allerlei Militärgerät beladenen Güterzug in das Loch schob, wo vorher noch eine Brücke gewesen war. Die Panzer und Stalinorgeln versanken wie Steine. Willehad kicherte ins Telefon. 

"Was für ein Typ!" dachte sich Justus.

War denn eigentlich alles gut bei ihnen? 
Wenn „Gutsein“ bedeutete, mit der momentanen Lebenssituation zufrieden zu sein, dann ja, dann musste er das mit „Ja“ beantworten. Dann ging es ihm gut, wenn er mal das infernalische Gekreische und Gegrolle wegdachte, das die „Stubnitz“ verursachte, die gerade einige tausend Tonnen Stahl in Richtung Stadtmitte mit sich schleifte.
War alles gut bei ihnen? 

Entgegen dessen, was er eigentlich sollte, nämlich irgendwas herumschreien und diese Armee zu „Was-auch-immer“ anzuführen, lehnte er sich zurück. Er schloss kurz die Augen, atmete einmal tief durch und befand sich auf einmal in einer anderen Sphäre. Der Klang um ihn herum wurde dumpf - es klang so, wie wenn man einmal kurz die heftigste Party der Welt verlässt und die schwere Brandschutztür hinter einem ins Schloss fällt. Das Dröhnen wurde zum Brummen. Er öffnete die Augen wieder und sah sich um. 

Alles schien sich langsamer zu bewegen, wie in Zeitlupe. Vollkommene Entschleunigung. Seine Sinne waren geschärft und alles bewegte sich so langsam und mit so einer Ruhe, dass Justus das Gefühl hatte, jetzt ganz neu, ganz anders sehen zu können. Er erblickte natürlich - wie bisher - die Dinge, die wilden Dinge, die wirklich wilden Dinge, die um ihn herum geschahen. 

Aber er sah nicht nur, DASS sie sich bewegten, er sah auch nicht nur, WIE sie sich bewegten - er sah jetzt auch, WARUM sie sich bewegten! Die Rätsel um ihn herum schienen sich zu entschlüsseln. Es war mehr ein Gefühl, als irgendetwas, das er mit Worten hätte beschreiben können. Die Zeit um ihn herum wurde irgendwie flüssig, und er bekam plötzlich einen Überblick - ein tieferes Verständnis für den Lauf der Welt. Und das genau in diesem Moment, in dem er dümpelnd aus seinem Delfinboot guckte!

Er musste daran denken, wie er damals, am Sylvesterabend, widerwillig von seinem Schreibtisch aufgestanden war und sich auf die Strasse hinaus geschleppt hatte, nur aus der widerlichen Angst heraus, irgendetwas zu verpassen. Wie er Emma und dann die anderen am Eck getroffen hatte. Wie er sich tatsächlich, entgegen seiner Gepflogenheiten, zu ihnen gesetzt hatte, ja, sogar zugehört hatte, als ein anderer Mensch etwas erzählte.

Wenn er jetzt daran dachte, machte es Sinn. Es machte Sinn, dass er sich anders verhalten hatte als sonst. 
Warum, war die Frage, warum hatte es damals diese kleine Veränderung in ihm gegeben, mit der alles begonnen hatte?
Justus fühlte sich - er suchte ein passendes Wort für den Zustand -  gelenkt - ja, das passte - er fühlte sich irgendwie und von irgendetwas gelenkt.

Er schaute sich um. Neben ihm dümpelte Emma in ihrem Boot im Wasser. Natürlich war Emma ein Grund gewesen - ein Grund, aber nicht der Grund! 

Dieses „Gelenktsein“ hatte auch nichts klassisch Religiöses im Sinne eines Gottes, der jetzt für all das hier verantwortlich wäre, dafür war es viel zu chaotisch - das konnte nicht eine höhere Macht geplant haben! 

Da war kein Plan - es fühlte sich nicht wie ein Plan an. Dafür war es zu logisch. Wie eine Gleichung - wie eine Gleichung, in die man einsetzen konnte, was man wollte. Eine Art Weltformel. Kein Plan -  eine Idee war es, ein natürliches Zusammenspiel von allem und jedem! 


Die Zeit tröpfelte. Justus’ Zeit tröpfelte. Sie tropfte sehr langsam, dickflüssig und zäh, und obwohl er es nur vom Lesen irgendwelcher Lebensmittelverpackungen am Frühstückstisch kannte, musste er an das Wort „Agavendicksaft“ denken. Was auch immer das sein sollte. Seine Zeit war Agavendicksaft!

Der leichte Schimmer, der auf den Dingen gelegen hatte, hob sich leichtfüßig und schwebte wie ein sterbendes Nordlicht gen Himmel. 

Justus fühlte sich erleichtert. Zwar hatte er für einen kurzen Moment das Gefühl, die Zeit würde schneller laufen, und kurz brandete Panik in ihm auf, doch relativ schnell kam ihm zu Sinne, dass tatsächlich einfach nur wahnsinnig viel um ihn herum geschah!
Es war so, als hätte er die schwere Stahltür zu der besten Party der Welt wieder aufgezogen. Dann stürzte er sich wieder ins Getümmel.

"Justus!" hörte er Emmas Stimme. 

Etwas zu schnell drehte er sich zu ihr herum. Tatsächlich drehte er sich schon, während sie seinen Namen rief, so dass er ihr genau in dem Moment, in dem sie seinen Namen ausgesprochen hatte, tief in die Augen schaute, so tief, dass es etwas Seltsames hatte. Vielleicht ein Zufall. Aber das wollten beide nicht so recht glauben.

"Wir sollten mal Urlaub machen!" rief Justus und übertönte das Geschepper und Geballer der einbrechenden Brücken und der in die Tiefe stürzenden Panzer.

Natürlich wäre mit einem ungläubigen Blick von Emma zu rechnen gewesen aufgrund dieses doch etwas seltsamen Gedankens zu diesem Moment.

"Ich mag Skandinavien. Da war ich als Kind mal, da ist es schön ruhig!" schrie sie zurück.

"Abgemacht!"

Steffi trieb knapp hinter ihnen. Sie wiederum schaute ungläubig, als sie das Geschrei der beiden mitanhörte. Fast unmerklich schüttelte sie den Kopf, was keiner merkte, weil auch ihr Schiff vom Wellenschlag der in die Weser stürzenden Panzer, Güterzugwaggons und schwerindustriellen Kriegsgerätschaften hin und her geworfen wurde. 

Sie schaute Justus und Emma noch einmal an, und auch sie musste noch einmal an diese aktuelle Textzeile denken: "Männer und Frauen sind das nackte Grauen, wie sie sich stundenlang tief in die Augen schauen." 

Sie drückte leicht auf den Beschleunigungshebel ihres Delfins und trieb langsam an zwei Soldaten der „Armee der Spinner“ heran, die grinsend das Schauspiel vor sich beobachteten. 

"Alter!" sagte der eine. 
"Alter!" sagte der andere.
Daraufhin sagte der eine wieder "Alter!", woraufhin der andere "Alter!" sagte, der erste wiederum "Alter!" sagte, und dieses "Alter!" wurde vom anderen wiederholt.
"Alter!"

Kopfschüttelnd fuhr Steffi ein Stück weiter und blickte der „Stubnitz“ hinterher, welche zunehmend Schlagseite bekam und hin und her wankte wie ein angeschlagener Riese und sich mit letzter Kraft auf die Stephanibrücke zu bewegte.

Vom Aufbau des Schiffes war nicht mehr viel übrig. Nur noch der Schlot auf dem Oberdeck spuckte schwarzen Rauch. Ganz hinten auf dem Schiff war in der Entfernung noch die Mannschaft zu sehen. 
Aber Maik, was war mit Maik?

Steffi drückte auf einen Knopf, und die Tauchkanzel schloss sich sirrend über ihrem Kopf. Sie tauchte ab und beschleunigte. Nach wie vor brachen große Stücke der ersten Brücke ab und stürzten ins Wasser. Auch der Güterzug schob weitere Waggons in die Tiefe, welche sich überschlugen und wie Ziehharmonikas ins Wasser senkten. 

Um Steffi herum waren Blasen. Die Unmengen von Material drückten Sauerstoff in das immer noch klare Weserwasser und ließen die kleinen weißen Perlen vor der Schnauze ihres Delfins tanzen. Sie tauchte weiter ins Flussbett und musste all dem Stahl, den umgestürzten Brückenpfeilern und den Fahrzeugen auf dem neuen Militärfriedhof hier am Grunde des Flusses ausweichen.

"Maik, was ist mit Maik?" schoss es ihr durch den Kopf. Sie machte sich Sorgen. 

Auf diese seltsame Art, die ihre sonstige Art zu Denken durchkreuzte, die in erster Linie daraus bestand, sich um nichts anderes als um sich selber Sorgen zu machen. 
„Urlaub mit Maik!“ dachte sie sich. „Könnte ich mir vorstellen!“ 

Sie stieg wieder auf und brach im Kielwasser der „Stubnitz“ durch die Wasseroberfläche. Wasser schwappte in ihr Boot, als sie die Glaskuppel zurückfahren ließ. Sie blickte nach oben ans Heck des Riesenschiffes, das auf „halb acht“ hängend immer noch auf die große Brücke zufuhr. 

Jemand hatte mit einer Farbrolle groß: "SCHADE, DASS BETON NICHT BRENNT" auf die Wand des Fußgängerwegs der Brücke geschrieben, was natürlich selbst vom anarchistischen Standpunkt aus bei einer Stahlbrücke eigentlich wenig Sinn machte, weswegen wohl auch jemand in schöner und neunmalkluger Schrift:
„DAS IST STAHL, DU PUNK!“ daneben geschrieben hatte. 

An der Heckreling stand Maik. Steffi konnte sein Gesicht nicht sehen. Alles, was von ihm zu erkennen war, waren die weißen Knöchel seiner Hand, die sich hinter seinem Rücken in die Reling krallte, während er nach oben schaute.
Wankend erhob Steffi sich, und das Boot wackelte unter ihren Füssen, als sie die Hände zum Mund hob und Maiks Namen schrie.

Aber Maik hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, und gerade auch wirklich ganz andere Sorgen, als sich von jemandem, der aufrecht in einem Delfin herumhampelte und schrie, ablenken zu lassen! 

Er stand nämlich jetzt mit dem dicken Mann an der Reling, der sich aber in bester alter Seebär-Manier nichts anmerken ließ und tatsächlich wie ein Fels in der Brandung da stand. Er wackelte nicht einmal. 
Anders als Maik. Der wurde hin und her geschleudert, und wusste nicht, wie ihm geschah. Auch er versuchte, so cool wie möglich zu wirken, aber ihm war ebenso klar, dass ihm das niemand abkaufen würde. 

Tatsächlich wurde er jetzt auch noch seekrank und seine Sicht verschwamm. Er starrte weiter am Schlot vorbei auf die immer näher kommende Brücke und versuchte, irgendwie das Gleichgewicht zu halten. Das Schiff hatte bereits eine ziemliche Schieflage und schnitt so tief in die Weser, dass bereits Wellen auf das Deck schwappten und die „M.S. Stubnitz“ noch weiter ins Wasser hinab zogen. Die Schlagseite hatte das Boot in Richtung der Stadtseite kippen lassen, und Maik sah die Menschen, die sich nun in Mengen oben an der Schlachte sammelten und staunten und starrten.

Ein Kamerateam von „Radio Bremen“ hatte sich aufgebaut, und auch „RTL“ hatte irgendwelche Jugendlichen geschickt, die sich nun beim Sangria-Eimersaufen vor der zerstörten Kulisse der Neustadt ablichten ließen. Für die Moderatoren gab es natürlich das Problem, dass niemand wusste, was das denn hier alles sollte. So schwatzten sie vor sich hin in ihre Mikrophone und waren sich nicht sicher, ob sie ihr breitestes Lächeln zeigen sollten, weil die Weser so schön war, oder ihr betroffendstes Gesicht, wegen des scheinbar tragischen Unfalls des Riesenschiffs. Moderatoren lächeln lieber, weil es beim Betroffengucken so doof aussieht, wenn man die Zähne zeigt.
Auch wusste niemand, was es mit diesen kleinen Booten auf sich hatte, in denen diese seltsamen Gestalten saßen mit all diesem seltsamen Schmuck und den spitzen Speeren. 

Der nächtliche Einbruch ins Überseemuseum hatte natürlich Schlagzeilen gemacht. Niemand konnte etwas mit dieser Art von Kriminalität anfangen. Alles was fehlte, war Blechschmuck und Kanus und die Spendenkasse vom Eingang des Museums. 
Und das gestohlene Zeug paddelte ja jetzt gerade - mehr als offensichtlich - gutgelaunt über die Weser und an der Schlachte entlang!

Die Ermittlungen der Bremer Polizei waren bezüglich des Museumsraubs noch nicht weit fortgeschritten. Der Nazi-Aufmarsch im Stadtzentrum hatte alle polizeilichen Kräfte gebündelt, und so standen jetzt auch nur vereinzelte Polizisten am Weserufer und wussten nicht, was zu tun war, während zeitgleich sämtliche Hundertschaften irgendwo in Huchting zugange waren, um die braune Brut irgendwie in Schach zu halten.

Auch hier wäre die Information gut gewesen, dass Willehad und die Führungsetage des „Clubs der Spinner“ über die letzten zwei Jahre systematisch die Partydroge „Crystal Meth“ in der norddeutschen Neonaziszene verbreitet hatten. 

Voll auf Droge und seit vier Tagen wach, demonstrierten Hitlers Erben jetzt schon seit zweiundsiebzig Stunden quer durch die Stadt und waren nun in Huchting gelandet, hatten aber leider komplett vergessen, wogegen oder wofür sie das eigentlich alles machten.

Sie begannen Polizeifahrzeuge auseinanderzubauen, weil sie der Meinung waren, sie besser wieder zusammensetzen zu können und ergingen sich in endlosem, unfassbar nervigen Drogengeschwafel mit den Polizisten, die auch nicht mehr wussten, was sie tun sollten.

Maik riss seinen Blick wieder von den Menschen am Ufer los und sah den dicken Navigator neben sich stehen. Er bewegte sich nicht.

Gar nicht! 

Maik schaute ihn an. Aber er wusste auch nicht, was er den Mann hätte fragen sollen. Langsam drehte sich der Kopf des Navigators.

"Was sagt eine Schnecke, die auf einer Schildkröte reitet?" 
"Was?" fragte Maik
"HUIII!" machte der Navigator.

Maik schaute ihn konsterniert an.

Trotz des brüllenden Lärms trat ein Moment des Schweigens ein, der wirklich sehr, sehr still war.

Der Mann lehnte sich zu Maik hinüber.
"Was macht ein einen Meter großer Spatz auf der Fensterbank?"
Weiter starrte Maik ihn an.
"PIIEEEEEPPPPP!" schrie ihm der Mann ins Gesicht.

In diesem Moment rammte das Schiff die Brücke. Es knirschte. Die letzten der Menschen, welche noch auf der Brücke standen, starrten angsterfüllt auf die Stelle, an der die „Stubnitz“ die Stephanibrücke gerammt hatte. Noch einmal knirschte es, und das Schiff kam zum Stehen. 

Stille.

"AHA!" sagte Maik und schaute den Navigator an. 
"Jetzt verstehe ich!" 

Dann kippte auch die Stephanibrücke endgültig. Maik wandte sein Gesicht ab, drehte sich um, sah Steffi in ihrem Boot stehen, verlor das Gleichgewicht, fiel rückwärts über die Reling und geriet in den Sog der Schiffsschraube.

Ein paar Meter entfernt dümpelten immer noch Justus und Emma. Mit aufgesperrten Mündern beobachteten sie das Schauspiel.
Die „Stubnitz“ dümpelte mit extremer Schlagseite. Pechschwarzer Ruß dampfte aus ihrem Schlot und Öl trat aus.

Ein schwarzer Ölteppich trieb auf die „Armee“ zu. An manchen Stellen schimmerte er in allen Regenbogenfarben und warf bunte Schatten auf die Gesichter der seltsamen Menschen in ihren Kanus, die plötzlich gar nicht mehr so belustigt herumalberten. Dunkle Mienen senkten sich auf ihre Gesichter.

Justus erhob das Megafon, führte es zu seinem Mund und wollte ein Kommando geben, doch ihm fiel nichts ein, was er sagen sollte. 
Er dachte nach. Was wollte er denn nun von diesen komischen Leuten? Er hatte keine Ahnung. Also rief er das Einzige, was ihm an diesem Punkt noch irgendwie sinnvoll erschien.

"Zum Angriff!" schrie er, und einer der „Spinner“ in seinem Inuit-Kajak erhob eine Muschel, die er anscheinend aus dem Museum mitgenommen hatte, führte sie an die Lippen und blies hinein.
Ein Laut wie die Posaunen von Jericho erklang. 

"Zum Angriff! Für Bremen!" schrie Justus noch einmal in das Megafon. Einer der „Spinner“, der in einem Boot vielleicht fünf Meter neben ihm trieb, warf seinen Speer.

Sirrend schoss die Waffe um Haaresbreite an Justus’ Kopf vorbei.

"Nicht auf mich, Du Vollidiot!" schrie er ihn an. 

"Auf wen denn dann?" schrie der Vollidiot zurück.

"Alle zur Schlachte! Wir stürmen die Boote!" schrie Justus noch einmal. Die „Spinner“ setzten sich in Bewegung.

Emma pfiff scharf und deutete mit dem Finger nach unten. Die Glaskuppel schloss sich über ihrem Kopf und die Schnauze ihres Delfinbootes neigte sich. Sie tauchte ab. Justus folgte ihr.

Dort, wo sich gerade noch feinster Sonnenschein an der Wasseroberfläche gebrochen und verträumte Linien auf den Boden der Weser gezaubert hatte, herrschte nun eine gespenstische Stimmung. Es war dunkel geworden. Es brach nur noch wenig Licht durch den Ölteppich über ihren Köpfen, als sie vorwärts in Richtung „Stubnitz“ tauchten. Sie wichen den neuen Hindernissen aus, die ihren Weg bereits teilweise versperrten, während unablässig weiterer Schutt und allerlei Unrat weiter von der abgerissenen Zugbrücke ins Wasser stürzte.

Steffi saß direkt hinter der „Stubnitz“ in ihrem Delfin und schaute fassungslos auf das Loch in der schwarzen Wasseroberfläche, das Maik durch seinen Sturz eben noch in den Ölteppich gerissen hatte, das sich nun aber innerhalb von Sekunden wieder schloss. 

Langsam, aber beständig drehte sich die Schiffsschraube weiter. Sie mahlte sich in die dicke Brühe, die aus dem Bauch der „Stubnitz“ lief. Steffi war wie gelähmt. 

Emma sah zappelnde Beine direkt vor der Schiffsschraube, die sich immer noch drehte und die Beine anzusaugen schien. Der zu den Beinen gehörige Körper kam unter Wasser. Das war doch Maik! Und er sah sie und winkte panisch, während er weiter zur Schraube gezogen wurde.

Sie wendete den eleganten Körper ihres Delfinbootes, nahm ein paar Meter Anlauf und schoss auf Maik zu. Er streckte seine Hand aus und bekam die Rückenflosse zu greifen. Emma schwenkte das Boot nach oben, kam der Wasseroberfläche immer näher, Maik hielt sich fest und gemeinsam schossen sie aus den Fluten. 

Im gleißenden Sonnenlicht flogen die beiden in Richtung Ufer.

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Tag 35 (10.8.2012)


Maiks sehr ansehnlicher Körper flog in hohem Bogen durch die Luft. Die eine Hand an der Schwanzflosse von Emmas Delfin, die andere weit aufgespreizt, so dass die Sonne durch die Finger schien und kurzzeitig einen Schatten warf, der aussah, als würde man bei einer traurigen Autofahrt als grummeliger Teenager aus dem Fenster gucken und solange zwischen diesen Befestigungspfosten hindurchschauen, dass einem noch wirrer im Kopf wurde, als es einem als Teenager ja sowieso schon war.

Emma schaute durch die Luke ihres Delfins und sah Maiks verzerrtes, nach Luft schnappendes Gesicht. Wie ein Fisch sah er aus. Wie ein großer Fliegender Fisch. Das Delfinboot knallte jetzt wieder auf die Wasseroberfläche und Maik verlor den Halt und glitschte ins Wasser.

Emma stoppte und schaltete in den Rückwärtsgang. Ein Piepen wie bei einem LKW erklang, als sie begann, langsam zurückzusetzen. Sie ließ das Verdeck auffahren, und Maiks verdattertes Gesicht erschien an der Wasseroberfläche.

"Danke!" sagte er zu Emma

"Ach, dafür nicht!" antwortete sie, und Maik kletterte unbeholfen auf den Rücken des Delfins. Er streckte alle Viere von sich und sah aus wie eine Elefantenkuh auf Madagaskar nach der Geburt von Siebenlingen. 

Emma schaute sich um und sah bereits Steffi und Justus herankommen, um sich ihr mit ihren Delfinen anzuschließen. Sie wendete ihr Boot und stoppte, wartete auf die anderen, bis sie zu ihr aufgeschlossen hatten und sie nun Schnauze an Schnauze im Wasser trieben.

Drömelig hob Maik, immer noch alle Viere von sich gestreckt, den Kopf.

"Mann, Maik, was machst du denn?" fragte Steffi in einem ziemlich mütterlichen Tonfall.

"Was soll’ n das heißen?" japste Maik und deutete mit seiner Nasenspitze auf die beiden eingerissenen Brücken links und rechts von ihnen. 

"Sind die Brückendingens kaputt, oder was?"

Justus wendete den Kopf. "Stimmt - die sind kaputt!" sagte er und sah in diesem Moment oben auf der Straße, die nun ins Nichts führte, einen Kühllaster von „bofrost“ auf das Ende der Straße zujagen. Er sah eine junge Frau, die in halsbrecherischer Manier aus der Fahrertür hechtete, sich überschlug und auf der Straße zu Liegen kam. Der Lastwagen segelte in die Tiefe und die Hintertüren platzen beim Einschlag auf das Wasser auf, die volle Ladung von nachgebautem „Magnum“-Eis in der Geschmacksrichtung "Passion" ergoss sich in hohem Bogen und die kleinen Sauereien platschten wie kleine zuckersüße Handgranaten aufs Wasser. 

Die Frau rappelte sich von der Straße auf, ging wankend ein paar Schritte auf den Abhang zu und setzte sich mit baumelnden Füssen ans Ende der Strasse.

"Danke!" rief Steffi nach oben, angelte sich eines der Eis aus dem Wasser, riss die Verpackung auf und begann zu schlecken. Die anderen taten es ihr gleich. 

"Tut uns leid, wenn du Dir wehgetan hast!" rief Emma nach oben, aber die Frau winkte ab. "Mir ist das egal - ist nur schade um die Kühlkette!" antwortete sie und zündete sich eine Zigarette an.

"Ja, um die Kühlkette ist es wirklich schade, die ist jetzt wohl hin, das tut uns auch leid. Schade um die schöne Kühlkette!" antwortete Emma. "Aber besser, als wenn die Zigarettenkette unterbrochen wird!"

Die auf der Brücke sitzende Frau nahm einen tiefen Zug aus ihrer Kippe und schaute an ihrem Körper hinunter, den einige Schürfwunden zierten. Das war sowieso ein schrecklicher Job gewesen. Sie bemerkte erst jetzt, wie sehr sie die Schnauze vom ewigen Kühlkettengelaber voll hatte.

Eigentlich, wenn man genau drüber nachdachte - so als Bild gar nicht so schlecht, so eine Kühlkette als Sinnbild fürs Leben im Sinne von Kontinuität und Konzentration und so weiter. Aber, das dachte sich die junge Frau, meine Lebenskette, die habe ich jetzt von der Kühlkette in diesem Drecksjob unterbrechen lassen - und das ist nicht gut! 

"Vergiss die Kühlkette. So wie es hier aussieht, braucht’s die bald eh nicht mehr!" dachte sie sich und sah zwischen ihren Füssen auf dieses riesige Schiff, das halb gesunken und halb zerdrückt da in der Weser lag. „Und eh ganz lustig, dass das mal eines der größten Kühlschiffe Europas gewesen war. Und so, wie das Ding jetzt aussah - da war die Kühlkette jetzt auch definitiv hin!“ 

Die Frau ließ sich auf den Rücken fallen und schaute in den wolkenlosen Himmel, der ihr gut gefiel. Vielleicht wäre jetzt Zeit für einen Drink, einfach nur mal so, um mal alleine am Tag einen Schnaps zu trinken. Gar nicht, weil sie ein Alkoholproblem hätte, sondern weil tagsüber alleine einen Schnaps zu trinken etwas Rebellisches hatte, ungefähr so wie im Supermarkt oder in der Straßenbahn zu rauchen. Kapitalverbrechen dieser Tage. Ihr war einfach danach, mal was anderes machen!

Tatsächlich lebte sie schon seit Jahren in einem Gefühl, als wäre sie ein Kakapo, dieser zu Recht Ende des Neunzehnten Jahrhunderts ausgestorbene fette Riesenvogel. Ein Tier, dass es niemals für notwendig gehalten hatte, auch nur irgendeinen Verteidigungsmechanismus zu entwickeln. Wer einen Kakapo hochhob, den schaute der Kakapo an und konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass mit ihm etwas anderes geschah, als kurz angeschaut und gestreichelt zu werden. Und er ging zu einhundert Prozent davon aus, wieder exakt an den Punkt zurückgestellt zu werden, von dem er aufgenommen worden war. Und das Einzige, was ihm einfiel, falls dass nicht passierte, war, sich tot zu stellen und stocksteif umzufallen. Weil - fliegen konnte das Vieh eh nie!

Die Frau lag auf dem Rücken und stellte sich tot, aber auch nur zwei Minuten, weil - das kann der Mensch nicht gut, sich tot stellen, weil sich das immer so nach verschwendeter Lebenszeit anfühlt, und das hasst der Mensch ja wie sonst kaum etwas.

Manchmal ist es nur ein Gefühl, das weiterhilft, meistens aber leider ein Gefühl, das man noch nicht kennt. Entweder ein schlechtes Gefühl, wie etwa tot, oder ein gutes Gefühl. So ein gutes Gefühl,  wie plötzliche Liebe oder aber, dass jemand ein T-Shirt oder ein Handtuch wirft und man es fängt, indem man es wie mit einem Karatehandkantenschlag aus der Luft fischt.

Leider warf niemand der Frau ein T-Shirt oder Handtuch zu, obwohl das Gefühl, einfach so und ansatzlos ein Handtuch vom Straßenrand zugeworfen zu bekommen, auch etwas ganz Feines ist. Das sagt irgendwie, dass jemand deine Anstrengungen im Leben zu schätzen weiß!

Sie schnippte ihre Zigarette ins Wasser runter und machte sich auf den Weg zur Pinke, um mal mit den Trinkern da ein Bier zu trinken, denn sich mit Menschen unter seinem sozialen Stand abzugeben oder sogar mal mit denen, statt heimlich im Badezimmer, einen zu saufen, das hatte ja auch etwas Revolutionäres.

Unten kam Maik, der immer noch wie ein nasses Handtuch auf dem Rücken von Emmas Delfin hing, langsam wieder zu Atem. Von oben sahen die drei Boote - so Schnauze an Schnauze - aus wie ein kleiner, funkelnder Stern der Hoffung. 

"Und jetzt?" fragte Justus, an die drei anderen gewandt. "Die ‚Stubnitz’ ist wohl hin, oder?" und blickte auf das kränkelnde Schiff und seine Besatzung, die immer noch am Heck stand. 


Da schoss bereits, so wie Sternschnuppen, die „Armee der Spinner“ mit großem Angriffsgejohle an den vier Freunden vorbei. Manche begannen schon mit ihren Speeren zu werfen, die allerdings nicht sehr weit flogen und ins Wasser platschten. 

"Ab zum ‚Pannekoekship’!" sagte Emma. "Das war doch der Plan, oder?" 

Justus nickte. 

Die Drei tauchten ab, beschleunigten, tauchten kurze Zeit später aber wieder auf, und Steffi zog den schon wieder nach Luft japsenden Maik ins Boot. "Mann, Mann, Mann!" dachte sich Justus, als sie weiter in Richtung der Mitte der Schlachte steuerten.

Am Heck der „Stubnitz“ stand der Rest der Crew und hatte einen Kreis um den Navigator gebildet. Sie schwiegen.

"Und jetzt?" fragte schließlich einer und schaute den Navigator betroffen an.
"Diese Idee mit dem ‚Pannekoekship’ ist gar nicht schlecht. Besonders gut war das Essen hier eh nicht!" antwortete er. "Lasst die Beiboote zu Wasser!"

Er schnappte sich den Koffer mit dem Haufen Geld des „Clubs der Spinner“ und kletterte umständlich ins Beiboot, welches zu Wasser gelassen worden war. Die anderen sprangen hinterher, paddelten los und übernahmen die Führung der „Armee“, welche im gleichen Moment die Überreste der „Stubnitz“ passierte und sich schwitzend und schnaufend in Richtung Pfannkuchenschiff bewegte.

Die beiden Okulare eines recht alt und verstaubt aussehenden Fernglases folgten dem wilden Gepaddel, Getauche und Geschwimme auf der Weser. Hinter dem Fernglas lagen die beiden Augen von Willehad, dem Generalsekretär des „Clubs der Spinner“.

Unter dem Fernglas hoben sich seine Mundwinkel. Erst nur leicht, dann ein bisschen stärker, bis kurze Zeit später seine schönen und starken Zähne zu sehen waren. Zur Feier des Tages entblätterte er mit der einen Hand in seiner Tasche einen „Kinderriegel“ und schob ihn sich genussvoll in den Mund.

"Sieht ganz gut aus, soweit, oder?" sagte eine Stimme zu seiner Rechten. 

Willehad ließ das Fernglas sinken und blickte zur Seite. Da stand ein Typ, nicht älter als fünfundzwanzig Jahre, einen dieser hoch aufspringenden Mittelscheitel á la Brad Pitt der frühen Neunziger auf der Birne, einen Flaum unter der Nase, eine „Helly-Hansen“-Jacke um die Schultern und weißen, knallengen Levis 501 über den Plateau-/Seitenmuster-Buffalos. Er schaute Willehad in die Augen.
Willehad schaute zurück.

"Und Du bist?" fragte er.

Der Typ schaute an sich herunter.
"Ach so, oh, ja, sorry, das ist natürlich ein bisschen verwirrend. Ich bin Gott. Ich heiß gerade aber Justin!" 

"Ha! Hättest Du es nicht gesagt, ich wär’ nicht drauf gekommen! Das letzte Mal hast Du Dich Mohamed genannt!" lachte Willehad, und die beiden machten einen Chuck und daraufhin einen Brotherhug.

"Ja, man muss mit der Zeit gehen!" sagte Justin. 

"Das ist jetzt aber auch nicht so richtig mit der Zeit gegangen. Mit den Klamotten kommst Du auch gut fuffzehn Jahre zu spät!" sagte Willehad.

"Wenn ich das mal zusammenfasse, waren meine letzten Auftritte hier auf Erden erst als neunarmiger Inder, dann als vögelköpfiger Ägypter, dann als Skandinavier im Lederschurz, dann als dicker Asiatenjunge, dann als schlappentragender, langhaariger Hippie, dann als Wüstenbewohner im Kaftan und dann als Weltall-Spacetripper „Xenu“. Mir gefällt das hier eigentlich alles ganz gut. Wirkt irgendwie moderner. I like!" antwortete Justin

"Hast du gerade "I like!" gesagt?" fragte Willehad.

"Ja, das sagt man jetzt so! Wußteste nicht, wa? Wirst auch alt! HA!" antwortete Justin. 

"Ich muss mich hier aber auch nicht von jedem beleidigen lassen!" dachte sich Willehad insgeheim, aber insgeheim denken ist, wenn man mit Gott redet, auch nicht so von Wert. Das hat was von Beten, aber sich dabei was anderes denken.

Als er ein Kind gewesen war, hatte er mal für ein Fahrrad gebetet, aber keins bekommen, also hatte er eins geklaut und dann um Vergebung gebetet. Am Schluss hatte er ein Fahrrad und ein gutes Gewissen. Das hatte Gott nicht so lustig gefunden, aber was sollte er machen. Es gab ja kein Gebot, dass man Gott nicht verarschen sollte.
Er hob das Fernglas wieder an die Augen.

Justin knuffte ihn in die Seite. "Hab Dich mal nicht so, war nur ein Witz!" sagte er. "Was guckste denn da?"

Willehad grummelte noch einen Moment in sich hinein. Dann nuschelte er zu Justin hinüber:
"Ich schau mir die Vier und Deine neue ‚Armee’ an. Läuft ja ganz gut, oder? Könnten wir eh noch mal drüber reden, was Du da vor hast."

"Gute Frage, ist irgendwie mal an der Zeit, dass sich etwas tut. Ich meine, tatsächlich ist es ja so: Alles geht kaputt. Ich glaube tatsächlich, dass ich am Anfang irgendeinen Fehler gemacht habe, bei der ganzen Schöpfungsgeschichte. Ich glaube, ich habe vergessen, ganz klar so eine Form von Lässigkeit einzubauen. In alle Bücher, die ich diktiert habe. Die kommen übrigens bald als Sammelband. 

Bei den Tieren geht das klar. Die sind eh lässig, denen ist das egal. Die sind eh immer glücklich, und vor allen Dingen haben die immer was zu tun - denen ist ja nie langweilig, die kann ich mir immer gut angucken. Wie sie da so süß und zufrieden rumturnen und Quatsch machen und sich nicht so ernst nehmen. Guckste Dir den modernen Menschen an: Immer Langeweile, von vorne bis hinten – sie wissen nichts mit sich anzufangen, gammeln rum, machen sich Sorgen und am Schluss bauen sie Scheiße!"

"Und warum gehste nicht zurück in der Zeit und bügelst das aus?" fragte Willehad überraschend professionell

"Alter - würde ich gerne!" sagte Gott. "Aber: Hast Du mal ‚Zurück in die Zukunft’ I und II  gesehen? Vergiss den dritten Teil, aber genau die Scheiße ist das. Raum-Zeit-Kontinuum und so weiter. Kannst Du dir vorstellen, wie es ist, wenn ich meinem jüngeren Ich begegne. Wenn sich meine eigene Mutter in mich verliebt? Ich zitiere Doc Brown: ‚Die Konsequenzen wären untragbar!’" 

"Ja, nachvollziehbar!" dachte Willehad. "Und jetzt willst du die ganze Welt brennen sehen? Oder wie?"

"Ich hatte an so eine Arche-Noah-Sache gedacht. Aber nicht nur mit einer Familie und den Tieren, sondern so eine Arche nur mit so coolen Menschen!" antwortete Justin. 

"Und wer sucht die aus?" 
"Na, Justus und Emma und Maik und Steffi!"
"Wieso das denn?"
"Na, breiter Genpool!"
"Ach so!"

Beide schauten weiter aufs Wasser. Die schreiende Meute kam näher. Ein Speer sirrte durch dich Luft und flog knapp an Justins Ohr vorbei. 
"Vorsicht!" sagte Willehad und schaute dem Speer hinterher, der hinter ihm in die Fensterscheibe eines Schicki-Micki-Restaurants eingeschlagen war. 

Überrascht sah er die Meute der Neonazis, die zuvor in Huchting herumgegeistert war, auf sich zuschlurfen. Wie in Zeitlupe bewegten sie sich, und kurz hatte er ein schlechtes Gewissen, all diese Menschen unter den Einfluss der Teufelsdroge „Crystal Meth“ gesetzt zu haben. 
Aber, auf der anderen Seite, so dachte er sich, war solch eine Drogentherapie, wenn sie es soweit schaffen sollten, doch eine gute Möglichkeit, in einem Abwasch gleich die Drogen und das Nazisein hinter sich zu lassen. 

Es war schon erschütternd, wie sie aussahen - ausgemergelt, abgerissen, mit schrecklichen Ekzemen im Gesicht, schwitzend und grunzend. Schwer zu sagen, ob sie aus der Hölle oder von der „Afterhour“ kamen.

Das hatte schon etwas wirklich stark zombiemäßiges. Die „Armee der Spinner“ sah die Horden ans Ufer wanken. Einer ihrer großen Vorteile bestand darin, dass sie genau wussten, was sie zu tun hatten. 

Ein normaler Soldat, der früh in seinem Leben bemerkt hatte, dass ihm stumpfe Gewalt gegenüber Schwächeren gut tat, und beschloss, seinen Lebensunterhalt mit der Ermordung von Menschen, die zufällig im falschen Land geboren waren, zu bestreiten, hätte es nun wahrscheinlich mit einer Heidenangst zu tun bekommen.

Diese „Armee“ aber bestand aus denen, an denen der normale Soldat auf dem Schulhof in der Pause ihren Gewaltdurst bemerkt hatte. Was dazu führte, dass diese „Armee der Spinner“ ihre Jugend nicht mit dummen Mädchen, die auf Gewalt standen, verbracht hatte, sondern zuhause das Abschlachten von eben diesen Zombies am Computer geübt hatte - und das bis heute lustig fand!

Der erste Speer landete beim ersten der rechtsradikalen Untoten im Oberschenkel. Er lief weiter. Der zweite steckte in seinem Oberarm. Er lief weiter. Mehr und mehr Speere durchbohrten ihn. Erst als er aussah wie ein Mettigel, schaute er an sich herunter. Er grinste. So ging das nicht mit den Zombies. In den Kopf - anders gingen die nie down! Ein breites Pilum aus der Römerzeit traf ihn genau zwischen die Augen und ließ ihn zusammensacken. 

Der Hagel der Speere hatte die Aufmerksamkeit der anderen Nazizombies auf sie gelenkt. 

Und auch, wenn ihnen nichts mehr geblieben war, schien nun für einen letzten Moment doch noch einmal ihre mörderische Wut auf die chaotischen und Steine- und Speerwerfer aufzuflammen. Statt wie ein normaler Zombie beide Arme nach vorne zu strecken, streckten diese Exemplare nur den rechten Arm nach vorne und begannen vorwärts zu marschieren.

Irritiert schaute Willehad sie an, als sie, scheinbar uninteressiert, an ihm vorbeistapften.

"Ich hab nie verstanden, warum Du so welche gemacht hast!" wandte er sich an Gott und deutete mit der Nase auf die Parteisoldaten.

"Na, Unterhaltung. Und an irgendwas muss der gute Mensch ja auch bemerken, dass er ein guter Mensch ist! Stell Dir mal vor, es gibt nichts Böses - da weiß der Gute ja gar nicht, dass er etwas richtig macht. Ich habe ganz am Anfang mit Maßstäben gearbeitet - Du weißt, das Alte, gut, böse, schön, hässlich, alt, jung - die alte Leier. Das war das erste nach dem Urknall. Maßstab? Muss es geben, sonst versteht ja keiner, was er macht! Eigentlich - und Du bist der Erste, dem ich das sage - also, Fresse halten: Ich hab das Universum nur so groß gemacht, damit alle, die da drinnen sind, merken, wie klein sie sind und damit sich nicht alle so fucking ernst nehmen!"

"Hat nicht so gut geklappt, ne?" grinste ihn Willehad an.

"Muss ich mich eigentlich von jedem dumm anquatschen lassen?" dachte sich Justin und verschränkte die Arme vor der Brust, während grunzend die Zombienazis an ihm und Willehad vorbeiwankten.

"Das Du zornig und rachsüchtig bist, hab ich ja schon gehört!" sagte Willehad, immer noch mit einem Grinsen im Gesicht. "Aber das Gott schnell eingeschnappt ist und schmollt, ist mir neu!"

Weiter flogen die Speere der „Armee der Spinner“ in Richtung Zombies, die ihren Schritt verlangsamten, als sie ein Dreadlock-Mädchen mit Antifa-Aufklebern auf dem Armeerucksack vorbeirennen sahen. 

Auch ein Schock fürs Leben: Gerade erst Links und schon Nazizombiearmee! 

Die Wut schwenkte bald von dem Mädchen ab, denn nach Jahren der Einnahme dieser furchtbaren Droge blieb ihnen nicht mal mehr der Hass gegen Liebe, sondern nur noch die Liebe zum Hass.

Und diese „Armee“ war durchaus hassenwert. Immer mehr Zombies fielen, von den Speeren getroffen. Die Teile der „Armee“, die schon alle ihre Speere los geworden waren, paddelten weiter. Einige warfen auch noch die Paddel hinterher, bemerkten aber recht schnell, dass es dumm ist, in einem Kanu zu sitzen und sein Paddel auf näherkommende Angreifer zu werfen. 

Blaulicht begann sich parallel über die Schlachte zu legen. Endlich kam die Polizei, und endlich hatte sie einen Grund, etwas gegen die braune Meute zu tun. Verwundet lagen die Zombies auf dem Uferstreifen - ein paar hatten es bis ins Wasser geschafft, bekamen dort aber Paddel auf den Kopf und trieben ohnmächtig auf dem Rücken den Fluss hinunter in Richtung Bremerhaven, wo sie hingehörten.

Die Polizei bemerkte erst jetzt, nachdem die rechte Brut unter Kontrolle war, was hier eigentlich vor sich ging. Sie sahen die halb gesunkene „Stubnitz“, die eingerissenen Brücken, die schreienden Menschen am Ufer, die nach wie vor kristallklare Weser und diese immer noch knapp sechshundert Kanus aus unterschiedlichen Erdzeitaltern. 
Sie sahen die Menschen, die darin saßen und altertümlichen Schmuck trugen. Sie sahen das Beiboot mit einem dicken Nautiker, der im Bug stand und einen Koffer in die Luft reckte, aus dem Geldscheine quollen, und der gerade schreiend mit den Leuten vom „Pannekoekship“ in Verhandlungen über einen Verkauf ihres Schiffes stand. 
Sie sahen den Güterzug, der halb ins Wasser ragte und von dem nach wie vor Panzer ins Wasser fielen, und sie sahen drei Delfine, die gemütlich aufs Ufer zuschipperten.

Der Einsatzleiter wurde ohnmächtig.

Da begann in der Oberen Rathaushalle ein kleines Alarmlicht zu blinken.




TAG 36 (17.8.2012)


Die Sonne schien mit großen Augen auf die Hansestadt und wunderte sich, welch seltsamen Vorkommnissen sie heute ihr Licht schenkte. Sie strengte sich an, ein möglichst schönes Licht zu produzieren. Das hatte sich die schöne Stadt Bremen irgendwie verdient! 

Da lagen diese beiden Brücken in dem kristallklaren Fluss, Güterzüge ragten ins Wasser hinein, hinuntergefallene Panzer hingen hilflos in der Böschung und ein Teppich von „Magnum Passion“ Eis am Stiel trieb vor sich hin und wurde von hungrigen Schleckermäulchen gejagt. 

Am Ufer lag ein Mob von Naziskinheads, welche - zu großen Teilen von Speeren durchbohrt - nicht mehr allzu gut aussahen und jetzt auch noch von der örtlichen, ziemlich genervten Polizei Handschellen angelegt bekamen. "ACAB" riefen manche, und das war nun wirklich kein letztes Wort für eine Sammlung der schönsten letzten Worte! 

Genervt wie ein überarbeiteter Starfriseur mit Beziehungsproblemen rollten die Polizisten mit den Augen und verfrachteten die rechtsgerichteten Meth-Junkies ziemlich unsanft in einen großen Bus. Der fuhr los, knallte aber nach nur zwanzig Metern gegen eine Mauer, rutschte den Uferstreifen hinunter, eierte ins Wasser und wurde, treibend wie ein Boot, mit der Weser in Richtung offenes Meer getragen. Den Bürgern und der Polizei war es nur Recht. Sollten sich doch die Engländer mit denen herumärgern. Die hatten sie schließlich erfunden!

Dezent flackerte derweil irgendwo ein hübsches rotes Lämpchen.

Ziemlich stolz und ein bisschen gelangweilt, wie die meisten Unesco-Kulturerbstücke, stand das Rathaus auf dem Bremer Marktplatz. Es guckte den Roland an, der sich aber nicht für das Rathaus interessierte, sondern jetzt seit gut sechshundert Jahren an ihm vorbeiglotzte. Ätzend: Jeden Tag das gleiche! Rathaus und Roland waren ein bisschen wie Arbeitskollegen, ein bisschen wie diese Arbeitsehepaare, die sich jeden Tag sehen - aber wirklich was laufen tut ja doch nie! 

Oben, irgendwo in den seltsamen Gängen des altehrwürdigen Rathauses, saß der Bürgermeister über den Akten seiner Stadt, und der Schweiß rann ihm über die Stirn. So konnte das ja nicht weitergehen. Was war bloß los mit dieser Stadt. Da fehlte es doch hinten und vorne. Unmöglich, wie hier das Geld versickerte. Nicht, dass irgendwo ein großer Haufen fehlte - es waren Cent-Beträge hier und da, aber das läpperte sich! 
Er bekam Kopfschmerzen. 
Genervt strich er die Unterstützung für irgendetwas Tolles und fühlte sich gleich besser. Das würde der Bürgerschaft gefallen.

Plötzlich schaute der Bürgermeister erstaunt auf. Er sah das kleine rote Lämpchen, das ziemlich wild auf dem alten, verstaubten Schränkchen in der Ecke seines Büros zu flackern begonnen hatte. Er stand auf und näherte sich dem kleinen Licht. Was war das denn nun schon wieder? 

Jeden Tag was Neues! Das hatte man nun davon, in einem Rathaus zu sitzen, das die Geheimnisse einiger Jahrhunderte barg und dazu noch einiges an verdrängten Verborgenheiten aus der Nazizeit.

Er ging durch den weiten Saal zur ornamentbeschlagenen, schweren Holztür, zog sie auf und trat heraus. 

Am Ende des Flures schwang der Hausmeister gelangweilt seinen Wischmob. Er schaute auf, als der Bürgermeister den Flur betrat.

"Hier leuchtet so eine Dings!" sagte der Bürgermeister.
"So’ n was?" fragte der Hausmeister zurück.
"Na, so’ n …", sagte der Bürgermeister, "so’ n ‚Blink, Blink’ halt!"
"Was´n für’n ‚BlinkBlink’?"
Der Bürgermeister drehte seinen Zeigefinger in der Luft. 
"So´n Tatütata!" Er kreiste mit dem Finger und wurde dabei immer schneller. "So´n Drehdings, wie das auf den Dings von diesen Dingenskirchen, die immer schon …, na sie wissen schon – brummbrumm!"
"Auto?" fragte der Hausmeister.
"Ja, aber da so obendrauf – so’n Tatütata halt!"
"Feuerwehr?"
"Nein!"
"Polizei?"
"Ja!" sagte der Bürgermeister. "Aber da so obendrauf!"
"Sirene?"
"Ja, so, aber ohne Tatütata!"
"Licht?"
"Genau, Licht - da ist so’ n Licht auf dem Dings!"
"Dings?" fragte der Hausmeister.
"Ja, wo diese Metalldinger für’n Hals drin sind!"
"Schrank!"
"Ja, Schrank, das ist es: Dings auf Dings, Licht auf Schrank!"

"Hab ich da nicht hingestellt!" sagte der Hausmeister, wischte weiter und bekräftigte sich selbst in der Meinung, dass es doch mal Zeit für ein paar jüngere Politiker hier im Dings wäre. 

"Was ist das denn?" fragte der Bürgermeister.

"Weiß ich nicht, ist mir egal und macht sowieso keinen Unterschied!" sagte der Hausmeister und schlurfte in Richtung Bürgermeister, der überfordert über seine Schulter zurück in sein Amtszimmer lugte und dann flehend in Richtung Hausmeister schaute.
"Dings, also!" sagte der Hausmeister und ging am Bürgermeister vorbei in die Amtstube. Der folgte ihm.

"Sehen sie da oben?" sagte der Bürgermeister und deutete auf den Schrank.

Trübe flammte die kleine Lampe auf und wieder ab. Sie sah wirklich aus wie ein müdes Tatütata. 

Der Hausmeister musste nachdenken. Irgendwie hatte er im Kopf, dass er das Ding schon mal wahrgenommen hatte. Irgendwann vor Urzeiten in seiner jetzt vierzigjährigen "Karriere" hier im Rathaus.

Was war da denn noch gewesen? Er erinnerte sich - das war mal eine ganz tolle rote Lampe gewesen. „PLINK PLINK!“ musste man sich denken, als sie einem in die Augen geblendet hatte. Vielleicht beim Weltkrieg? Er wusste es nicht mehr.

„Plink Plink!“ machte es auch in den Augen des ehemaligen Besitzers des „Pannekoekships“. „Plink Plink!“, als er in den großen Koffer voll Geld schaute, den ihm der Ex-Navigator der „Stubnitz“ entgegenhielt. 

Der Navigator, der sich jetzt wohl als Kapitän bezeichnen konnte, war da mit seiner seltsamen Crew, die im Halbkreis hinter ihm stand, Eis schleckte und versuchte, seriös zu gucken. 

Der Kapitän, das heißt, der Küchenchef des Pfannkuchenschiffs, versuchte sein freudiges Zittern zu verstecken, als er dem Navigator seine Hand zum Abschluss des Verkaufs seines Bootes entgegenstreckte. 
Das war wirklich ein Haufen Geld! Damit hätte er nie mehr gerechnet. Ein Wahnsinn! Endlich mal was anderes als diese ätzenden Pfannkuchen machen. Vielleicht ja mal Omelett! Eventgastronomie! Das wäre doch was! Er blickte über die Weser, in der, keine fünfhundert Meter weiter, die brennend auf Grund gelaufene „Stubnitz“ lag. Gastronomie auf einem Schiffswrack. Auch geil! Vielleicht ja was mit Techno! Er schaute den Navigator an.

"Was ist denn eigentlich da mit Euerm Schiff los?" fragte der Küchenchef den Navigator.
"Ist kaputt!" antwortete dieser knapp. 
"Willste das noch haben?" fragte der Küchenchef zurück.
"Nö - muss man ja nur wegschleppen. Ich hab mal vorsorglich die Fahrgestellnummer weggefeilt!" antwortete der Navigator.

"Kann ich das Ding haben?"

"Klar! Gib mir einen etwas kleineren Haufen Geld zurück. Da ist immerhin noch achttausend Liter Bier und ne Menge Gras an Bord!"
"Hier!" sagte der Küchenchef und kippte etwas von dem Geld aus dem Koffer in einen Eimer.
Freudig nahm der Navigator den Eimer entgegen. 
"Können wir Euer Beiboot haben?" fragte der Küchenchef.
"Nein!" antwortete der Navigator.
Daraufhin gab der Chefkoch seiner Küchencrew ein Zeichen - diese sprang ins Wasser und bildete ein menschliches Floß, auf dem sich der Küchenchef zur „Stubnitz“ fahren ließ.

Die „Armee der Spinner“, welche erschöpft vom "Speere-auf-die-Nazis-werfen" in ihren Schiffen gondelte, machte ein bisschen Platz und ließ das kraulende Floss mit dem Küchenchef schnaufend vorbeischwimmen. 

Im Rathaus standen der Haus- und der Bürgermeister immer noch schweigend vor der rot blinkenden Lampe.

"Ich weiß nicht genau, aber sieht irgendwie nach Alarm aus!" sagte der Hausmeister.

"Würde ich auch sagen!" antwortete der Bürgermeister und drückte auf einen Knopf an seinem Schreibtisch. Kurze Zeit später öffnete sich die Tür und eine unscheinbare Frau trat ein.

"Frau Dings", fragte der Bürgermeister und deutete auf das Licht, "was halten Sie davon?" 
"Sieht nach Alarm aus!" antwortete seine Assistentin.
"Ja, das finde ich auch", antwortete er. "Aber was denn für ein Alarm? Ist irgendwas los? Ist doch Mittagspause!"

"Ich checke das mal!" sagte die Assistentin, zückte ihr Mobiltelefon und rief die Homepage der „Bildzeitung“ auf. Nach den Einsparungsmaßnahmen der letzten Legislaturperiode war dies der schnellste Weg, etwas über die Stadt herauszufinden. Das fühlte sich zwar doof an, erfüllte aber seinen Zweck.

"Anscheinend herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände an der Schlachte!" sagte die Assistentin.

"Moslems?" fragten der Hausmeister, und der Bürgermeister schaute ihn böse an. 
"Der Islam gehört zu Bremen, wie die Kirche!" sagte der Bürgermeister. 
"Ich auch!" entgegnete der Hausmeister. "Ich zahl ab morgen auch keine Steuern mehr!"
Der Bürgermeister massierte sich mit Zeigefinger und Daumen die Augenbrauen. Dann wandte er sich zur Assistentin.

"Also, nicht, dass ich da was sagen wollte, aber … Moslems?"

"Nein … doch … auch!" antwortete die Assistentin. "Es scheint, als wäre der ‚Club’ zurück!"

"Was denn für ein Club?" fragte der Hausmeister.

Der Bürgermeister schaute seiner Assistentin tief in die Augen und wandte sich zum Hausmeister. 

"Der ‚Club der Spinner’!" 

„Da, Da, Daaaaa!“ machte es. 

Das war der Klingelton des Bürgermeistermobiltelefons. 
Er nahm ab. 

"Hmm, hmm!" machte er, hörte weiter zu, machte weiter "hmm, hmm!" und legte auf.
"Tatsächlich - da scheint etwas vorgefallen zu sein. Auf die Fahrräder!" befahl der Bürgermeister, wandte sich um, durchquerte den Raum und durchmaß weiten Schrittes die altehrwürdigen Hallen. 
Seine Assistentin folgte ihm mit wallendem Haar.

Der Hausmeister blieb zurück im Raum, ging zum Schreibtisch, nahm sich einen Stift und erhöhte den Etat für Hausmeistertätigkeit und Ausstattung auf zehn Millionen Euro. Dafür strich er Bremerhaven aus dem Stadtgebiet. Niemand beschwerte sich!

Der Bürgermeister und seine Assistentin eilten unterdessen die Flure entlang.
Er klopfte an die erste Tür. Es war das Zimmer der Zweiten Bürgermeisterin. Niemand antwortete. Noch einmal.

"Pff - ich bin immerhin der Bürgermeister!" dachte er sich und trat die Tür ein. Seine Stellvertreterin war eingenickt und mit dem Kopf nach hinten gekippt - um ihren Hals eine große Serviette und vor sich ein erst halb verzehrter, aber noch dampfender Hummer. 
Sie schnorchelte leise und süß.

Der Bürgermeister räusperte sich: "Ähem, ähem!"

Die im Stuhl Sitzende schreckte auf, schaute verwirrt durch den Raum und brauchte einen Moment, um zu realisieren, wer da in der Tür stand. 

"Was ist denn los?" fragte sie.
"Es gibt Probleme!" bekam sie zur Antwort.
"Zu den Fahrrädern!" kommandierte der Bürgermeister.
"Ich bin mit dem Liegerad da!" antwortete die Zweite Bürgermeisterin.
"Peinlich genug - einfach nur grün reicht wohl heute nicht mehr!" entgegnete der Erste Bürgermeister und schlug mit der Hand auf den Schreibtisch seiner Kollegin.
"Los, los!"

Die Bürgermeister und die Sekretärin liefen weiter den Flur entlang, bollerten an die Türen und befahlen die Leute heraus. Unten angekommen, bildete sich eine Traube von Politikern und Mittätern, die wie wild ihre Fahrräder aufschlossen und hüpfend versuchten, auf die Sättel zu springen. Manch einer nahm den anderen hinten drauf, und dann fuhren sie los.

Sie überquerten wackelnd den Marktplatz, am Roland vorbei, überquerten das Hanseatenkreuz und fuhren in die Böttcherstraße ein, die nun, zur Mittagszeit, vollgestopft mit Touristen war. Sie nahmen an Fahrt auf.

"Aus dem Weg, wir sind Bürgermeister!" schrie die Anführerin dieser wilden Horde, und die Touristen spritzen auseinander. Irgendwie auch sympathisch - so eine an der Spitze der Stadt! 

Die Fahrräder nahmen jetzt wilde Fahrt auf, die Fahrerinnen und Fahrer heizten unter den Arkaden des Kasinos hindurch, überschlugen sich fast auf dem Glockenspielplatz vor dem „Atlantis“-Kino, schafften es sogar noch, die vergilbten Karpfenbecken knapp vor dem Ausgang der Böttcherstraße rücksichtslos zu zertreten, und knallten in vollem Tempo auf die Fahrbahn der Martinistraße in Richtung Schlachte.

Am Bauch des „Pannekoekships“ trieben derweil die drei Delfinboote der vier Freunde. Justus schaute verdattert dem menschlichen Floß und dem darauf sitzenden und hin- und herwackelnden Chefkoch hinterher. 
"Auch interessant!" dachte er sich. 

Erstaunlich, wie viele Dinge in letzter Zeit für ihn zum ersten Mal geschahen. Manch einer sagte ja, dass die Qualität des Lebens an sich damit zu tun hätte, wie oft man etwas zum ersten Mal tat - und wahrscheinlich stimmte das sogar. So ein paar „Erste Male“ hatte Justus ja nun auch schon hinter sich, und ein paar war er bewusst umgangen. Er war zum Beispiel nie Fallschirm gesprungen. Mit Absicht. Er hatte auch noch nie jemanden umgebracht. Und auch das mit Absicht. Und nicht, weil es keine Zeit oder nicht die Chance dazu gegeben hätte, nein! 

Aber diese neumodische Liste, auf die alle Menschen immer die Dinge schrieben, die sie vor ihrem Tod noch einmal machen sollten, war ja irgendwie auch anstrengend. 

Früher war es bei den ganz Wilden der Wunsch: "Einmal mit dem Motorrad die ‚Route 66’ von New York nach Los Angeles fahren!" Heute wollen alle auf den Mond und da Golf spielen!

Kaum einer aber hatte eine Liste von Dingen, von denen er sich vornahm, sie möglichst nie, nie, nie zu tun! 

"Man sollte diese Dinge nicht erzwingen!" sagte sich Justus.
Und wenn dann einer kam und behauptete, man habe nie richtig gelebt, wenn man die Niagarafälle nicht einmal mit dem Holzfass heruntergefahren wäre, dann musste Justus entgegnen, dass nicht jede Idee gut war, nur weil sie dämlich war. Dämlichkeit war in der modernen Zeit sowieso irgendwie eine Art Qualitätsmerkmal geworden, und dumme Menschen, die Dummes taten, hatten sich schon längst ziemlich weit in den Olymp der Gottmenschen aufgeschwungen!

Was ihn selbst anging - fiel ihm bei diesem ganzen Rumgemoser und Rumgehate auf -, so hatte er aber auch noch nie einen Krieg geführt, und jetzt, da er gerade so richtig mit Spaß dabei war, dachte er sich: „Hätte man auch mal früher mit anfangen können!“

Mal bei einem Krieg dabei zu sein - so hatte er sich früher gedacht -, das wäre für die meisten Menschen mal ganz gut, um zu merken, wie gut sie es eigentlich hatten. 

So ein bisschen, wie mal aus Versehen fast sterben, und erst anschließend das Leben richtig zu schätzen wissen. Das war schon seltsam mit solchen Gedanken, weil er mit dieser Meinung plötzlich in einer Ecke mit Kriegsbefürwortern stand. Und das war er denn ja beim besten Willen nun  nicht!

Sachen zum ersten Mal tun, das schürte in Menschen immer eine Sehnsucht, doch noch mal aus ihrem alten, speckigen, abgegriffenen Leben etwas zu machen. Als ob ein Bungee-Sprung oder Italienischlernen ein versautes Leben wieder in Ordnung bringen könnte!

"Alles in Ordnung?" hörte er Emmas Stimme von der Seite.

"Si!" antwortete er.

Steffi und Maik saßen zu zweit, etwas dichter zusammengequetscht, als es nötig gewesen wäre, in ihrem Boot. Sie kicherten und saßen tatsächlich ein bisschen zu nahe beieinander, als dass das kein verliebtes Kichern sein könnte. 

"Süß!" dachte sich Emma, schaute Justus von der Seite an, der gerade nach oben starrte, fuhr langsam an die Seite von Justus’ Boot und lehnte sich hinüber, spitzte sie Lippen und wollte Justus gerade auf die Wange küssen, als ihr Delfin zu kippen begann.

Jetzt wäre Zeit für eine „Eskimorolle“ gewesen, aber - wer kann heutzutage schon noch die „Eskimorolle“! 

Gluckernd sank der Delfin in Richtung Wesergrund. Emma tauchte heraus und zog sich prustend an der Seite von Justus’ Delfin wieder über die Wasseroberfläche. 

"Na, aber hallo!" sagte Justus, als er die durchnässte Emma an seiner Seite sah und zog sie ins Boot. "Ich will an Land!" antwortete sie schmollend. Die beiden verbliebenen Delfinboote drehten bei und schipperten in Richtung Ufer.

Der bimmelnde Haufen von Politikerfahrrädern verlangsamte sein Tempo, wackelte langsam über die Martinistrasse und versuchte, dabei nicht überfahren zu werden. Die Autos hupten wie wahnsinnig, machten feinste Quietschbremsungen, und die Fahrerinnen und Fahrer streckten ihre wütenden, hochroten Köpfe aus den runtergekurbelten Fenstern. Runtergekurbelt: Schönes Wort - würde dank elektrischer Fensterheber in zwanzig Jahren auch keiner mehr erklären können, was das war: runtergekurbelt.

An der Spitze der Fahrradgang wackelte immer noch der Bürgermeister herum, als ein Autofahrer ausstieg und ihn anschrie: "Sagen Sie mal, Sie Bratarsch, was ist denn los mit Ihnen? Wohl auch nur Scheiße im Kopf, wie? Geht’s noch?"

"Hören Sie mal, wissen sie mit wem Sie hier sprechen? Ich bin der Bürgermeister dieser Stadt!" 

"Was glauben Sie denn, warum ich so mit Ihnen rede?"
"Ach so!"
"Ja, hier, nix ‚Ach so’ - mach Dich vom Acker, Du Klappstuhl!"
"Wo is’n Ihre Umweltplakette?" fragte der Bürgermeister. 
"Hier ist Ihre Scheiß-Umweltplakette!" schrie ihn der Mann an und knallte ihm einen dieser Aufkleber auf die Stirn, auf dem  geschrieben stand: "Gib mir keine Schuld, ich habe NSDAP gewählt!"

Der Mann ging zurück zu seinem Auto, ließ den Motor aufheulen, knallte den ersten Gang rein, verschwand in einer Wolke aus verbranntem Reifengummi und suchte die Demonstration seiner dummen Freunde, die leider gerade auf der Weser in Richtung England trieb.

Die Fahrradgang fuhr weiter, verlangsamte ihr Tempo aber wieder, und alle zogen ihre Lenker hoch, um sich am näher kommenden Kantstein keine Achten in ihre Vorderräder zu fahren.

Willehad stand nach wie vor mit Justin an der Kaimauer, als sie einen wild klingelnden Haufen Politiker auf Fahrrädern auf sich zukommen sahen. Der Haufen bremste gerade noch rechtzeitig und blieb vor ihnen stehen. 

"SIIEEE?" fragte der Bürgermeister.
"Na?" fragte Willehad. "Wen hätten Sie denn wohl erwartet?"

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Tag 37 (24.8.2012)


„Herr Bürgermeister,
dies ist ein Fall für die vereinten Nationen!“



Langsam zogen ein paar Wolken auf. Sie zogen nicht über den Horizont heran, so wie Wolken es normalerweise tun, sie kamen nicht über Land und Meer, oder - anders gesagt -, sie hatten keine Geschichte, die sie mit sich trugen, um sie den Bremer Menschen zu erzählen.

Diese Wolken waren mehr wie die Wolken eines Rauchers, der den tiefen schweren Rauch seiner Zigarre ganz langsam und voller Genuss aus seinem Mund sickern lässt. Eine schwere Schwade von Rauch quillt zwischen seinen Lippen hervor, eine Schwade, die nicht abzieht, sondern wie das Sahnehäubchen auf einem „Bananensplit“ am Himmel stehen bleibt.

Justus schaute nach oben: Tatsächlich - diese Wolken zogen nicht herauf, sie ploppten einfach so in den Himmel. Sie thronten fett und saftig am Himmelszelt. Aber sie waren nicht einfach da. Sie wirkten, als würden sie warten. 

Fette weiße Berge, wie aus französischem Baiserteig gemacht, die bedrohlich am Himmel hingen, so wie ein feister Schläger am Ende einer dunklen Gasse der Großstadt, der sich in Vorfreude auf seine Opfer schon mit dem Knüppel in die hohle Hand drischt. 

Willehad, der Gott Justin und der Bürgermeister von Bremen standen sich gegenüber, und im Hintergrund der beiden spielte sich immer noch Wahnsinniges ab, obwohl sich die Lage etwas beruhigt hatte. Immer noch hingen fette schwarze Rauchschwaden über der Weser. 


Die Augen des Bürgermeisters wurden immer größer. Seine zunächst geblendeten, stecknadelkopfgroßen Pupillen weiteten sich vor Schreck in imposant gemusterte Untertassen. Er blies die Backen auf. Sein Blick wanderte über den Horizont, über die Silhouette des Teerhofs und die Neustadt. Sein Kiefer klappte auf. Ein Wahnsinn! Langsam und mit zuckenden Augäpfeln durchmaß er das Szenario, bis er wieder bei Willehads Gesicht angelangt war.

"Hallo!" sagte Willehad und wedelte mit der Hand vor dem Gesicht des Bürgermeisters herum. 
"Hallo!" wiederholte er, als sich die Augen des Bürgermeisters langsam wieder in seine fixierten. Es dauerte einen Moment, bis Willehad das Gefühl hatte, dass auch der Geist, der hinter diesen Augen steckte, ihn anschaute.

"So!" sagte Willehad und blickte gelassen zurück.

"Was ...?" schnappte der Bürgermeister nach Luft. "Was ist hier los?"
"Ach so, ja, also - die Bürger schlagen zurück!"

"Was soll das heißen, die Bürger schlagen zurück?"

"Naja, also - sie schlagen nicht direkt, also nicht mit Fäusten oder so - das ist mehr bildlich gemeint!" 

"Ich weiß, was das heißt, wenn jemand zurückschlägt!" entgegnete der Bürgermeister fassungslos, löste seinen Blick von Willehads Augen und schaute wieder auf den Fluss.

"Sie sollen mir sagen, was hier passiert ist! Stecken sie hinter diesem Ganzen, hinter diesem ganzen Unfug?" zischte er Willehad entgegen.

"Ja, gut …dahinterstecken - mit Stecken hat das eigentlich nicht so viel zu tun. Also, ich finde das eigentlich alles eher sehr befreiend!"

"Was ist befreiend?" fragte der Bürgermeister. 


"Na, mal wieder Alarm zu machen! Das letzte Mal ist ja nun wirklich schon wieder einige Zeit her. Das vorletzte Mal waren - lassen sie mich nachdenken - die Straßenbahnkrawalle auf dem Domshof Neunzehnhundertneunundsechzig, und das letzte Mal, dass wirklich was passiert ist, war Neunzehnhundertachtzig, als wir diese Vereidigung im Weserstadion gesprengt haben - das ist ja nun auch schon wieder zweiunddreißig Jahre her. Himmel, wie die Zeit vergeht! Mein Gott, wie alt Sie geworden sind!"

"Das ist doch keine Erklärung! Ich verlange auf der Stelle eine Stellungnahme der …, der Dings!" suchte der Bürgermeister nach den richtigen Worten, um zu beschreiben, was hier vor sich ging.

"Verantwortlichen!" schrie die Zweite Bürgermeisterin dazwischen.

Willehad überlegte. Er schaute zur Seite, wo Justin stand und belustigt die pluderroten Gesichter der anwesenden Politiker musterte. Was war der Grund für das alles hier? Er konnte ja jetzt schlecht von der kommenden Schlacht um das Ende der Welt erzählen - das war sogar für den Chefsekretär des „Clubs der Spinner“ etwas hoch gegriffen! 

Er lehnte sich nach vorne und sprach leise aber bestimmt.
"Herr Bürgermeister, die Frage, was schief läuft, die sollten Sie doch wohl selber am besten beantworten können!"

"Was? Woher soll ich das denn wissen?"

"Überlegen Sie doch mal - was könnte der Grund sein, dass es hier nicht so ist, wie Sie es gerne hätten?"

"Das weiß ich doch nicht! Ich wiederhole mich: Stecken sie hinter dieser ganzen Sache? Ist das hier eine Form von Dings?"

"Dings?"

"Ja, hier!" Er wandte sich zur Zweiten Bürgermeisterin an seiner Seite. "Dings!" sagte er und schaute sie an.

Dings! Wie sie das hasste! Dings, Dingsbums, Dingenskirchen – es wurde wirklich Zeit, dass der alte Mann endlich ging und für sie seinen Stuhl räumte! Diese Lauerposition im Nachbarbüro ging ihr sowieso auf den Dings ..., äh … Keks!

"Sie meinen Protest!" sagte sie bestimmt.

"Nein, nicht Protest – Dings!" sagte Justin, der nach wie vor schmunzelte.

"Und Sie sind …, wenn ich fragen darf?" blaffte der Bürgermeister.

"Ich bin der Justin, und ich bin hier mitverantwortlich, Herr Dings!" sagte der Gott Justin und trug immer noch die weiße „Levis 501“, die „Buffalo“-Schuhe, die „Helly-Hansen“-Jacke und die „Beverly-Hills-90201“-Frisur. Er streckte dem Bürgermeister die Hand hin. Der ignorierte sie und wandte sich wieder zu Willehad, der ebenfalls schmunzelte.

Hätte der Bürgermeister - der alte Superchrist - gewusst, dass er gerade mit Gott redete, hätte er wahrscheinlich ein bisschen mehr Höflichkeit an den Tag gelegt!

"Ich bin nicht Dings, ich bin immer noch Herr Bürgermeister. Und falls es Sie interessiert - ich bin hier auch verantwortlich - das hier ist nämlich meine Stadt!"
"Das weiß ich doch, Bürgermeisterchen! Gefällt ihnen nicht, was Sie sehen?" fragte Justin.
"Ob mir gefällt, was ich sehe? OB MIR GEFÄLLT, WAS ICH SEHE??? - - NEIN, MIR GEFÄLLT GANZ UND GARNICHT, WAS ICH HIER SEHE!!!" fuhr er aus der Haut.

"Ja, das kann ich verstehen!" entgegnete Willehad.

In diesem Moment erreichten die verbliebenen zwei Delfinboote der vier Freunde Emma, Maik, Steffi und Justus das Ufer und liefen mit ihren Nasen auf Grund. Surrend öffneten sich die Glaskuppeln und die Vier wateten durch das seichte Wasser an Land. Sie sahen Justin und Willehad oben auf den Treppen der Schlachte stehen und liefen mit weichen Knien die Böschung hinauf. Schnaufend erstiegen sie noch die Steintreppen und blieben schließlich neben den beiden und vor dem Pulk der aufgebrachten Politiker stehen. Justin bemerkte sie zuerst, zeigte ihnen versteckt hinter Willehads Rücken den Top-Daumen und tippte ihm dann auf den Rücken. Justin schaute zur Seite.

"Ah, sehr schön! Ich möchte Ihnen jemanden vorstellen", sagte Justin und vollführte eine weltmännische Geste seiner Hand zwischen Justus und dem Bürgermeister. 

"Dieser nette junge Mann ist Ihr erster Ansprechpartner für die Dinge, die gerade geschehen und wohl noch geschehen werden!"

Justus trat vor, bekam noch „High five“ von Justin und streckte dem Bürgermeister die Hand entgegen. 

"Hi!" sagte er, und verdattert nahm der Bürgermeister seine Hand. Er drückte ein bisschen zu fest zu und zog Justus zu sich heran.
"Vielleicht haben Sie ja eine Erklärung für dieses Chaos?"

"Erklärung!" antwortete Justus. "Das ist ein großes Wort - aber um es kurz zu sagen: Nein, habe ich nicht, und ich war am Anfang auch skeptisch. Aber jetzt, mit ein bisschen Abstand und nach einigem eingerissenen öffentlichen Eigentum und ihrem unbezahlbaren Gesichtsausdruck, würde ich sagen: Rückwirkend lohnenswert!" 

Er schaute dem Bürgermeister ins Gesicht, und dessen Kopf bekam langsam comicartige Auswüchse. In Justus’ Kopf verwandelte sich der Schädel des Bürgermeisters zuerst  in einen laut pfeifenden Wasserkochtopf, dann in einen großen, knallroten Wecker, der laut und wild wackelnd bimmelte, und am Schluss in eine Sylvesterrakete, die in den Himmel emporzischte und mit ihren explodierenden Funken "Tilt! Tilt!" in die Luft schrieb. Dann beruhigte er sich langsam wieder – sogar ein bisschen zu sehr, wie Justus fand. Ganz ruhig stand der Bürgermeister da, wie ein friedlicher, im Wald vergessener „Castor“-Transporter, der von Pflanzen überwuchert worden war und jetzt niedersächsischen Obdachlosen Schutz und Wärme bot. Tatsächlich war die Ähnlichkeit sehr stark, denn auch gegen den Bürgermeister hätte man ein rohes Ei schmeissen können - und es wäre gebraten zu Boden gefallen!

"Rückwirkend lohnenswert also?" fragte er in gepresstem Tonfall und stemmte die Fäuste in die Hüfte.

"Ja, das würde ich so sagen!" antwortete Justus. "Naja, also - wundern sollte Sie das ja eigentlich nicht, oder?"

"Nein, ich wundere mich gar nicht!" sagte der  Bürgermeister in sarkastischem Tonfall. "Es wundert mich gar nicht, dass Sie und Ihre Spießgesellen hier eine Bundesstraße und eine Eisenbahnbrücke niederreissen, nur um dann der Meinung zu sein, das wäre ‚nachhaltig lohnenswert!’"

"Naja, also - vielleicht ist Ihnen aufgefallen, oder - anders gesagt: Gerade Ihnen sollte doch wohl mal aufgefallen sein, dass es ein gewisses, sagen wir mal, Unwohlsein in der Gesellschaft gibt. Sie haben doch diesen Beruf, sich den ganzen Tag die Stadt anzugucken und sich zu überlegen, was da schief läuft!"

"Pah!" platzte der Bürgermeister heraus. "Ich weiß natürlich, dass es Probleme gibt. Aber das soll jetzt Ihr Grund sein, die Revolution auszurufen? Erstens ist die Revolution laut Grundgesetz verboten, und außerdem geht es Ihnen doch gut! Wenn ich mir Sie so anschaue, geht es Ihnen vielleicht sogar ein bisschen zu gut!"

Gerade in diesem Moment bemerkte Justus, wie sehr er die Schnauze voll hatte von bornierten Arschlöchern wie diesem Angehörigen der politischen Klasse. Eine Wut stieg in ihm auf.

"Mir geht es gut, Herr Bürgermeister - danke der Nachfrage! Mir geht es gut, ja, mir geht es sogar sehr gut. Und wissen Sie, warum es mir jetzt gut geht? 
Weil es mir mittlerweile egal ist, was Sie tun! Sie glauben doch, dass wir glücklich wären, nur weil Sie uns was zu Fressen geben; aber ich sage Ihnen eins: Wir haben die Schnauze voll vom Fressen! Es ist uns egal! Wir besorgen uns unser Fressen von heute an selber! Sie sitzen da und regeln das Geld dieser Stadt, und das Verrückte ist ja auch noch, dass die Leute ihnen glauben, dass alles besser wäre, wenn sie irgendwie an Geld kommen würden. Dass Ihr beschissenes Geld die Lösung wäre für ein ganz anderes Problem. Das Geld ist doch nicht das Problem. Das Geld ist scheißegal! Es gibt gar kein Geld! Das ist ihre verdammte Erfindung! Sie glauben, die Menschen wären verzweifelt und fertig,  vollkommen am Ende, weil ihnen das Geld fehlt? Ich sage Ihnen, die Menschen sind verzweifelt, fertig und am Ende, weil sie glauben, dass sie Geld bräuchten. Die Welt ist wie auf Kokain, jeder lebt mit dem Gefühl, dass er Geld braucht, um überhaupt irgendwer zu sein, um überhaupt eine Berechtigung zum Leben auf diesem Planeten zu haben!
Die Welt ist wie ein verdammter Kokainjunkie, der glaubt: ‚Noch ein bisschen mehr und ich bin am Ziel, nur noch eine Line, nur noch tausend Euro, nur noch zehntausend Euro, nur noch eine verfickte Million Euro, dann bin ich da, dann bin ich am Ziel, dann bin ich im Paradies!’.
Aber das Ziel, das gibt es überhaupt nicht! Das Ziel haben Sie sich ausgedacht, damit die Menschen für Sie arbeiten. Und wie bei jedem Dealer, ist der erste Rausch umsonst, ist der erste Schuss frei. Das ist doch ein Wahnsinn, stellen Sie sich das mal vor: Das erste Taschengeld bekommt ein Kind dieser Tage mit sechs Jahren! Würden Sie ihrem sechsjährigen Kind eine Prise Kokain in die Frühstücks-Cerealien kippen, nur damit es zur Schule geht, um später einen Beruf zu erlernen, den es nur hat, um noch mehr Kokain haben zu können?
Ihr habt uns alle süchtig gemacht nach eurem Drecksstoff, Ihr habt uns süchtig gemacht mit Eurer Idee, alles gleich zu machen - dass jeder alles von jedem haben kann, wenn er nur genug von Eurem Stoff in der Tasche hat. 
Die ganze Welt hängt an Eurer Nadel, und sogar Ihr, die Ihr Euch das alles als Plan mal ausgedacht hattet, habt vergessen, dass kein Süchtiger dieser Welt glücklich wird, nur weil er genug von seiner Droge bekommt. In der Welt der Süchte kann er vielleicht glücklich werden, aber von der Welt der Freiheit hat er keine Ahnung! 
In einer Welt, in der Glück und nicht Ware oder Dienstleistung zählte, wäre er, genauso wie ein Exjunkie, nicht mehr in der Lage, einen normalen Alltag zu führen.
Ihr habt sie versaut! Von vorne bis hinten versaut! 
Ihr habt ihnen die Wurzeln genommen. Ihr habt ihnen die Freiheit genommen, weil ihr für die Freiheit eine Währung erfunden habt und den Preis seitdem immer höher setzt - immer so hoch, dass ihn sich kein Mensch leisten kann!

Und das Verrückteste ist ja: Es gibt kein Wir und kein Ihr! Es gibt gar keine Unterschiede, es gibt keine Rassen, es gibt keine Grundvoraussetzung, die sagt: Das sind die da oben und das sind die da unten. Es ist eins! Eine Menschheit! Nicht mal das - es gibt nur ein Lebewesen, einen riesengroßen Organismus, der wir alle zusammen sind!  
Ein Wesen, das wir sind - nur haben wir dieses ‚Wir’ vergessen! Nicht mal einen Unterschied zwischen Menschen und Tieren gibt es. Es gibt nur einen verdammten Kreislauf. Es ist alles ein Fleisch. Ein Körper. Und welch ein verrückter Körper ist es, der sich selber jeden Tag mit voller Kraft in den Arm beisst und sich dann wundert, dass er Kopfschmerzen und schlechte Laune bekommt? 
Der sein eigenes Bein frisst und sich wundert, dass er nicht satt wird.
Es gibt nur ‚Wir’!
Keine Unterschiede. Nur Verwirrung. Es ist - verdammte Axt! - alles eins! 

Und alles, was schief läuft, läuft in uns schief, nicht da draußen irgendwo. Es gibt kein ‚Draußen’ im Leben, es gibt kein ‚Außerhalb’. Alle gehören dazu!
Ohne eine einzige Ausnahme!

Dieses ‚Oben’ und ‚Unten’, dieses ‚die Einen’ und ‚die Anderen’ ist eine Krankheit, wie ein im Labor gezüchtetes Virus. Ein Virus, das sich teilt, damit einer herrschen kann. 
Es ist wie Krebs. 
Denn Krebs ist auch nur eine Zelle, die wuchert und kein Ende kennt - die kein Ende des Wachstums kennt. Die nie zufrieden ist. Die nur im Wachstum leben kann. 
Wir sind kein Kreislauf mehr, wir sind eine Maschine, die immer neuen Kraftstoff braucht, bis alles verbraucht ist!


Und das Beste ist ja noch: Wir wissen es eigentlich. Alle wissen es - alle wissen, dass irgendetwas schief läuft. Alle haben ein seltsames Gefühl im Bauch, ein echtes Gefühl, dass das Leben eigentlich mehr zu bieten haben sollte, als Sorgen und Furcht vor dem Morgen. 
Aber hier wird es ja erst richtig pervers. 
Es gibt dieses eine Gefühl, das nie satt wird. Dieses Gefühl, das nie zu befriedigen ist. 
Es heißt Angst! 
Dieses Gefühl, dass immer mehr fressen will. Das niemals aufhört, alles in seinen gierigen Schlund zu ziehen. 
Alles, was einmal gut war, verwandelt es in einen Untertan.
So ist die Angst, sie frisst alles, was schön und glitzernd und gut war, und macht es sich zu Eigen. 
Angst verwandelt alles - sie verwandelt Vertrauen in Missgunst und Zweifel, sie verwandelt Liebe in Hass, sie verwandelt Fürsorge in Kontrollsucht und sie verwandelt Freunde in Konkurrenten. Sie macht aus Söhnen Vatermörder und aus Töchtern traurige Psychologinnen. Sie macht aus Mord Überleben und sie macht aus dem Tod das Ende.

Diese Angst ist es, die die Welt wahnsinnig macht. Und diejenigen von uns, die sie zu lenken wissen, haben von dieser Droge gekostet, und den Wenigsten hat sie schlecht geschmeckt. Es ist kein Zufall, dass Macht und Geld zusammenfinden. Denn beide haben nur eines zur Folge: Angst! 

Schaut sie euch an, die Flüchtlingslager, die Menschen die nur für Macht und Geld erschossen, ausgehungert und verdurstet werden. Für nichts und wieder nichts. Niemand wird glücklich, weil ein anderer für ihn stirbt! 
Leute schreien, Fleisch sollte man nur essen, wenn man selber schlachten kann. Wie wäre es denn mit: ‚Ein jeder darf überhaupt nur etwas essen, wenn er auch morden kann!’
Das nur derjenige etwas besitzen darf, wenn er auch stehlen kann - und Auto fahren darf nur, wer auch Bomben werfen kann!

Es geht doch darum, dass die Leute all die Dinge wissen, die schief laufen. Ohne Frage wissen sie all das, und wer es nicht weiß hier im Westen, der will es nicht wissen. Es liegt vor uns wie die Sonntagszeitung auf dem wohlig gedeckten Frühstückstisch, und wir entscheiden uns, ‚Angry Birds’ zu spielen!
Alle wissen es. Nur keiner kann es an sich heran lassen. Das Grauen auf der Welt ist zu groß geworden, um mit den degenerierten Gehirnen unserer Welt verdaut werden zu können!

Es ist uns bloß nicht bewusst. Und das führt dazu, dass wir uns nicht mehr erschrecken, wenn wir etwas erfahren, das uns eigentlich erschrecken sollte! Wir stumpfen ab - bis zum Anschlag stumpfen wir ab. So wie ein Speed-Freak sich die Zähne niederkaut und abschmirgelt, so schmirgeln wir unsere Nerven und unsere Gefühle herunter, bis die Angst sie ersetzt.
Aus Angst geschmiedete Implantate ersetzen den Blick für das Wahre, für das Schöne, für das Gefühl, wie wunderschön eigentlich alles ist! 
Es sind von uns abgegriffene Wörter und ausgelatschte Floskeln - aber freie Liebe und freie Energie, das wäre es doch! Es ist alles da, und die thermodynamischen Grundsätze gelten ja für beides! Du kannst keine Liebe erschaffen, du kannst sie nur anders lenken, genauso wenig, wie du Liebe zerstören kannst. Nichts kann etwas Neues erschaffen. Alles ist schon da. Es wechselt nur die Bahnen. Nur die Rollen, das ist das Entscheidende!
Es gibt das Große. Es gibt das perfekte System. Es heißt Natur. Und ob wir wollen oder nicht, wir sind ein Teil davon - wir werden nie über der Natur stehen. 
Um etwas Neues zu erschaffen, müssten wir der Natur ihre Energie rauben und somit uns selber die Energie rauben. Wir müssten uns selbst aussterben lassen, um etwas Neues zu beginnen.
Denn man kriegt die Natur aus dem Menschen, aber nie den Menschen aus der Natur! 
Sie fragen, warum wir tun, was wir tun? Ganz einfach: Es ist die Zeit gekommen, vielleicht die letzte Möglichkeit unserer Zivilisation, wo noch einige den Mut haben, sich der großen Angst zu stellen, ihr ins Gesicht zu schauen und zu sagen: ‚Lass mich in Ruhe. Du bist nicht meine Mutter!’“

Es wurde still, nachdem Justus geendet hatte. Betreten standen die Politiker und die vier Freunde da. Willehad und Justin schauten auf den Boden und, wie um die Stille zu unterstreichen, explodierte im Hintergrund die Küche des „Pannekoekships“, als der dicke Navigator versuchte, einen Pfannkuchen mit leckeren Himbeeren zuzubereiten. Ein riesiger Klecks süßen Kuchenteigs stieg in den Himmel empor, breitete sich in der Luft aus und ergoß sich auf die Umstehenden.
Emma schaute nach oben, fuhr mit einem Finger an Justus’ Wange entlang, steckte sich den Finger in den Mund und sagte: "Himbeere, hmm, ich liebe Himbeere!“

Der Bürgermeister starrte Justus an. Der süße Teig rann ihm über die Stirn und tropfte an seinem Kinn vorbei auf den Boden.
"PAH!" sagte der Bürgermeister.
"PAH! Sie werden schon noch sehen, was Sie davon haben!"

"Nein!" mischte sich Justin nun doch ein, nachdem er den besudelten Justus mit einer gehörigen Portion Respekt noch einmal gemustert hatte und sich nun sicher war, dass er der Richtige war, seine göttliche „Armee der Spinner“ anzuführen.
"Nein, der Junge hat recht. Es stimmt, er wird schon noch sehen, was er davon hat. Aber das werden SIE auch. Der einzige Unterschied ist: ER wird es genießen können!"

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Tag 38 (31.8.2012)

„Party, Bruda!“


In Maiks Kopf ging es ziemlich rund. So rund, wie es schon sehr, sehr lange nicht mehr rundgegangen war. So viele Dinge geschahen um ihn herum, dass er mit seinem kindlichen Geist kaum in der Lage war, sich noch irgendwie festhalten zu können. Und wenn er mal so etwas wie einen Boden unter seinem Geist gehabt hatte, dann schien dieser nun langsam ins Rutschen zu geraten. 

Es war schon immer so gewesen, dass auf dem Boden, auf dem sein Geist fußte, ein mit hässlichen Hartz-4-Mustern versehener Teppichboden lag. Und an diesem Teppich schien nun irgendwer gehörig zu reissen und zu zerren! 
Vor seinem geistigen Auge stand er auf einem ewig langen Läufer, der den kalten, stinkenden Flur eines versifften Teneveraner Hochhauses hinunterlief und sich im fehlenden Licht der kaputt geschlagenen und mit Feuerzeugen gerußten Glühbirnen unter der abblätternden Decke verlor. 

Er hatte das Gefühl, dass da hinten irgendwer stand, das Ende des Teppichs in beiden Händen hielt und sich konzentrierte, um dann diesen Trick mit der Tischdecke und dem teuren Porzellan zu machen. Nur halt mit ihm, statt mit wertvollen Tassen und Tellern. Irgendwer war da. Irgendwer, den er kannte, aber egal, wie fest er die Augen auch zusammen kniff, er konnte nur einen Schatten am Ende des Flurs erkennen.

Er schaute sich um, da stand Steffi neben ihm, daneben Emma. Justus hatte gerade seine Rede gegenüber dem Bürgermeister beendet, und in dem Moment, als er fertig gesprochen hatte, war die Küche des hinter ihnen liegenden „Pannekoekships“ explodiert. Immer noch klatschten Teile der Himbeerteigmasse vom Himmel und landeten - gar nicht unangenehm! - in seinem Gesicht.


Alles, was im Moment in ihm und um ihn herum passierte, war wie eine explodierende Sensation von Gefühlen, die er so noch nicht erlebt hatte. Tatsächlich spürte er so etwas wie eine Verantwortung seinen neuen Freunden, aber auch der „Armee der Spinner“ gegenüber.
Das war schon lustig, denn die Idee, ihn irgendwie über die Zuteilung von Verantwortung gerade zu biegen, hatten auch schon die Erzieher im Jugendarrest gehabt. Diese seltsamen Trainer, die durchtrainiert waren und aussahen wie üble Schläger, aber sich anscheinend genau dadurch dazu berufen sahen, jungen Intensivtätern zu erzählen, dass sie keine Schläger werden sollten.

Das hatte Maik nie verstanden. Es war nie zu ihm durchgedrungen, was denn der Sinn war, erst zu lernen, wie man Leute verprügelt, nur um es dann doch nicht zu tun. Das war, wie jemandem beizubringen, Geld zu verdienen, und ihm dann zu erzählen, dass es besser wäre, arm zu sein. 
Wahrscheinlich machte das tatsächlich Sinn, aber ja doch wohl eher in einer Zen-mäßigen Art und Weise. Nach dem dritten Besuch in der Jugendbesserungsanstalt hatten sie ihn rausgeschmissen, und er war irgendwo in Tenevers Hochhausschluchten abgetaucht.

 Abends, nach dem Rausschmiss, war er im Regen wieder in sein altes Hochhaus geschlurft und wusste, dass er zu seinen Eltern mit Sicherheit nicht zurück konnte. Besser gesagt, es nicht wollte, aber es so sehr nicht wollte, dass er es auch einfach nicht mehr konnte.
Als er vor seinem Hochhaus stand, hörte er Geschrei aus dem achten Stock und sah, wie die Polizei gerade einen kleinen Gras-Dealer aus seiner Wohnung prügelte. Maik blieb stehen und wartete, bis sie den Dealer in die JVA Oslebshausen abtransportiert hatten. 
Er verbrachte die nächsten paar Wochen in einer Wohnung, von der er wusste, dass ihr Bewohner bis auf Weiteres diese Schlafmöglichkeit nicht wahrnehmen würde.

Das entwickelte sich zu einem Spiel: Kam der eine Dealer aus dem Knast, verpfiff er den nächsten und hatte wieder für ein paar Wochen ein Dach über dem Kopf, wo er schlafen und sich auf seine nächtlichen Streifzüge durch sein Viertel vorbereiten konnte.
Drogen waren nie so sein Ding gewesen, weil sich im zugedröhnten Zustand in seinem Kopf immer ein Gefühl der Langeweile Platz gemacht hatte, das er erst später zu der Angst, unnütz zu sein, umdeuten konnte.

Da war eine große Leere in ihm gewesen, und egal, mit welcher Droge er sie zu stopfen versuchte, die Droge schaffte es nie auch nur annähernd, ein Gefühl der Sättigung in ihm herzustellen.
Was ihm gut gefiel, war das Draußensein. Nächtens um die Ecken zu huschen, sich in den dunklen Ecken Tenevers im Schatten der Hochhäuser herumzudrücken und die Menschen da drinnen beim Leben zu beobachten. 

Das hatte etwas von Freiheit, und auch, wenn ihm Lernen in der Schule oder wo immer es von ihm verlangt wurde, unendlich zuwider war, steigerte sich in der Dunkelheit sein Interesse am Treiben der anderen Menschen bis ins Unendliche.
Er hatte nie verstanden, warum Menschen Dinge taten. Das, was ihm immer fehlte, war der Grund hinter den Dingen. Warum sollte man denn aufräumen, wenn es am nächsten Tag sowieso wieder dreckig war?

Aber die Menschen taten es. Es war ganz so, als würden sie das Gefühl der Überflüssigkeit nicht kennen. Sie versuchten, sich jeden Tag ihre Daseinsberechtigung aufs Neue zu erarbeiten. 

Sie standen auf, spülten ab, trugen die Wäsche in den Keller, wuschen die Kleidung, telefonierten, guckten irgendwas im Fernsehen, schraubten Glühbirnen ein, wischten Staub, färbten sich die Haare, betrogen ihre Ehefrau, gingen die Wäsche wieder aus dem Keller holen, nahmen Pakete in Empfang, ölten die Türscharniere und tranken heimlich Schnaps auf dem Klo. All das konnte er von seinen kleinen Beobachtungsposten gegenüber den Hochhäusern beobachten, und er merkte sich alles.
Er wusste mittlerweile, welche Wäsche man bei wie viel Grad und mit welchem Waschmittel in welcher Waschmaschinenprogrammierung wusch und wie man Geschirr einweichte. Er wusste sogar, wie man Spannbettlaken perfekt faltete. Er merkte sich alles, was zu einem normalen Leben dazu gehörte. Nur, dass er all das nie anwendete. Weil er das große „Wieso?“ überhaupt gar nicht verstand.

Das sah alles nicht nach Spaß aus, und sogar, wenn die Menschen in den Häusern lachten, wenn sie zusammen saßen, schnellten ihre Mundwinkel in einer Geschwindigkeit in ihre freudlose Ausdruckslosigkeit zurück, dass es ihnen eigentlich die Haut hätte vom Gesicht reißen müssen!

In Maik tobte ein wildes Unverständnis für das Leben an sich. Und dieses Unverständnis ließ ihn über Jahre nicht los. 
Eigentlich war es allgegenwärtig, doch begann es allmählich, sich aufzulösen.  Und zwar wundersamer Weise genau an dem Tag, als er sich, warum auch immer, plötzlich mit den seltsamen anderen Dreien vor dem „Coffee Corner“ sitzend wiedergefunden hatte. 

Schon spannend! Jetzt stand er hier an der Schlachte - die Brücken  um ihn herum brannten, die Menschen waren in Aufruhr, der Bürgermeister stand ihnen eingeschnappt und mit verschränkten Armen gegenüber und an seiner Seite stand dieses Mädchen Steffi, das er wirklich zu mögen begann.

Tatsächlich schwappte dieses kleine Gefühl in ihm herauf, dass er sich Sorgen machte, sich um Steffi Sorgen machte, aber tatsächlich auch um die beiden anderen - sogar um die Stadt machte er sich Sorgen. Er hatte sich sogar schon dabei erwischt, dass er sich um das große Ganze Sorgen machte, um dieses Riesending, von dem er immer noch nicht wusste, was es war, das aber auf seltsame Art und Weise fast allen Menschen den Mut gab, weiter zu machen und nicht sofort lachend in die erstbeste Kreissäge zu rennen. 

Aber, und das erkannte er tatsächlich erst jetzt - auf jeden Fall musste unterschieden werden zwischen guten Sorgen, die zeigten, dass man jemandem nahe war, und schlechten Sorgen, die nur von Abhängigkeit und Angst zeugten! Er schaute Steffi an, die ziemlich zerknautscht neben ihm stand. Schön, wie so langsam, jetzt, im Ausnahmezustand, die Dinge einfacher wurden! Vielleicht gehörte Maik zu diesen Menschen, die ihr Leben lang danach suchten, wofür sie geschaffen waren, aber es nie fanden, weil es die Situation, für die sie geboren waren, während ihres Lebens gar nicht gab! 
Der durchschnittliche Erdenmensch ist eine achtundzwanzigjährige chinesische Rechtshänderin, die ein Handy hat, aber kein Bankkonto. 
So ähnlich war Maik. 
Bis auf das Chinesische.
Seine Zeit würde kommen! 
Maik fühlte ein Dämmern, dass die Zeit, in der er und sein Leben nützlich sein könnten, vielleicht langsam gekommen war. So stand er da in Gedanken, als ihm der süße Himbeerteig aus der explodierten Küche in den Mundwinkel floss und er sich dachte: „Himbeere. Ich mag Himbeere!“

Emma stand neben Justus und schaute ihn an. Die Rede, die er gehalten hatte, seine Ansprache über die Welt und die Probleme und eigentlich alles, hatte sie nur mittelmäßig beeindruckt. Für Emma war das zu wirr gewesen. Zu abstrakt. Sie wusste, dass durchaus immer die Gefahr bestand, sich bei dem Thema "Alles auf einmal und wie es zusammenhängt" zu verrennen. 

Wenn man erst einmal anfing zu reden, schaltete sich ein Teil des Gehirns ziemlich schnell aus. Dieser Teil, der dafür zuständig war, sich selber zuzuhören und im besten Fall einzulenken, wenn es zu pathetisch oder abgehoben wurde. Dieser Teil, der über die Jahre gelernt hatte, dass das eigene Gelaber ab einem gewissen Moment albern wurde und keinerlei Inhalt mehr vermittelte. 
Sie kannte das nur allzu gut vom Schlussmachen mit irgendwelchen Typen. 
Monologe - schrecklich! 
Eine absolute Qual für jeden, der zuhören musste, weil es normalerweise schon nach den ersten zwei bis drei Sätzen nur noch um denjenigen ging, der gerade selber sprach. Anstrengend. Sie erinnerte sich gut an typische Orte des Schlussmachens. Wenn sie dazu anhob, zu erklären, warum es mit der Beziehung nichts werden würde. Aber anstatt zu sagen, dass man einfach nicht mehr konnte, dass es nicht passte und dass man die Furcht hatte, sich selber die Zukunft mit so einem Schlappschwanz zu versauen, schweifte man ab. 
Sie war nicht einmal in der Lage, Floskeln rauszuhauen, zu sagen, dass es nicht an ihm läge, sondern an ihr, oder dass man sich in ihren Leben einfach an unterschiedlichen Punkten befand. Nicht mal eine einfache Lüge bekam sie heraus. 

Es endete immer auf widerliche Art und Weise, immer in diesem schleimigen, widerlichen Gelaber um die Welt, um alle anderen Personen, um die Gesellschaft. Und nicht ganz selten schaffte sie es sogar, den Bogen noch weiter zu spannen und sogar Gott, das Universum, die Geschichte, die Religion, den sozialen Stand und was zum Teufel noch einzubringen, nur, um nicht die Wahrheit sagen zu müssen und nicht selber Schuld zu sein.

Jetzt schaute sie Justus an. Ob das mit ihm wohl ähnlich laufen würde? Was mochte sie denn überhaupt an ihm?

Mochte sie Justus, weil er ihre optischen Kriterien erfüllte? Oder betrachtete sie das alles als Spiel und hatte gar nicht vor, tiefere Gefühle zuzulassen? Oder wollte sie Freundschaft und Vertrautheit? Oder war es eher so ein obsessives Gefühl - dieses Gefühl, das sie nachts nicht schlafen lassen und sie verzehren würde? Oder mochte sie Justus, weil er einfach die sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Anforderungen erfüllte? 

Was Justus anging, war es wohl so, dass diese Kriterien eher nicht greifen würden, weil - Freundschaft, dafür kannte sie ihn ja eigentlich noch gar nicht genug und zum Spielen fühlte sie sich irgendwie einerseits zu unerfahren und andererseits zu alt. „Verzehren“ fand sie irgendwie albern, und obwohl sie gerne tiefere Gefühle hätte - das wäre schon gut, aber, das konnte sie ja noch gar nicht wissen. Und den Rest, was Geld, Status oder Sicherheit anging, dafür war Justus jetzt vielleicht doch nicht so der Topkandidat. 

Und auch, wenn Justus nach dieser Ansprache gerade in einem guten Licht dastand, ja, vielleicht sogar tatsächlich gerade dem Bürgermeister seine Meinung gegeigt hatte, stand da ja trotzdem dieser kleine Junge aus Tenever, der eigentlich versuchte, mit sich selber Schluss zu machen oder sich wenigstens zu ändern, aber nichts gebacken bekam, außer der Welt die Schuld für sein Unglück zu geben.

Justus stand weiter an seinem Platz, den Kopf noch ein bisschen gerötet von seinem gerade beendeten Redeschwall, und schämte sich ein bisschen. Das war doch sonst nicht seine Art, diese Art von Gerede! Hätte er einem anderen dabei zugehört, wäre schon nach zwei Sätzen seine interne Zynismusmaschine angesprungen. 
"Wäh, wäh!" hätte es in seinem Kopf gehallt. "Och, Du armer Junge, wie schlimm doch die Welt ist, aber Du hast genau richtig gehandelt, Dich zuhause zu verstecken, Tom Waits zu hören und alle andern am Leid der Welt Schuld sein zu lassen. Das ist eine exzellente Lösung für fast alles, und wenn man dann noch eine feine Sahnesoße aus lächerlichem Wohlstandslifestyle darüber kippt, dann kann man sich das Ganze sogar beim Latte-Macchiato-Brunch schön auf die Vollkorn-Soja-Waffel schmieren. Mahlzeit!" 

Er wandte sich zu Emma, die ihn gerade ansah. Er zuckte die Schultern, wie um ihr zu sagen, dass er doch auch eigentlich auch gar keine Ahnung hatte, was er hier tat. 

Emma und er blickten sich kurz in die Augen.

Tatsächlich hatte er so ein bisschen etwas Revoluzzer-mäßiges. Der ganz leichte Geruch des Verwegenen umgab ihn. Das war zwar bei weitem nicht so sexy wie ein vermummter, Steine schmeissender Jungrevolutionär mit blanken, dürren Muskeln im Tränengas des  Gazastreifens - aber doch schon mal ein Anfang, den man ja sowieso auch besser in sein Leben integrieren konnte! 

So sah Emma ihn an und hatte das Verlangen, ein geruhsames Leben mit einem aufregenden Mann zu führen. Die Zähmung der Bestie. Und da Emma eigentlich wenig Lust auf Zähmung hatte, war es wohl ganz gut, dass Justus keine wirkliche Bestie war. Oder es zumindest nicht wusste!

Steffi war diesem ganzen Hin- und Hergegucke der beiden wortlos gefolgt und wusste nichts zu sagen. Sie konnte den Grund kaum nachvollziehen, warum sie hier war und nicht in ihrem Bett lag und „Two and a Half man“ oder eine andere auf ihre gesellschaftliche Schicht zugeschnittene Sitcom guckte. Vielleicht war das aber auch gar nicht wichtig! Das mit der explodierten Küche hier im echten Leben war eigentlich sowieso witziger, wenn man sich mal drauf einstellte, dass nicht alles Witzige aus dem Fernseher kam. So stand sie da und guckte weiter und wartete auf die nächste lustige Sache.

Der ehemalige Navigator der „MS. Stubnitz“ kam auf das Vorschiff des Pfannkuchenschiffs getaumelt. Seine Mannschaft stand dort herum und rauchte Zigaretten, als er durch die Tür der zerstörten Küche trat. Erst war es still - er stand nur da mit versengten Augenbrauen und einem Bart, der sich von der Hitze zu einer mächtigen Bürste aufgezwirbelt hatte. Er schaute sich verdattert um und bemerkte die Gesichter seiner Mannschaft, ihre zugekniffenen Münder und ihre angespannten Lippen, die mit aller Macht versuchten, ein brüllendes Lachen zu unterdrücken. 

"Ha, Ha!" machte er in ihre Richtung, bemerkte eine große Scherbe, die im geborstenen Fensterrahmen baumelte, besah sich darin von oben bis unten und musste sich nun auch anstrengen, sich nicht selbst auszulachen. 

"So, gut jetzt! Ich hab Hunger. Hat wer eine Idee?"
"Weiß ich jetzt auch nicht. Auf der ‚Stubnitz’ ist noch Dosenfleisch!" antwortete eine der Matrosinnen.
"Ja, aber das Schiff habe ich nun leider gerade für einen Haufen Geld verkauft!"
"Fährt das Ding hier eigentlich oder kann das nur Pfannkuchen machen?" fragte die Matrosin.
"Keine Ahnung, wahrscheinlich nicht - da hab ich jetzt vor dem Kauf nicht dran gedacht. Ihr wisst, wie ich bin, wenn ich Hunger hab!"
"Vielleicht könnten die da unten uns ja irgendwo hinziehen. Ich finde es hier eh Scheiße!" sagte die Matrosin, wandte sich um, ging zur Reling und pfiff auf dem Finger. Einige Krieger aus der in der Sonne vor sich hin dümpelnden „Armee der Spinner“ schauten herauf. 

"Ay, was habt Ihr denn jetzt eigentlich vor?" schrie die Matrosin hinunter.

"Keine Ahnung, musst Du mal Cheffe fragen - der steht da mit den anderen an Land rum!" schrie einer zurück. Sie ging um das Vorschiff herum und pfiff wiederum. 
"Ey, Justus!" schrie sie herüber.
Justus löste sich aus seinem Augenkontakt mit Emma und sah hinüber zum Pfannkuchenschiff.
"Was’n los?" antwortete er.
"Ich stör ja nicht gerne, aber was habt Ihr denn jetzt eigentlich vor?"
"Weiß ich noch nicht. Und was macht ihr?"
"Wir haben Hunger, es ist Essenszeit!"
"Fahrt mal flussaufwärts!" schrie Willehad ihr entgegen. „Wir treffen uns gleich da, Richtung Jugendlichen-Wiese bei den ‚Weserterrassen’. Ein Stücken weiter aufwärts hat ein Kumpel ein kleines Häuschen, da könnten wir mal überlegen, was wir tun!"
Die Mannschaft warf Stricke vom Schiff, die die „Armee“ genervt auffing und dann langsam begann - das Pfannkuchenschiff im Schlepptau -, die Weser in Richtung Weserwehr hinaufzupaddeln. 

Das auflaufende Wasser machte es ihnen ein wenig leichter. Trotzdem stöhnten sie  - komischer Weise beschwerten sie sich aber kaum. 
Das war insofern seltsam, als sie, die Computerspieler, stets die Ersten waren, die quengelten, wenn ihre Mutter an die Tür ihres Jugendzimmers bollerte und wollte, dass sie mit dem Hund rausgingen oder bei der Beerdigung ihres Vaters auftauchten. Was sie natürlich erst taten, wenn die Mutter damit drohte, den Router aus der Wand zu reißen, was von der Drohung her ziemlich genau dem Hausarrest der letzten tausend Jahre glich! 

Auch interessant, dass es lange Zeit die größte Drohung einem Teenager gegenüber war, nicht rausgehen zu dürfen, während heute für den Teen ja „Drinsein“ das neue Draußensein ist! 
So paddelten sie dahin, eine irgendwie verlorene Jugend, die endlich mal was zu tun hatte. Langsam keimte etwas wie Stolz in ihnen auf.

Der Mob der Politiker stand an der Schlachte - einige hatten die Fahrräder abgestellt und besahen sich das Ausmaß der Zerstörung.

"Dafür werde ich Sie alle verantwortlich machen!" sprach der Bürgermeister, der ein bisschen an Fassung wieder gewonnen hatte.
Willehad näherte sich unauffällig Justus’ Ohr. 
"Wenn ich ‚jetzt!’ sage, schnappt Ihr Euch jeder ein Fahrrad und wir hauen ab. Weitersagen!" flüsterte er.

Der Bürgermeister plusterte sich weiter auf, brabbelte irgendwas von Verantwortung und Schuld und so weiter. Justus flüsterte zu Emma, Emma zu Maik, Maik zu Steffi. 

"Dafür werden Sie bezahlen, Willehad - das Fass ist voll! Sie glauben wohl, dass Sie sich hier alles erlauben können! Was glauben Sie denn eigentlich, wer Sie sind ...!" palaverte der Bürgermeister vor sich hin.

"Jetzt!" platzte es aus Willehad heraus, und Justin, Emma, Steffi, Maik, Justus und er selbst machten einen Satz nach vorne in Richtung der Fahrräder der Regierungsbeamten. Ein paar von ihnen fielen von ihren Fahrrädern, als die vier Freunde, Willehad und der Gott Justin an den Drahteseln zerrten und versuchten, sie den Politikern zu entwenden. "Ey, das ist doch mein Fahrrad!" sagte Maik zum Bürgermeister und fand das ziemlich lustig.

Innerhalb kürzester Zeit hatten sich alle ein Fahrrad gekrallt und versuchten, aufzuspringen, Emma blieb mit dem Fuß am Sattel hängen, Steffi lieferte sich noch eine Schubserei mit der Zweiten Bürgermeisterin und gab ihr einen Knuff. Es war ein Ziehen und  Zerren - kurz gesagt, es war ein klassisches Fahrradabziehen! 

Wackelig kam der „Club der Spinner“ schließlich auf ihren Sätteln zu sitzen, und alle begannen, loszustrampeln. Sämtlich, bis auf Maik, auf normalen City-Bikes, während der nun auf dem Liegefahrrad des Umweltsenators an ihnen vorbei die Rampe zur Weser hinunterzischte. Alle nahmen an Fahrt auf, und noch bevor irgendeiner der Politiker etwas tun oder sagen konnte, waren sie schon fast an den Osterdeichwiesen angekommen und begannen, befreit zu lachen. 

Das war eh das Schöne an diesem seltsamen aufkommenden Krieg - er vermittelte ganz deutlich das Gefühl einer Jugendfreizeit! Mit Flirts und Drinks und Angst vor den Eltern, auch wenn diese Positionen hier vom Bürgermeister und der Polizei eingenommen wurden!

Den Sechsen auf der Flucht brauste der laue Wind durch die Haare. Emma fuhr neben Justus und hatte ein bisschen das gleiche Gefühl, das sie immer beschlich, wenn sie den Film „My Girl“ ansah. Etwas Unschuldiges lag in der Luft, und Emma ließ es zu.

So radelten sie vor sich hin, umkurvten die Menschen, die an den Wiesen des Osterdeichs lagen und sich die kleinen, putzigen Wolken anschauten, die Sonnenstrahlen genossen und sich drüber freuten, dass die Polizei irgendwas anderes zu tun hatte, als sie vom illegalen Grillen abzuhalten. Vereinzelt riefen dasitzende Menschen die Namen der vier Freunde, sie grüssten fröhlich winkend und freuten sich aufs Mittagessen, als sich langsam ein gewaltiger Schatten über die schöne Stadt Bremen legte.

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Tag 39 (7.9.2012)

Das Haus an der Weser


Ein Düsenflugzeug strich am Himmel über der Weser vorbei. Es zog einen scharf geschnittenen Kondensstreifen hinter sich her, der  jedoch schnell und hochauflösend zerfiel und einen anderen Streifen kreuzte, so dass sich hoch oben am Himmelszelt ein X bildete. 

Ein Mitglied der „Armee der Spinner“, die gerade im Schweiße ihres Angesichts den Fluss hinauf paddelte und das Pfannkuchenschiff hinter sich her zog, schaute in den Himmel, bemerkte das X und wünschte sich ein Jetpack und eine Schaufel, um sich durch das X hindurch ins Weltall zu graben und herauszufinden, wer da denn wohl etwas versteckt hatte.

Oben auf dem Deck des Pfannkuchenschiffs stand die ehemalige Mannschaft der „Stubnitz“ und hatte nach wie vor ein breites Grinsen im Gesicht. Einerseits, weil der Navigator immer noch wie ein gerupftes Hühnchen auf dem Vorschiff stand und mit seinem dicken Bauch doof aus der Wäsche guckte, andererseits, weil es doch auch ein diebisches Vergnügen war, den Menschen in den Booten vor ihrem Bug zuzusehen, wie sie an den Seilen zerrten, um das Schiff irgendwie flussaufwärts zu ziehen.

Vereinzeltes Fluchen war von unten zu hören, aber eigentlich, insgesamt, war die Stimmung gut. Eine leichte Brise kam auf, doch so schnell es erfrischend wurde, genauso schnell kühlte es doch merklich ab, so dass manch einer an Bord kurz zitterte und sich darüber wunderte. Doch auch das war nur ein kurzes Wundern, das sich keiner merkte, obwohl es einige Zeit später doch den Anfang einer großen Veränderung markieren würde. 


Die Mannschaft an Deck des klobigen Schiffes sah weiter den sich abmühenden Mitgliedern der paddelnden „Armee der Spinner“ zu und freute sich, dass mal jemand anderes die Drecksarbeit machen musste.

Ein Stückchen weiter oben brausten die vier Freunde, gefolgt von Justin und Willehad, auf ihren Fahrrädern an den satten Wiesen des Osterdeichs vorbei. Den Wind in den Haaren, machten sie Peace-Zeichen zu einigen der dort sitzenden Menschen, die ihren Namen riefen.

Justus hatte nie gewusst, was dieses v-förmige Handzeichen genau bedeutete. Er wusste wohl, dass es für „Victory“ stand und das Handzeichen eines Siegers war, gleichzeitig aber augenscheinlich auch ein Zeichen für Frieden, was ja auf ganz lustige Art und Weise zusammen passte, denn es beschrieb die Welt eigentlich sehr gut: Friede ist dann, wenn einer gewonnen hat.
So zeigte er die zwei Finger in Richtung Wiesen, fühlte sich dabei aber weder wie ein Sieger, noch hatte er das Gefühl, dass Frieden in der Luft lag. 

Er wusste darum, dass sich diese Stadt in nächster Zeit sehr verändern würde, und das mit Sicherheit nicht zum Friedlichen. Die Menschen, die auf den Wiesen lagen, hatten keine Ahnung, was gerade wirklich geschah.

Sie guckten auf die kristallklare Weser, machten sich keinen Kopf darum, warum und wieso denn alles so war wie es war, ploppten sich noch ein Bier auf und sagten irgendetwas Halblustiges, woraufhin gelacht wurde - nicht, weil der Witz so gut gewesen wäre, sondern eher wegen der heiteren Stimmung, die einen ja eigentlich über alles lachen ließ.

Nur einer saß da unter den tausenden Anwesenden, nuckelte wütend an seinem Bier und hatte die Augenbrauen in einer Art und Weise wütend zusammen gekrampft, dass der Schädel unter seiner Stirnhaut von Knochen zu Stein gepresst wurde.

Er überlegte, wie er Justus bekommen könnte. Wie er ihn sich vorknöpfen konnte. Der Name Justus war wieder auf der Straße, und er hörte diesen Namen jetzt immer öfter. Wenn er hier am Deich entlang ging, schien er nur noch "Justus, Justus, Justus" zu hören. Anscheinend hatte der mit diesem ganzen Feuer, dem Aufstand und dem ganzen Brimborium an der Schlachte zu tun. Was genau, das schien keiner zu wissen, aber sein Name fiel im Zusammenhang mit den Namen Steffi und Emma und Maik. 

Seine Wut wurde grösser mit jeder weiteren Erwähnung und mit jedem weiteren Dosenbier, das er sich aufriss. Aus den Plänen, wie er Justus finden könnte, wurde mit jedem Schluck mehr und mehr ein Mantra, bis nur noch dieser Name immer wieder in seinem Kopf pulsierte, so wie ein Kopfschmerz. 

Neben ihm saß eine Gruppe von Spätaussiedlern, wohlgenährte Menschen russischer Herkunft, die hier auch ihr Bier schlürften und den Geschmack mit Wodka neutralisierten. Zu Viert saßen sie beieinander, lachten, zertranken sich das Heimweh und spielten das alte Spiel, welches sie noch aus ihrer Zeit im Gulag in Sibirien kannten, wo es verboten war, Witze zu erzählen. Was sie aber nicht davon abhielt, zu lachen.

Gemeinsam erinnerten sie sich still an diese Zeit.
Jeder neue Gefangene kam erst einmal für einen Tag in Isolationshaft, einen kahlen, vergilbt gekachelten Raum, in dem es nichts gab, außer einen kleinen Spalt oberhalb der Tür, den nur entdeckte, wer sich dort frierend für vierundzwanzig Stunden langweilte. Aber wer sich langweilte, entdeckte ihn bestimmt und entdeckte also auch das kleine Heft, welches eng bekritzelt dort versteckt lag. 
Auf kleinstem Raum waren Witze hinein gekritzelt und mit Nummern versehen.

Jetzt aber saßen vier alte Männer, die endlich ihr Leben in Freiheit genießen konnten, hier auf der Weserwiese, tranken Wodka und dachten an die alte Zeit. 
Sie füllten die Gläser, schauten sich in die Augen, tranken aus, und einer rief die Nummer eines Witzes. 
Wildes Lachen brach aus, bis sie den Tränen nahe waren.

"Dvasat dva!" rief der eine, und das lustige Gekuller den Deich hinunter ging los,
"Samnazat" schrie ein anderer brüllend dazwischen.
"Sorak Adin!" knallte einer dazwischen, und zitternd vor Lachen gossen sie den nächsten Becher voll.
"Pjanazat!" rief einer, und die anderen beendeten abrupt ihr Lachen.
Verdutz schaute er sie an.
"Habe ich etwas Falsches gesagt?" fragte er. "Fandet ihr den Witz schlecht?"
"Nein", bekam er zur Antwort, "der Witz ist gut, Du hast nur eine seltsame Art, ihn zu erzählen!" 

Der wütende Junge saß daneben, nuckelte einsam an seinem Bier und fühlte die Wut weiter in sich aufsteigen.
Ausländer sein und dann auch noch lachen! Ihm platzte fast der Kragen. 

"Ey, haltet Euer Maul!" patzte er hinüber, aber die lustigen Betrunkenen reagierten gar nicht.

"Ey, Fresse halten!" spuckte er in ihre Richtung
Einer wurde auf ihn aufmerksam.
"Was sagst Du, mein Sohn?" nuschelte er gut gelaunt in seine Richtung. 
"Ihr sollt die Fresse halten, Du Hurensohn! Was glaubst Du, wer Du bist?"
"Ach, mein Sohn, sei nicht so böse. Schau, die Sonne scheint - komm trink einen Schnaps mit uns!"
"Mit euch vier Arschlöchern würde ich im Leben nichts trinken!" giftete er zurück.
"Ey!" schrie der lustige Mann mit der Wodkaflasche. "Er hat vier gesagt!" Und schon kullerten sie wieder lachend ein Stück weit den Deich hinunter.
Der wütende Junge stand auf und stürmte hinüber.
"1943 wärt ihr alle tot gewesen!"
"HAHAHA!" kam es zurück, "Neunzehn! Dreiundvierzig!"

Der wütende Junge wollte zum Schlag ausholen, da steckte plötzlich der Kopf von einem der Vier von hinten zwischen seinen Beinen, und schon wurde er in die Luft gehoben und saß plötzlich auf den Schultern des Mannes unter ihm, der nun anfing, auf und ab zu hüpfen. 
"HAHA!" schrie er von unten. "Achtunddreißig! Fünfundvierzig!" und hüpfte auf und ab, so dass dem Jungen auf seinen Schultern seine dumme „New-York-Jankees“-Kappe im hohen Bogen vom Kopf flog. Und trotz des dullen Gezeters des halben Kindes auf seinen Schultern schaffte der Mann es doch, mit seinen Freunden anzustoßen, laut "Nastrowje!" zu schreien und kichernd im Kreis zu rennen.

In diesem Moment fuhr Justus vorbei, sah die Männer und den Dummkopf auf ihren Schultern und freute sich, dass die Welt so schön bescheuert war. 

Neben ihm fuhr Emma, und auch sie hatte ein Lächeln auf den Lippen, als sie das alberne Treiben am Deich sah. Wie die Leute dasaßen und ihren Wein aus Flaschen tranken, spürte auch sie kurz diese anflutende Kälte, die wie ein lautloser Tarnkappenbomber über Bremen donnerte, aber von kaum jemandem bemerkt wurde. Ein Anflug einer Endzeitstimmung, eine leise Ahnung, dass es vielleicht die letzten Tage dieser Stadt sein konnten.
Emma kam dabei kurz dieser alte Unsinn in den Kopf, dass man doch jeden Tag wie seinen letzten leben sollte, was aber die meisten Menschen nur sagten, um einen Grund zu haben, sich anständig zu betrinken. 
Was auch wieder Blödsinn war, denn das Schlimmste, was Emma sich vorstellen konnte, war, rotzbesoffen auf ihrem Sterbebett zu liegen und dumme Witzchen zu machen.
 Am besten wäre es, direkt jetzt schon mit dem Trinken aufzuhören, und dafür hatte Emma auch schon einen Plan:
Jeder kennt es, einmal so viel von einer Art Alkohol getrunken zu haben, dass man diesen Drink nie wieder trinken konnte. So würde Emma es machen. Drink für Drink. Stück für Stück.

Aber auch nüchtern auf dem Totenbett zu liegen, war es eine Aufgabe, gute letzte Worte zu finden. „Coole letzte Worte“ war aber schon immer eine ihrer Listen in ihrer riesigen Listenzettelkiste gewesen.

Oben auf der Liste stand bis jetzt Konrad Adenauer mit "Da gibt es nichts zu weinen!", aber auch die letzten Worte vieler römischer Schauspieler: "Das Spiel ist zu Ende, Applaus!" gefielen ihr gut.
Schön waren auch: "Was ist das?" von Leonard Bernstein oder "Ach, lasst mich in Ruhe!" von Berthold Brecht. Aber auch Jesus mit "Es ist vollbracht!" stand eigentlich jeder Alltagsperson gut zu Gesicht. Platz Eins hatte aber immer noch ein netter kleiner Grabstein inne, auf dem in netten Buchstaben "Tschüss" stand. Je nachdem, wie lustig sie gerade drauf war, auch gerne in der Schrift „Comic Sans“.

Aber der Nebel des Unvermeidbaren hob sich so schnell, wie er gekommen war, von der Stadt, und sie strampelte weiter hinter Maik her, der im Liegefahrrad vor ihr her fuhr und mit seiner kleinen Retrofahrradhupe hupte. 

"Möp, Möp!" machte er, und die Leute sprangen zu Seite, als wäre er ein kleiner kläffender Kampfhund mit gebleckten Zähnen. 
"Platz da, Gottesarmee!" rief er und brauste weiter und lachte dreckig.

Auch Justin radelte so vor sich hin. Er war noch nie Fahrrad gefahren. Das machte ihm als allmächtigem Gott aber keine Probleme, und er freute sich. Das letzte Mal, als er die Erde besucht hatte, waren alle noch wahnsinnig langsam auf irgendwelchen Pferdekarren durch die Wüste geeiert. Er hatte hinten drauf gesessen und sich zu Tode gelangweilt. Und göttliche Spielchen und Machtdemonstrationen waren auch nicht drin gewesen, weil er nicht auffliegen wollte, denn es war schon immer sehr anstrengend, Gotteswunder zu vollbringen und anschließend den Leuten zu erklären, dass man Gott war. Die ersten zehn Minuten waren immer sehr lustig, in etwa so, wie auf einer WG-Party in der Küche einen Witz nach dem nächsten rauszuhauen und der King zu sein. Aber irgendwann kamen die Menschen dann immer mit Schuldzuweisungen, was wirklich nur noch anstrengend war, auch, weil er egozentrisch genug war, der Meinung zu sein, sich dem Pöbel, dem "Klatschvieh", wie er die Menschen oft abfällig nannte, nicht erklären zu müssen.

Nun aber saß er auf dieser tollen Erfindung "Fahrrad", welches er gerade dem Senator für Kreativwirtschaft und Hipness geklaut hatte. Natürlich, wie sollte es auch anders sein, ein sogenanntes Fixed-Gear-Fahrrad, kurz: Fixie.
Der Senator hatte geschrien und geflucht, aber in seiner lächerlich kreativen Art hatte er nur albern gewirkt, und Gott hatte sich auch nur gedacht: "Du, erzähl mir mal was von Kreativität, Du Arsch! - Du kannst ja kreativ sein und labern wie Du willst, aber ich bin Schöpfer! Ich kann Dir mal was von Schöpfungswirtschaft erzählen, aber das würdest Du ja doch nicht verstehen, mit Deiner verstopften Birne und Deiner Machtgeilheit!" 

Der Herr Senator würde sein Fahrrad bestimmt nicht wieder bekommen. Justin würde es unangeschlossen vor dem „Martinshof“ stehen lassen, wo einer der "anders begabten" wirklich verstand, was freies Denken und Kunst ist. "Ha, ha", dachte sich Gott, "ich bin doch gar nicht so unwitzig - ich weiß gar nicht, was die Leute eigentlich immer haben!"

Auch er bemerkte den kurzen Schatten über der Stadt, und ihm fuhr wieder in sein allwissendes Bewusstsein, dass es da noch den anderen gab, der die Welt, so schön wie sie war, nicht so "gut" fand, und der sich seit jeher auf die Fahnen geschrieben hatte, dass Justins Welt nicht das Richtige war. 
Welchen Namen man jetzt Justins Gegenspieler gab, war eigentlich egal. Aber, wenn man es einmal so sagen wollte, war es einer, der Justus‘ Feind, dem wütenden Jungen am Deich nämlich, ziemlich ähnlich war! 
Dieser andere war ein Miesepeter, der dem Gott Justin nicht das Schwarze unter den Fingernägeln gönnte. Leider aber ein ziemlich mächtiger Miesepeter, und wenn Justin nicht aufpasste, könnte es ziemlich übel werden, sollte jener Typ die Oberhand gewinnen.

Und dieser leichte Schatten, der die Menschen kurz frösteln ließ, war ein erstes Zeichen gewesen für seine Lust auf Krieg und Zerstörung!

Willehad fuhr neben Justin und telefonierte beim Fahrradfahren, was er eigentlich bei anderen immer nicht so gut fand, weil er wusste, wie schrecklich man sich dabei aufs Gesicht packen konnte. Vor allen Dingen in seinem Alter. Und so eine Gesichtsverletzung machte das Leben nicht unbedingt leichter. Wenn man etwas Wichtiges vorhatte, strahlte dieses typische Pflaster auf dem Kinn nicht unbedingt Reife und Überlegenheit aus. Und was konnte da nicht noch Schlimmeres passieren!

Er musste an Besuche bei seinem Vater im Altersheim denken, und an die warm braunen Türen in diesen Altersheimen, in denen ja sowieso immer alles in warmen und gut abwaschbaren Braun- und Beige-Tönen gehalten war. Einer der Pfleger, einer der aufopferungsvollen Neulinge in diesem Job, hatte begonnen, Piktogramme auf die Namensschilder zu drucken, die aufgrund der hohen Fluktuation hier im Heim nur noch ausgedruckt in Klarsichtfolien an der Tür gesteckt wurden. 
Diese kleinen Symbole waren bestimmt gut gemeint, nur aufgrund des Zeitdrucks und seiner fehlenden „Photoshop“-Skills waren nicht mehr als schreckliche Zusammenfassungen des Lebens der Insassen hinter der Tür dabei herausgekommen. 
Kaum hatte einer, der noch reden konnte, einmal „Werder Bremen“ gestammelt, hatte er schon einen stilisierten Fußball mit einem lachenden Jungen neben seinem Namensschild kleben.

Nicht besser an der nächsten Tür: Der ehemalige Präsident einer großen Werkzeugfabrik, dessen Lebenswerk mit einem lustigen Comic-Handwerker mit Werkzeugkoffer und Topdaumen umschrieben wurde.

Kaum vorzustellen, wenn man in einem dieser modernen Fegefeuer von sich selber gefangen war, und alles, was von einem übrig blieb, ein kleines doofes Zeichen auf einem Blatt Recycling-Laser-Papier war! 

Da hatte Willehad dann doch Angst davor. Schlimmer war nur noch ein blöder Bibelspruch auf dem Grabstein, oder, auch ganz doof - wie bei Albert Einstein: Sich coole letzte Worte ausdenken, aber dann am Sterbebett nur die amerikanische Krankenschwester, die einen nicht versteht und es nicht einmal merkt.

Das Mobiltelefon in seiner Hand gab weiter Freizeichen, bis sich eine Stimme meldete.
"Ja, hallo?"
"Hallo, hier ist Willehad. Seid Ihr auf Parzelle?"
"Nö, nur ich!"
"Was machst Du?"
"Schreiben. Es ist Donnerstag und mir fehlen noch vier Seiten!" antwortete die Stimme.
"Weser gesehen?" fragte Willehad
"Ja, kommt gut – danke sehr!" antwortete die Stimme.
"Folgendes: Können wir kurz vorbeikommen?" 
"Ja. Wieviele?"
"Wir sind zu sechst, da kommen aber noch ein alter Großsegler und etwa sechshundert Kanus!" antwortete Willehad. "Hast Du was zu Essen und zu Trinken da?"
"Nicht für sechshundert Kanus, aber für Euch wird es schon reichen. Ich hab mir eine Bar in die Küche gebaut. Kennst du noch gar nicht!"
"Nee, aber geil. Stell mal ein paar ‚Alfs‘ kalt!"
"Wird gemacht. Bring mal noch Bier mit. Tschüss!" verabschiedete sich die Stimme und legte auf. 

Willehad wich einem Betrunkenen aus, der einen jungen Mann auf den Schultern hatte und ihm fast vor das Fahrrad gerannt war. Fast hätte es ihn hingehauen. Nur knapp konnte er sein Gleichgewicht halten.

Er hob den Kopf und pfiff kurz durch die Zähne. Die anderen auf den Fahrrädern drehten sich um. 
"EY!" rief er. 
Die anderen bremsten ab und blieben auf der Höhe des „Werder“-Kiosk stehen.
"Was ist denn los?" rief Justus nach hinten.
"Wir sollten noch ein paar Bier kaufen, das wäre sonst unfreundlich!" antwortete Willehad und stieg von seinem Fahrrad, klappte den Fahrradständer aus und stieg, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zum Osterdeich hinauf.
Oben angekommen standen die üblichen Verdächtigen in einer Schlange. Aus den kleinen Boxen wummerte ein seltsamer Rap-Beat,
und ein Mann, der, wie so viele, in ihrem Wortschatz das "ich" durch "isch" ersetzt hatte, trug seine Nachricht ins Volk.
"Lieber tot, anstatt hungern! 
Azzlacks sterben jung! 
Reiche leben lang! 
Das ist der Werdegang, 
und ich wollt mich bei Merkel bedanken! 
Kannst du mich hören, Du Schlampe?"

Und auch, wenn Willehad natürlich schon von Berufs wegen her Sympathie für Quatsch und Revolution hegte - Angela Merkel als Schlampe zu bezeichnen und damit auf Platz eins der Charts zu stürmen, konnte ja nun auch nicht richtig sein!

Erstens war es ja ein grundsätzlicher Fehler und dumm, Menschen aufgrund ihrer Sexualität anzugreifen, und zweitens: Das Angela Merkel eine Schlampe wäre, war ja nun wirklich nicht anzunehmen!
Erstens wirkte ihre eheliche Partnerschaft zum Quantenmechaniker Joachim Sauer stabil. Und sollte sich das „Schlampe“ auf einen schlampigen Lebensstil beziehen, fußte auch diese Annahme eher auf dünnen Fakten, denn es war ja kaum davon auszugehen, dass die Bundeskanzlerin oft bis weit in den Nachmittag hinein nichts tuend im Bett und vor der „Playstation“ rumlungerte. Und auch war es natürlich nur schwer vorstellbar, dass sie und Herr Sauer in einem ausgemachten Saustall hausten. Nicht nur wegen ihres Status „Regierungchefin“, sondern auch, weil ja beide Physiker waren. Da gehört Ordnung ja quasi sowieso zum geistigen Berufsinventar! 
Viel interessanter war da doch die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden nach einem langen Tag die Füße auf ihr Sofa legten und sich die Physiker-Sitcom "The Big Bang Theory" anschauten und sich in Sheldon Cooper und den anderen Figuren selber wiedererkannten. Bazinga!

"Und du?" fragte der Verkäufer des Kiosks, als Willehad an der Reihe war. 
"Acht Bier und acht Jägermeister, bitte!" sagte Willehad, nahm die Biere in Empfang und tastete seine Taschen nach Geld ab.
"Nee, lass mal gut sein!" antwortete der Verkäufer. "Ihr wart das doch mit der Weser, nee? Danke sehr! Geht aufs Haus. Ich mach Kohle wie nie!" und deutete mit dem Finger hinter sich zum Fluß.

"Gern geschehen. Und wenn ich noch etwas raten darf: Kauf soviel Schnaps, wie Du bekommen kannst. Wenn alles so läuft, wie ich das sehe, wird in nächster Zeit gesoffen werden, wie seit der Einheit nicht mehr!" sagte Willehad, lächelte den Verkäufer an und ging am Kiosk vorbei, die Treppen hinunter und wieder zu den anderen, die dort auf ihn warteten.

"Ey, gib mal eins!" quäkte Maik von unten aus seinem  Liegefahrrad.
"Nee, das nehmen wir jetzt mit!" sagte Willehad. "Die halbe Bürgerschaft ist hinter uns her, und außerdem finde ich dieses ewige „Auf-dem-Fahrrad-Gesaufe“ auch nicht so gut - ich finde das zu gefährlich!" 
"Gefährlich, gefährlich!" antwortete Steffi. "Ist mir doch egal, was Du gefährlich findest. Meine Oma ist bis zu ihrem Fünfundachtzigsten rauchend auf dem Fahrrad durch Bremen-Ost geheizt und hat Teenager zusammengeschrien. Und mit fünfundachtzig ist sie von einem Sattelschlepper umgemangelt worden. Ich sag Dir eins: Die hat das mit Sicherheit nicht bereut! Jedem sein würdiges Ende - Du kannst dich ja gerne im Totenbett zu Tode langweilen!" 

Willehad musste an Churchills letzte Worte denken: 
"Alles ist so langweilig!" und verteilte das Bier und warf die „Jägermeister“ in die Runde. 

Maik schraubte den knackenden Verschluss von seinem kleinen Jägermeister und erhob das Fläschchen in die Runde. 

"Na, denn, zur Mitte, zur ...!" 

"So ja schon mal gar nicht!" unterbrach ihn Justin.
"Auf den Weltfrieden!" sagte er, als würde er es ernst meinen. Sie schwangen sich wieder auf die Fahrräder und eierten weiter zum kleinen Haus an der Weser, um ihre Freunde zu treffen.




Tag 40 (14.9.2012)


„Wie könnten wir sie denn wütend machen?“


Eine gut aussehende, aber noch sehr kleine Pflanze durchbrach die Erdoberfläche, schaute sich kurz um und beschloss - nach schneller Analyse der Welt - sich besser unauffällig zu verhalten.

Müde wog sich die alte Trauerweide auf der Jugendlichen-Wiese in der leichten Brise. Sie hielt ihre Blätter in den seichten Wind und versuchte dabei, nicht ganz so ernst auszusehen. In etwa so, wie ein Mensch, der von Natur aus immer traurig aussieht, weil ihm unglücklicherweise unglückliche Augenbrauen gewachsen waren.
Wenn er aber gar nicht immer traurig war, war es gut möglich, dass so ein Mensch nach Jahren des mitleidig Angeglotztwerdens plötzlich  jemandem "Buhuhuhu, ich bin ja so traurig!" ins Gesicht schrie, obwohl das Gegenüber eigentlich nur mitfühlend sein wollte.

"Auf den Weltfrieden!" sagte Justin und schaute in die Runde, nahm sein mittelgroßes kleines Jägermeisterfläschchen und hob es in die Höhe. Die anderen taten es ihm gleich, streckten ebenfalls ihre Fläschchen in Richtung Himmel und tranken, den Kopf weit in den Nacken gehämmert, gut gelaunt, die heilende Kräutertinktur. 
"Ahh!"
"Ahh!"
"Ahhh!"
"Ahh!"
"Ahh!"
"Ahhh!"
stießen sie nacheinander den Atem aus. 
Sie klangen wie ein A-capella-Barbershop-Sextett.

Die klassische kurze, nur von Lauten wie von kleinen Tieren gestörte Pause nach dem Schnaps kehrte ein. 
In dieser Stille war plötzlich der donnernde Schlag einer Trommel zu hören. Tief grollte sie aus der Seerichtung der Weser herüber und näherte sich unseren Freunden. 
Eine Stimme wurde immer lauter, eine Stimme, die von zehn herunterzählte. Sie zählte nicht einfach im mathematischen Sinne, um ein logisches Problem wissenschaftlich zu lösen, nein - sie brüllte wie ein verrückter Wikinger die Zahlen herunter. 

Steffi schaute die Weser hinunter, und langsam kam ein Schiff in Sicht, seltsam geschnitzt, mit einem hoch aufragenden Bug, der wie ein Drachenkopf geformt durchs Wasser schnitt. In ihm sah man zehn Menschen in T-Shirts, auf welche die Logos von regionalen Sportereignissen gedruckt waren: Der Groß Mackenstedter Viertelmarathon oder der Anti-Kinder-Krebs-Lauf Bad Salzuflen.

Menschen tragen ja immer schon gerne T-Shirts, auf denen irgendetwas draufsteht; tatsächlich läßt sich das Verdorren der Werte und der generelle Inhalt der Menschen zuverlässig an Menge und Größe der Buchstaben auf ihren Trikotagen ablesen. 

Es ist so, als würden sterbende Anmut und verreckende Grazie des Geistes eines Menschen durch den Brustkorb sickern und auf seinem T-Shirt einen Ausgleich zu schaffen versuchen. 
Ganz stark verbreitet sind diese Aufdrucke bei Sportlern, wobei hier auffällt, dass, je härter und einer Lifestyleszene zugehöriger der betriebene Sport ist, die Buchstaben desto eckiger und scharfkantiger werden. Es gibt sogar Sportarten - etwa die ganzen Irgendwo-schwachsinnig-rüber-oder-runterspringen-Sportarten -, die so hart sind, dass ihr Name in monströser Blutschrift das T-Shirt hinunterrinnt: KYTESURFING! DOWNHILLROLLERBLADE! DRACHENBOOTTODESRENNEN!

Gerade so war es bei diesen Menschen, welche in einem Boot saßen, das tatsächlich in seiner gesamten Länge geformt war wie ein Drache, dabei aber den billigen Charme einer peinlichen koreanischen Kopie eines nordischen Mythos versprühte.

Vorne im Bug sah man einen Mann mit breiten Schultern. Er hielt zwei Stöcke in der Hand und drosch damit auf eine gewaltig bauchige Trommel, die vor ihm im Boot stand.

Im Takt seiner Schläge und im Rhythmus seines Zahlengeschreis droschen seine Untertanen ihre Paddel ins Wasser und strengten sich dabei möglichst stark an. Wenn man sie sich so besah, wurde man den Eindruck nicht los, dass sie sich nicht anstrengten, um ihr klobiges Boot durchs Wasser zu treiben. Sie strengten sich vielmehr an, um das Gefühl zu haben, sich anzustrengen, was ihrem Kahn nur noch viel mehr den Anstrich von Albernheit verlieh. 

Der Mann am Bug drosch weiter in die Pauke, zählte herunter, und weiter paddelten sie die Weser hinauf, solange, bis der Schreihals bei Null angekommen war und alle auf einen Schlag aufhörten.
Sie schwitzen, schauten sich an, grinsten dabei und gaben sich gegenseitig das Gefühl, bei etwas ganz Tollem dabei zu sein.

Plötzlich ließen sie die Paddel hängen, erhoben die Hände und begannen auch noch, sich selbst zu beklatschen. 
Damit folgten sie einem aktuellen Trend, welcher gerade landübergreifend an Beliebtheit gewann. 

Das Klatschen ist in der Tat inflationär geworden. In früheren Tagen war das Aneinanderschlagen der Handinnenflächen tatsächlich mal ein Zeichen von Anerkennung und Wertschätzung. Das ist lange vorbei. Tatsächlich ist heutzutage eine Gruppe, die gemeinsam etwas tut, kaum noch befriedigt, wenn am Schluss nicht applaudiert wird. In der Selbsthilfegruppe, im Kindergarten, bei der „REWE“-Mitarbeiterversammlung, überall beklatschen sich die Leute selber - es ist nur noch eine Frage der Zeit, dass auch nach dem gemeinsamen Essen in der Justizvollzugsanstalt, einer vollzogenen Hinrichtung, bei einer beendeten Beerdigung oder einer gelungenen Verhütung geklatscht wird!

Ähnlich irre ist das Abklatschen, der sogenannte "Chuck", der die Entsprechung des Applauses in Kleingruppen aus zwei Leuten darstellt. Bei jedem Blödsinn werden die Hände ineinander vergraben, die Daumen gehakelt, die flachen Hände aneinander geklatscht oder gegenseitig die Fäuste geboxt. 
Applaus! 
Der gute Herr Goldt hat einmal geschrieben, Applaus sei nicht das Brot des Künstlers, denn Brot sei ja auch nicht der Applaus des Bäckers. 
Ansonsten wäre die Welt auch voll mit leerem Brot, wenn es so weiter gehe, und Applaus würde bald tatsächlich nichts mehr wert sein.

Ein schönes Modell wäre es, den normalen Applaus durch etwas anderes zu ersetzen, das ein bisschen weh tut, und je lauter und länger es durchgeführt wird, immer schmerzhafter wird. Eine Idee wäre es, kleine Holzbretter mit langen Nägeln zu verteilen, auf die nach einer gelungenen Vorstellung geschlagen werden müsste. Da säße der Künstler auf der Bühne, oder auch die „REWE“-Angestellte auf der Betriebsratssitzung und wüsste, dass gerade Qualität geliefert wird, wenn die Schmerzensschreie nur laut sind und lange anhalten und das Blut quer durch den Raum spritzt. Dann wäre Applaus vielleicht auch endlich einmal wieder ernst zu nehmen!

Doch so saßen die Paddler in ihrem sogenannten Drachenboot, machten irgendwas mit den Händen ihres Vorder- und Hintermannes und gefielen sich jubelnd selber, obwohl sie nichts gewonnen hatten. Jeder Scheiß wird heute wertgeschätzt, und wenn es kein anderer tut, ist es jetzt sogar schon legitim, sich selbst wertzuschätzen. Gut vorstellbar, dass sich Lifestyle-Twens nach gelungener Masturbation selbst applaudieren und dann einen Schluck kaltes Finnland-Ur-Gletscherwasser aus einem Kristall-Weinglas von Jeff Koons trinken - solange es die bei IKEA gibt! 

Was für eine ätzende Entmündigung, sich von Hans und Franz für jeden Dreck loben zu lassen! Bei Kindern ist das ja pädagogisch noch sinnvoll. Bei Erwachsenen ist es nur der traurige Versuch, jedem zu erzählen, dass alles, was er tut, toll ist, damit er nur ja nicht traurig werde. Denn traurig sein, das geht dieser Tage überhaupt nicht mehr!

Der Mann an der Trommel grinste stolz in das Boot hinab und besah sich die Insassen mit ihren mittleren Einkommen und ihren kreativen Lebenswegen. Er schmunzelte. Es kehrte Ruhe ein. Die Menschen an den Paddeln schauten zu ihm hinauf, wie in die Sonne. Er öffnete den Mund, spannte die Lippen an und schrie lauthals, so dass es auch ja möglichst viele Leute an den Uferwiesen hörten: "Leider geil!"

Der allmächtige Gott Justin, der am Ufer stand, nahm seine noch ungeöffnete Nullkommafünf-Liter-Bierflasche, holte aus, und warf sie fünfzig Meter im hohen Bogen über die Weser.
Die Flasche zerplatzte perfekt am Kopf des Drachenbootkapitäns, riss ihm die Schädelhaut auf, spaltete die Schädeldecke und ließ ihn blutend ins Wasser taumeln. 
Das kristallklare Wasser der Weser färbte sich in bauschigen Wolken tiefrot, als er ertrank.

Justus, Emma, Steffi, Maik und Willehad schauten Justin ungläubig an. Er drehte sich zu ihnen. 
"Was war das denn jetzt?" fragte Justus entgeistert.
"‘Leider geil!‘. Er hat ‚Leider geil!‘ gesagt!", antwortete Justin mit hochrotem Kopf.
"Ja, und? Das ist doch kein Grund, ihn abzuschlachten!"
"Oh, doch: ‚Leider geil!‘ zu sagen ist sehr wohl ein Grund, jemanden abzuschlachten. Erstens bin ich Gott, und da bin ich ja wohl kaum jemandem Rechenschaft schuldig, und zweitens: ‚Leider geil!‘ zu sagen, das untergräbt alles, was gut auf der Welt ist. Ich sag Euch auch gerne, warum:
Wenn einer sagt ‚Leider geil!‘, dann ist das die ekligste Form von Entschuldigung, nämlich eine Entschuldigung, die schon vor der eigentlichen Tat ausgesprochen wird. Da fängt es ja schon an! Ein klassisch ekliges ‚Ich bin ich!‘. Und einfach so man selbst sein, ist ohne Rücksicht und Höflichkeit ja wohl das Allerletzte. Und sich dann auch noch dafür zu entschuldigen - da hat einer schon den Tod verdient!
Früher hat man mal gesagt: "Ich bitte um Entschuldigung!". Da war es eine Bitte an das Gegenüber, einen doch bitte zu entschuldigen! Das ist doch nichts, das man selbst tun kann. Sich selbst zu entschuldigen macht ja überhaupt gar keinen Sinn - das ist nur ekliger Egoismus! Da muss man doch fragen, ob jemand überhaupt etwas entschuldigt! Heute sagen alle nur noch ‚Entschuldigung!‘ und sind der Meinung, damit sei es gut und sie seien entschuldigt!
Aber nicht, dass es genug wäre, dass die höfliche Frage abgeschafft wurde, nein - jetzt kommen die Menschen auch noch an und sagen: ‚Leider geil!‘ 
Das bedeutet ja nur, dass sie schon im vornherein wissen, dass das, was sie tun, für andere Scheiße ist. Das ist ja nicht mal mehr eine Entschuldigung - das ist eine Rechtfertigung. Und diese Rechtfertigung basiert sogar noch auf niederen Instinkten, ja, sogar darauf, dass es richtig war, das Falsche zu tun, weil es Spaß gemacht hat. 
‚Leider geil!‘ ist der Gegenentwurf zu Höflichkeit und Rücksicht. Widerlich! Und derjenige, der gesagt hat: ‚Leider geil!‘ zu sagen wäre wie ein Ed-Hardy-T-Shirt, das aus dem Mund kommt, hatte vollkommen Recht. Das einzige, was wirklich schön daran ist, dass es das Auswahlverfahren des Hasses vereinfacht. Verdammte Scheiße noch einmal - was ist eigentlich los mit Euch Menschen?"

Justin war laut geworden und hatte sich in Rage geredet. Er nahm Willehad das Bier aus der Hand, öffnete es wütend mit einem Feuerzeug aus seiner Tasche und tat einen großen Schluck.

"Ich weiß ja nicht - Du hast schon recht, dass man das so nicht sagen sollte, aber einen Mord fand ich jetzt doch ziemlich übertrieben!" sagte Justus, der sich auf seine Fahrradstange gesetzt hatte und das Drachenboot beobachtete, das auf der Weser durch die Blutwolken gondelte. Die Rudersklaven in dem Boot schauten verdutzt ins Wasser, ekelten sich aber auch, dort hineinzuspringen, und bestimmten stattdessen direkt einen anderen an die Trommel, um sie anzutreiben. 

Der leblose Körper des ehemaligen Vorschreiers trieb an ihnen vorbei, und einer schlug wuchtig mit dem Paddel auf den Hinterkopf der Leiche, so dass noch einmal eine Blutfontäne über das Boot schoss und die Gesichter der Menschen besudelte. Es sah aus wie Kriegsbemalung und ihre T-Shirts wirkten noch lifestyle-mäßiger. Sie begannen, Urlaute zu machen und zu grunzen. Nacheinander schlugen sie dabei immer wieder auf die Wasserleiche ein - solange, bis sie ans Ufer trieb. Die Paddelboys und -girls im Boot schauten hinauf zum neuen Vortrommler. Er blickte hinab zur gemeuchelten Wasserleiche, haute auf die Pauke und rief "Leider geil!" 
Alle lachten und paddelten weiter im geschrienen Rhythmus ihres neuen Führers. 

"Naja, hast ja schon irgendwie recht!" sagte Justus, zu Justin gewandt, stellte seine Füße wieder auf die Pedale, und das Team fuhr weiter in Richtung Jugendlichen-Wiese. 

Die unauffällige, kleine und junge Blume drehte ganz vorsichtig ihr orangenes, von weißen Blättern umstandenes Gesicht und senkte den Kopf, um bloß nicht in die Aufmerksamkeit dieser idiotischen Gang zu geraten. 

Irgendwo zwischen zwei kleineren Bäumen hatten zwei durchtrainierte, glänzende, braungebrannte und sowieso sehr schöne Teenager ein schlappes Seil gespannt und versuchten sich im sogenannten Slacklining. Justus konnte Justin noch im allerletzten Moment die Bierflasche aus der Hand reißen. 

Schon tauchte das Weserstadion vor ihnen auf mit seinen gigantischen Flutlichtmasten, die in den blauen Himmel ragen und immer ein bisschen aussehen wie vier Außerirdische, die nur noch unzusammenhängende Sitzplatzkarten bekommen haben und eindeutig zu groß für diese menschliche Architektur sind, weshalb sie nun mit den Köpfen aus dem Stadion herausragen. 

Langsam beruhigte sich Justin wieder. Einträchtig radelten die Sechs weiter und fuhren an der Heimstätte des ersten Fußballvereins der Stadt vorbei. Einige Fußballprofis lungerten herum, schauten gelangweilt aus in ihren teuren Jacken und sahen erhaben auf die unwürdigen Fans herab, denen sie gerade Autogramme gaben. Herablassende Blicke trafen die Anhänger, die nicht in der Lage waren, Fußball zu spielen, und deswegen keine Fans von sich selbst sein konnten. Sie schämten sich zu Recht. Wären sie mal Fans von einer Gruppe Arbeitsloser gewesen!

In der Nähe stand eine Gruppe von doofen weiblichen Vorstadt-Ultras und schwenkte wild mit Fahnen umher. Diese professionellen Fans hatten schon lange bemerkt, dass ihr Jubel, den sie früher nur im Stadion rausgelassen hatten, auch im Alltag zu Vorteilen führen konnte, und so zogen sie gerade mit frisch gebastelten Transparenten, Fahnen und riesigen Bengalischen Feuern in Richtung Radio-Bremen-Gebäude, wo eine Talkshow mit Bettina Wulff und Alice Schwarzer aufgezeichnet werden sollte.

Sie liefen direkt auf Maik zu, der gerade als erster der Gruppe auf seinem Fahrrad dahinglitt. Maik dachte kurz, es würde sich hier um seine eigenen Fans handeln und riss die Arme in die Luft, als er voll in ihren Pulk hineinsteuerte, aber nur übelste Beschimpfungen erntete. Nur sehr langsam machten die Fans um ihn und sein Liegerad herum Platz, und er fühlte sich schlecht, als er, fast auf dem Boden liegend, zu ihnen nach oben schaute und bemerkte, dass sie sein Liegefahrrad nicht respektierten. 

"Alter, wo hast du das Ding denn her?" fragte eine der Umstehenden. Maik wurde heiß und kalt - das war doch ein typischer Abzieherspruch, und man konnte förmlich darauf warten, das irgendeine sagte: "Ey, das ist doch mein Fahrrad!"

Maik musste schnell denken, mit einer coolen Geschichte um die Ecke kommen und Ruhe bewahren.
"Ach, das Drecksding hab ich aus´m Supermarkt. Ich besorg die Scheißteile immer da. Gehste ohne Fahrrad rein, suchst Dir ein Fahrrad aus, schiebst es zur Kasse und sagst, dass Du es umtauschen willst. Dann sagen die: ‚Haben sie die Quittung mit?‘ Dann sag ich: ‚Nee, vergessen!‘
Dann sagen die: ‚Dann können wir es auch nicht umtauschen!‘ 
Dann sagst Du: ‚Na gut, dann nehm ich es halt wieder mit!‘
Und dann fährst damit nach Hause!"

Ein paar der Ultras lachten ihn aus.

"Was für ein Lappen!" hörte er. "Loser!" drang es an sein Ohr. Maik rappelte sich auf. Er kannte Situationen wie diese. Jetzt hieß es: Stärke beweisen. Sich gleich die Größten von ihnen schnappen und direkt drauf. Es war Blöde-Sprüche-Zeit!

"Was willst Du denn?" stieß Maik einer der Umstehenden ins Gesicht. "Willst Du was?"
"Na, was sollte ich denn wohl von Dir wohl wollen?"
"Naja, weiß ich ja nicht, was Du so willst, nä?"
"Ich will gar nichts - ich weiß ja nicht, was Du so willst!"
"Ey, lass den!" blaffte ein dickes Mädchen mit Glatze und Ailton-Tattoo im Dekolleté. Sie drehte sich um und machte eine ghettoartige Tanzbewegung, so dass ihr großes Hinterteil auf- und abbebte.

"Dass hier hätte er gerne. Hier, merk Dir das!" sagte sie und wackelte weiter mit ihrem Hintern. "Kannst Du Dir merken, kannst Du zuhause dran denken und Dir einen runterholen!" säuselte sie eklig, kam mit ihrem Gesicht ganz nah an seines und machte mit der Hand Bewegungen wie eine ungebildete Aggro-Figur aus der „Bill-Cosby-Show“.

Maik schaute ihr in die Augen. "Ach ja, selber!" sagte er, als sich Justus zwischen die beiden schob. 
"Ach, noch so ein Wichser. HAHAHA!" säuselte die Ultra-Frau jetzt Justus ins Gesicht und machte ein unanständiges Zeichen mit der Hand in ihrem Schritt. "Willst Dir wohl auch nachher einen auf mich wichsen, näh?"

Justus schwieg einen Moment. Gespannte Stille baute sich auf.

"Weißt du“, begann Justus, "ich habe schon zu allem masturbiert, was ein Mann …, also eigentlich, was ein Mensch sich vorstellen kann. Ich will Dich nicht beleidigen, weil Du fett bist, eine Glatze hast und ein Ailton-Tattoo im Dekolleté. Das gefällt mir sogar. Aber weißt Du, ich hab mir wirklich schon zu so ziemlich allem einen runtergeholt. Nicht aus Geilheit, sondern weil ich es interessant fand rauszukriegen, zu was wirklich gar nichts geht. Um festzustellen, was meine sexuellen Ausschlusskriterien sind. Und soll ich Dir was sagen? Ich habe nichts gefunden - dass heißt, fast nichts.
Es hat eigentlich immer bis zum Ende geklappt. Es blieb tatsächlich, trotz aller monströsen  Abartigkeiten, nur eine Sache über, bei der ich nicht mal einen Ständer bekommen habe. An der ich nichts auch nur im Geringsten sexuell erregend fand.
Und das war tatsächlich, wenn jemand wie Du sexy sein wollte! Ich kriege Kopfschmerzen davon. Selbstmordkopfschmerzen, wenn jemand wie Du ihren vor dem Spiegel eingeübten, unsicheren, geklauten und aus Springerheftchen zusammengeschusterten Balztanz aufführt. Vorsätzlichkeit ist das Stichwort! Du hast keine Ahnung von Erotik! Du bist genau so sexy, wie einer deshalb Fußball spielen kann, der jeden Tag die Sportbild liest!

Ich kann besser zu dahinstürzenden fettdeutschen Ü-60- Pseudotransen abwedeln, als zu einer dummen weißen "Chica", die so mit dem Arsch wackelt, wie es ihr die Bildzeitung beigebracht hat. Du kannst Dir eher ins Höschen kacken, um mich anzuturnen, als wenn Du so tust, als wäre Dein aggressives Gebettel, gebumst zu werden, mit irgendetwas Sexuellem zu rechtfertigen. Wer mit Dir schläft, hat keinen Sex mit Dir. Er ist nur mit Dir gemeinsam peinlich!"

Der Frauenmob war während Justus‘ Ansprache einen Schritt zurückgetreten. Sie bildeten jetzt einen Kreis rund um ihn, obwohl Steffi an ihre Schulzeit denken musste und ihr der alte Lehrersatz durch den Kopf schoss: "Das ist kein Kreis, das ist ein Ei!" 

Also standen sie in ihrem Ei rund im Justus, und alle schauten die Glatzköpfige an, die nun in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung vor Justus stand und auch nicht genau wusste, was sie machen sollte. Sie starrte ihn an. Ihre Lippen zitterten.
"Selber!" kam es ziemlich kleinlaut aus ihrem Mund. Die anderen Frauen schauten entgeistert und wütend.

"Wie kannst Du so etwas zu ihr sagen, sag mal, geht‘s Dir noch gut? Das verletzt sie doch!" blaffte eine Frau Justus an und hatte damit ja nicht Unrecht. Das war jetzt wieder einer dieser klassischen Justus-Momente gewesen. Er vergaß immer wieder, dass es schlimmere Gewalt als körperliche gab. Eigentlich hätte er einfach versuchen sollen, sie alle zu verprügeln, hätte eine anständige Abreibung kassiert und wäre dann wenigstens mit blutendem, aber erhobenem Kopf von dannen geschlichen. Aber nein, es musste ja wieder die Psychonummer sein. Wahrscheinlich würde auf seinem Grabstein eines Tages stehen: "Justus - bekannter Frauenkritiker".

"Tut mir leid!" sagte er. "Ich habe Frauenprobleme!"
"Aber hallo hast Du Frauenprobleme. Du hast ganz gehörige Probleme mit Frauen!" sagte eine aus dem Mob.
"Jaja, ich weiß ja, tut mir leid!"
Eine der Frauen löste sich aus dem Kreis und legte ihrer Freundin einen Arm um die Schulter. "So ein Arsch!" sagte sie zu ihr und zog sie fort. Neue Bengalische Fackeln wurden gezündet, und der Mob zog weiter, nicht ohne sich aus fünfzig Metern Entfernung noch einmal zu umzudrehen und Justus einen vernichtend bösen Blick zu schicken.
"Was soll denn so was immer?" fragte ihn Emma von der Seite.
"Ach, ich weiß auch nicht. Würde ich es wissen, würde es anders laufen!" 
"Mit mir ziehst Du so was nicht ab, sonst kriegen wir ein echtes Problem!" sagte Emma. "So, wir wollten doch in irgendein Haus da an der Weser. Was ist damit?" 
"Ja, geradeaus, immer am Fluss längs, wir fahren oben am Deich."
sagte Willehad, und sie radelten los.

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Tag 41 (21.9.2012)

Treffen der Giganten


In einem kleinen Ort in Nordrhein-Westfalen wurde morgens ein Kind geboren. Bereits nach sechs Stunden hatte es den Glauben an die Menschheit verloren. Von Offiziellen des „Guinness-Book“ wurde dies als neuer Weltrekord bestätigt.

Ähnlich ging es dem Gänseblümchen, das gerade noch so unauffällig seinen Kopf zum Boden gewandt hatte. Es hob nun das Köpfchen ganz langsam wieder und sah nur noch den aufgebrachten Mob der vorörtlichen Ultrafrauen mit ihren Bengalischen Fackeln vorbeiziehen. Dabei versuchten sie, irgendein Lied anzustimmen, hatten jedoch vergessen, dass die Menschen dieser Tage überhaupt gar keine Lieder mehr kennen, außer Rap, und den konnte man ja schlecht zusammen singen, oder englischsprachigen Pop, von dem aber alle nur einige wenige Textzeilen kannten. Kurz versuchten sie es, doch der Anteil derer, die nur Bruchstücke mitsingen konnten, war so groß, dass sie sich anhörten wie die Kindergartengruppe, die in den Neunzigern versucht hatte, das Lied „Informer“ von „Snow“ mitzurappen. Ein schreckliches Erlebnis!

Ein großes Glück, dass Gänseblümchen nur rudimentäre Ohren besitzen, sonst wäre es dem kleinen Blümchen hier auf der Jugendlichen-Wiese noch viel schlechter ergangen!

So spürte es nur die Anwesenheit von einigen Idioten und freute sich, dass sich der Mensch von der Natur losgesagt hatte. 
Das war für alle Anwesenden im Pflanzen- und Tierreich eine große Erleichterung gewesen. Wenigstens musste man sich jetzt nicht mehr den ganzen Tag für seinesgleichen schämen!


Justus strampelte weiter auf seinem Fahrrad, hinter ihm die vier Freunde, gefolgt vom Willehad, dem Sekretär und Justin, dem Gott.

Justus war nervös. Der ganze Tag war eigentlich bisher vollkommen nach seinem Gusto gelaufen, aber jetzt, nach diesem blöden Vorfall mit der dicken Frau, sank er langsam wieder ein Stück zurück, zurück in Gefühle von Angst und Überflüssigkeit - diese Gefühle, mit denen er sonst seine Zeit totgeschlagen hatte. Tief in ihm drinnen bohrte eine unbestimmte Angst, die sich am besten mit einem Gefühl umschreiben ließ, dass sich manchmal in ihm auftat, wenn er nachts alleine auf der Autobahn unterwegs war. 

Er war sich dann, mitten im Nichts und im tiefsten Dunkel der Nacht, nämlich ganz sicher, dass gleich, mitten auf der Fahrbahn, eine massive rote Backsteinmauer auftauchen würde. Einfach so - „Puff!“ - aus dem Nichts, als hätte sie dort irgendein Wesen nur für ihn aufgeschichtet. Vor dem Aufprall würde nicht einmal mehr Zeit bleiben, den Sachverhalt soweit zu verstehen, dass Angst aufkommen könnte. Keine Zeit zum Bremsen. Nur noch ein kurzer Moment des Akzeptierens und … aus.

Genau in diesem Gefühl und ganz so, als wäre die Zeit, die er noch hatte, die Zeit, die andere übertriebener Weise sein Leben nannten. Genau auf dieser Autobahn verbrachte er seine Stunden. Auch wenn es ihm gut ging, auch wenn er langsam fuhr - irgendwo vor ihm wartete diese Mauer, und er würde nichts tun können. Und obwohl er wusste, dass er den tödlichen Aufprall nicht bereuen würde, lähmte ihn die Angst.

Aber sie lähmte ihn nicht einmal in seinen Taten - er schaffte es immer noch die lebenserhaltenden Funktionen der Großstadt zu nutzen -; sie lähmte seine Perspektive. Und eine Tat ohne eine Perspektive war keine Tat. Sondern nur eine Reaktion auf die Angst vor der Sinnlosigkeit des Daseins. Letztlich die Angst, dass alles, was man tat, alle Zeit, die man opferte, verschwendet war.

Justus schluckte kurz bei dieser Einsicht.
Er schaute über seine Schulter, um zu sehen, ob die anderen auf ihren Fahrrädern noch hinter ihm waren, sah sie, schaute auf die Weser, und langsam dämmerte seine Perspektive wieder am Horizont hinter seinen neuen Freunden. Gut möglich, dass dies der erster Tag war, der im Laufe der Welt und im Leben der anderen Menschen überhaupt einen merkbaren Unterschied machte!

"Ist jetzt aber auch mal gut!" sagte Emma, die zu ihm aufgeschlossen hatte. 

"Was ist gut?" fragte Justus.

"Ich seh das doch an Deinen Augenbrauen. Ist gut jetzt mit dem ganzen Selbstmitleid!" sagte sie, etwas außer Atem.

"Du machst das immer: Erst tust Du irgendetwas und dann ärgerst Du Dich. Ist doch total anstrengend! Wie wäre es denn mal damit, irgendwas zu machen und dann was anderes zu machen und nicht immer drüber nachzudenken, wie das, was gewesen ist, mit dem, was kommt, zusammenhängt? Ich sag Dir mal eins: Damit versaust Du Dir vollkommen das Hier und Jetzt. Ich kenn das - aber nicht nur ich. Eigentlich kennen das alle. Ist wahrscheinlich sogar der Grund, warum es für die Menschen kein ‚Jetzt’ mehr gibt. 

Und dass es kein ‚Jetzt’ mehr gibt, ist ja überhaupt erstmal der Grund, warum die Leute den ganzen Tag traurig sind. 

Weil - alles, was gewesen ist, besteht ja für die meisten Leute nur noch aus Scham, und alles, was noch kommt, ist nur noch Angst. Und das ‚Jetzt’ ist eigentlich nur noch dazu da, um aus der Scham angesichts der Vergangenheit die Angst vor der Zukunft zu machen. 

Ich finde das unglaublich anstrengend!" sagte sie abschließend und wich einem kleinen Hund aus, fluchte und drehte sich wütend um, nur, um einen Zwanzigjährigen mit Sonnenbrille zu sehen, der ihr den Mittelfinger zeigte.

"Ist ja richtig!" sagte Justus. "Ich hab auch mal so ein Buddha-Buch gelesen, und wäre das nicht alles so weltfremd und irgendwie ja auch eine Religion, wäre ich wahrscheinlich noch dabei!“. Er drehte sich auch um und antwortete dem Mittelfinger mit einem Top-Daumen.

"Siehste - angewandter Buddhismus!"

Emma haute ihm mit der Flachen Hand auf den Hinterkopf. 

Sie passierten das Freibad am Weserstadion, das trotz des wunderbaren Wassers an der Weser voll besetzt war. Anscheinend blieben die Leute lieber in ihrem mit Weserwasser gefüllten Naturweserwasserbecken, als im Weserwassernaturwasserfluss zu schwimmen. Auch ein nettes Abbild der Bevölkerung. Im Büro hinter der Zimmerpalme sitzen und wehmütig in den Wald gucken, obwohl eigentlich schon Feierabend ist!

Der Schotter knirschte unter den Fahrradrädern. Alle verdrehten den Kopf in Richtung Liegewiese. Es waren mittlerweile, trotz der frischen Temperaturen, Unmengen von halbnackten Menschen unterwegs. Halbnackte Menschen verhalten sich auch immer halbnackt. Offener. Irgendwie jedenfalls!

Vollkommen angezogen und eher wütend als sommerlich "laid back", standen die Angehörigen des Bremer Senats an der Domsheide, als das Glockenspiel des Posthauses erklang, was ihre Nerven nur noch mehr reizte.

"Wie können die es wagen!" schrie der Bürgermeister und stampfte wütend auf. "Was fällt dieses Crétins ein, unsere Fahrräder zu klauen!"
Im Grunde war das nicht so ganz richtig, denn laut hörbar hatten Justus, Emma, Steffi, Maik, Willehad und Justin noch während des Raubes um Verzeihung gebeten und versprochen, die Drahtesel nach Benutzung zurückzubringen. 

Der Politiker der Grünen, dem Maik das Liegefahrrad sozusagen unter dem Rücken weggezogen hatte, stand dort mit einem hochroten Gesicht und äußerte sich - unfassbar wütend und schreiend - darüber, dass er das "Jetzt aber nicht so okay!" fand und er sich "Echt mal irgendwie so voll was überlegen!" müsste, um die schlimmen Fahrradverbrecher zur Verantwortung zu rufen.

Nur ein parteiloser Berater der Regierung, der allerdings den Linken nahestand, regte sich nicht auf, weil er - wenig überraschend - auf dem Gepäckträger der Zweiten Bürgermeisterin mitgefahren war, ohne dass sie es gemerkt hatte.

Schön war zu sehen, wie die Regierungsmitglieder dort standen und sich aufregten, dass ihre Fahrräder weg waren, während im Hintergrund immer noch die Rauchschwaden der zerstörten Stephanibrücke in den Himmel stoben. Auch waren im Moment die Panzer, welche lärmend vom Militärtransportgüterzug hinunter in die Weser gerutscht waren, kein Thema. Auch die herübertönende Technomusik der halb gesunkenen „Stubnitz“, welche mitten in der Fahrtrinne lag, vermochte die Politiker kaum vom Schmerz der abgezogenen Fahrräder abzulenken.

Noch einen Moment hielt das Gezeter an, dann besannen Frau und Mann sich doch, und der Bürgermeister zückte das Firmenhandy und rief im Bundeskanzleramt an.

Etwas nervös drückte der Erste Bürgermeister das Telefon ans Ohr und wartete auf ein Freizeichen vom Bundeskanzleramt.

Es klingelte. Nervös schaute der Bürgermeister in die Runde, und seine erste Stellvertreterin streckte die Hand aus und flüsterte: "Soll ich nicht lieber?", doch bekam nur eine abweisende, wenn auch leicht ängstliche Handbewegung zur Antwort.

Schließlich nahm jemand den Hörer ab, und die Stimme eines jungen Mannes war zu hören.
"Guten Tag, Bundeskanzleramt - wer spricht?" patzte es aus dem Hörer. 
"Wir sind’s!" sagte der Bürgermeister.
"Ach so, Sie sind’s - na dann stell ich direkt zum Präsidenten der Vereinten Nationen durch. Oder wollten Sie lieber den Kaiser von China sprechen?" fragte die Stimme.
Der Bürgermeister schwieg.
"Was?" sagte er schließlich.
"Ist vielleicht eher so eine mittelmäßige Idee, im Bundeskanzleramt anzurufen und zu sagen: "Wir sind’s!" und dann den Namen nicht zu sagen, oder?"
"Ach so. Ähm, ja!" räusperte sich der Bürgermeister. Er schaute die Zweite Bürgermeisterin an, und ein bisschen verließ ihn der Mut. Es dürstete ihn nach Rückendeckung. 
"Bremen! Wir sind’s! Bremen!
"Ah, Bremen ist es!" antwortete die Stimme. "Und, was gibt´s? Ich könnte ihnen volle Unabhängigkeit anbieten. Oder darf es eine eigene Währung sein? Wir hätten hier auch noch ein paar Steuermilliarden rumfliegen, die in den letzten Jahren noch nicht sinnlos verballert wurden. Können wir ihnen vielleicht etwas schenken? Vielleicht so eine Art Weltraumforschungsstation mit Kino und angeschlossener Shopping-Mall. Dazu vielleicht noch eine Riesenrakete? Und zur Feier des Tages hauen wir auch gleich noch eine U-Bahn und einen sinnlosen neuen Stadtteil am verrotteten Hafen obendrauf? Guten Tag, Bremen!" säuselte die Stimme und haute dann mit dem Telefonhörer auf die Tischkante. 
"SCHÖN, DASS SIE ANRUFEN!"

"Also hören Sie mal!" schnappte sich die Zweite Bürgermeisterin den Hörer. "Was erlauben Sie sich? Wer sind Sie eigentlich?"
"Ich bin der Praktikant. Sind Sie sicher, dass Sie die Chefin sprechen wollen?"

"Geben Sie mir die Bundeskanzlerin. Hier spricht Bremens Bürgermeisterin!" fuhr sie aus der Haut.

"Pfff!" machte der Bürgermeister. "Bürgermeister bin hier immer noch ich!" nuschelte er in sich hinein, verschränkte die Arme und bohrte seine Fußspitze in den Boden hinein.

In der Telefonleitung startete die Warteschleifenmusik - schon seit einundzwanzig Jahren "Wind of Change" von den „Scorpions“!

Die Bürgermeisterin erwischte sich dabei, wie sie versuchte, den Text mitzusingen, aber keine Ahnung vom Inhalt hatte. Schnell ging sie zu dezentem Pfeifen über. Sie schaute zum Ersten Bürgermeister und dachte kurz: "Na warte, bald werde ich Bürgermeisterin anstelle des Bürgermeisters sein!"

Eine Frauenstimme meldete sich.

"Hallo! Was gibt’s? Busy, busy, busy!"

"Ja, hallo - Bremen spricht, supersorry!"

"Ja, sorry angenommen. Ist es wichtig, oder können wir das via SMS regeln?"

"Naja, ungern - unsere Stadt brennt teilweise, die Wasserwege sind unpassierbar und unsere Hauptanbindung des Zugverkehrs ist zerstört. Außerdem ist die ganze Stadt sehr ausgelassen, und ich habe langsam das Gefühl, wir sind die Einzigen, die sich Sorgen machen!" sagte die Zweite Bürgermeisterin, bemüht, den lauter werdenden Technosound zu übertönen.

"Ja, das geht uns hier ähnlich!" antwortete die Kanzlerin, die ihrerseits versuchte, den Technolärm der Hauptstadt in ihrem Hintergrund zu überschreien.

"Ja, und - was macht Ihr?"

"Wir wissen es auch noch nicht genau. Ich bekomme ähnliche Meldungen aus Paris, Moskau, London, New York und Wien!"

"Was sind das für Meldungen?" fragte die zweite Bürgermeisterin nach.

"Anscheinend sind Seine, Wolga, Themse, Hudson River und Donau mit Nanotechnologiefiltern ausgestattet worden, um das Wasser zu klären und die Städte in Badespaßparadiese zu verwandeln. In einigen der Städte wurden innerhalb von Stunden von findigen Geschäftsmännern Wasserrutschen und schwimmende Diskotheken errichtet. Die Einwohner drehen durch, und immer mehr Landbevölkerung reist in die Städte, um nichts zu verpassen. Wir wissen weder, wessen Idee diese Filter waren, noch können wir uns denken, zu welchem Zweck sie installiert wurden. Gleichzeitig wurden Schiffe in alle großen Automobil- und Zugbrücken gelenkt und zerstört. Auch kam es zu Ausschreitungen von rechtsextremistischen Gruppen und fanatisch-religiösen Eiferern. Bei beiden Parteien fanden wir jedoch falsche Bärte und aufgeklebte Glatzen, so dass unser Geheimdienst nach einigen Stunden zu dem Schluss kam, dass auch dies fingierte Angriffe waren, die nur der Ablenkung dienten.

Wie es scheint, schlägt die gute Stimmung der Zivilbevölkerung nun in Techno-Parties um. Noch liegt keine Entscheidung über ein orchestriertes Vorgehen der Behörden vor. Wir werden uns nicht provozieren lassen. Ich habe einige meiner Leute von den jungen Liberalen zu einer der Umta-Umta-Veranstaltungen geschickt, damit sie sich undercover ein Bild verschaffen können!"

"Ja, und - was sollen wir jetzt tun?" fragte Bremen.
"Abwarten!" sagte die Kanzlerin und legte auf.

Verdutzt schaute die Zweite Bürgermeisterin das Telefon an.

"Was sagt sie?" fragte der Erste Bürgermeister. Madame zuckte mit den Schultern. 

Plötzlich standen neben ihnen zwei Jungen mit ballonseidenen Schlaghosen, blauen Afrohaarperücken, Fellstulpen aus Neonwolle, fünfzig Zentimeter hohen „Buffallo“-Plateausohlenschuhen und einer dezenten FDP-Tätowierung auf der Halsschlagader.

"Psst, Herr Bürgermeister!" zischten sie von der Seite - etwa so, wie der Buchstabendealer Schlemihl aus der Sesamstrasse, der einem ein „SS“ andrehen wollte. 

"Psst, wir sind Undercover-Raver vom Nachwuchskader der FDP!" zischten sie weiter und machten den Technostampf der 1998er Loveparade nach.

Einer der Jungliberalen kippte um und schnalzend zerriss seine Achillessehne. 

Schnell zückte er ein kleines Tütchen mit dem offiziellen Stempel des Bundestages und schleckte ein kristallines Pulver daraus. Sofort stand er wieder auf und stampfte weiter, bemerkte jedoch nicht, dass sein halb abgebrochener Fuß wild herumschlackerte und er nur noch seinen blutenden Knöchelstumpf in das altehrwürdige Kopfsteinpflaster der Domsheide trat. 

"Ey, nix passiert, alles groovy, Alter, echt – Technolifestyle! I wanna be a hippie and i want to get stoned!!!" rief er und pustete in seine Trillerpfeife. "Rave on! Volle Kanne, Hoschie!"

"Ach, was Sie nicht sagen!" sagte der Lifestyle-Senator, der neben ihnen stand. Die beiden ignorierten ihn. Er freute sich und zupfte seine Karottenhose zurecht.

Hektisch ergriff der Unverletzte wieder das Wort.

"Wir haben gerade einen Anruf aus der Bundeshauptstadt auf unser ‚iPhone 5’ bekommen. Uns wurde gesagt, dass wir Informationen sammeln sollen. Wir melden uns hiermit zum Dienst, Herr Bürgermeister. Wir sind zu allem bereit, Herr Bürgermeister! Wirklich zu allem!" 

Ihre Blicke wanderten zu des Bürgermeisters Mundwinkeln, bemerkten, dass dort leider kein Speichel zu lecken war und bewegten sich dann weiter in seine Körpermitte.

"Achgottachgott!" dachte sich der Bürgermeister. "Jetzt auch noch diese Klappspaten!"

"Ja, geht mal los, findet mal alles raus. Und bringt mir einen Kaffee mit!"

"Sie meinen bestimmt ...", zischten sie, "… psst: Extasy!!! Pappen, Pillen, Pappen, Pappen, Poppers, Pillen, Wodka-Energy?"

"Nein, ich meine Kaffee! Schwarzen Kaffee, Ihr beiden Gürteltaschen - und jetzt haut ab!" wurde der Bürgermeister laut, und die Beiden verzogen sich. Der eine noch stampfend, der andere schon blutend. "Die werden es in ihrem Leben auch noch mal ganz, ganz schwer haben!" dachte sich der Bürgermeister.

Schlecht gelaunt stand der Politikermob herum, wusste ohne Fahrräder jetzt nicht, was er tun sollte, Straßenbahnen fuhren auch nicht, und der Einzige, der irgend etwas tat, war der Verkehrssenator, der an einem „Zone-30“-Schild herumzubbelte und, "Wind of Change" vor sich hin summend, den Efeu von der Null pulte, was die Autos, die von der Musikhochschule herkamen, sofort beschleunigen ließ. 

Über ihm flog ein Fenster auf und eine Frau schaute schlaftrunken heraus.
"Ey, was machen Sie denn da?" 
"Ich korrigiere dieses Schild!" antwortete er.
"Ich wohne hier, und ich will auch mal schlafen, und ich hab den Efeu da vor drei Jahren hingepflanzt, und Tempo ‚3’ tut mir ganz gut. Ich hab endlich wieder Schlafrhythmus!"

"Schafrhythmus, Schlafrhythmus! Es ist siebzehn Uhr und Sie sehen aus, als wären Sie gerade aufgestanden! Erzählen Sie mir mal was von Schlafrhythmus! Ich habe Frau und Kind!"

"Ihr alten Säcke habt den Rhythmus der jungen Generation ja noch nie verstanden! Kleben sie den Efeu sofort wieder an das Schild!"

"Hören Sie mal! Die Schilder wurden nicht aus Jux aufgestellt, sondern weil sie wichtige Informationen für die Verkehrsteilnehmer darstellen!“

"Wichtige Informationen, wichtige Informationen, ich geb ihnen gleich mal wichtige Informationen!" rief die junge Frau. 

"Was denn für Informationen? Ich geb Ihnen meinerseits gleich mal richtige Informationen, dann steht hier aber morgen ein acht mal acht Meter Schild mit einer großen Dreißig drauf, dann haben Sie aber mal gar kein Sonnenlicht mehr da in Ihrer Pennerbude. Und wenn Sie jetzt noch weiter zetern, dann lenk ich Ihnen aber mal ganz fix den gesamten Schwerlastverkehr der A1 für drei Wochen hier vorbei, dann können Sie mir ja noch mal was von Schlafrhythmus erzählen. Dann haben Sie nämlich mal Techno-Schlafrhythmus!"

Ein „Technics“-12-10er-Plattenspieler segelte knapp am Kopf des Senators vorbei und zerschellte an der Wand des Amtsgerichts hinter ihm. Wütende Stille kehrte ein. Leise wehten die Technobeats von der Weser herüber. 

Die junge Frau riss die Augen auf, lauschte noch kurz, zischte zurück an ihre Fenster, starrte den Senator an und schrie
"Scheiße! Ich muss ja auflegen!", als der Bürgermeister den Verkehrssenator endlich vom Schild wegzerrte. 

Die sechs Freunde düsten am Freibad und am alten Sportamt vorbei, ließen brausend den Steinchenflippstrand hinter sich und kamen quietschend vor der Hausnummer fünfzehn zum Stehen.

Willehad stieg ab und ging zur Gartentür einer Parzelle. Dort klemmte ein Zettel. 
"Bin hinter dem Haus. Außer Sie sind die Polizei. Wenn Sie die Polizei sind, bin ich nicht da. Gehen sie weiter!" 

In diesem Moment klingelte Willehads Telefon.

"Hallo?"

"Willehad. Das geht so nicht. Noch regiere ich dieses Land. Du kannst Dir nicht alles erlauben. Was glaubst du eigentlich, was ihr da gerade macht?" 

"Was wir wollen. Wir machen, was wir wollen. Und dafür war es auch wirklich an der Zeit!"

In diesem Moment stieg eine gut gelaunte Seele aus einem Altenstift irgendwo in Hemelingen hoch in den Himmel, schaute noch einmal von oben herab, tippte sich mit dem Finger grüssend an die Stirn und verschwand irgendwohin, wo es besser war.

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Tag 42 (28.9.2012)

Ein Treffen mit dem Schöpfer


"Bitte reichen Sie mir doch einmal den Salzstreuer. Danke sehr!" sagte sie und salzte nach. Dabei saß sie in einem Restaurant und freute sich. 
Dies hat jedoch kaum etwas mit unserer Geschichte zu tun.

Justus wartete hinter Willehad, der vor der Tür des kleinen Gartenhauses stand und telefonierte. Er zündete sich eine Zigarette an. Immer noch ging er sich selber auf die Nerven, und, wie jedes Mal, schwoll dieses Gefühl nur noch an, wenn er sich eine ansteckte. 
Rauchen - die dümmste Droge der Welt. Wenn man das so sagen will. Anstrengend. Rauchen ist einfach nur anstrengend, und es hilft auch mittlerweile kaum noch, das Ansehen in der Clique zu steigern. Das einzige, wobei es noch hilft, ist, dabei cool zu sein. Aber Coolness, soweit war Justus bei seiner Definition von „cool“ gekommen, ist in seiner pursten Form auch nur ein neuzeitlicher Begriff für Contenance, und wenn die modernen Zeit auf eines keinen Wert mehr legt, dann auf Contenance.

Eigentlich ist heute alles nur noch ein riesiger Versuch, die Menschen aus der Ruhe und der Zurückhaltung zu reißen. Darauf basiert die gesamte westliche Welt dieser Tage. 
Riesige Konzerne mit überquellenden Marketingabteilungen versuchen alles, um den Menschen weis zu machen, dass es ja so, wie es gerade ist, wohl kaum weitergehen könne. 

Es gibt Probleme. Doch - wo ein Problem ist, da ist auch eine Lösung. Und Lösungen lassen sich verkaufen. Also wird alles daran gesetzt, die Probleme, die Sorgen, so weit hochzuzüchten, sie so sehr aufzubauschen und überhaupt alles zu tun, damit so etwas wie eine natürliche innere Ruhe nicht mehr möglich ist. Das Ende der Contenance. Das Ende des „cool“.
Und sie haben es schon weit gebracht! 

Alle sind immer aufgeregt. Endlos aufgeregt rennt die Welt durcheinander und findet Momente der Ruhe nur noch außerhalb ihrer selbst. Sie haben es geschafft. Sie haben die Ruhe outgesourct!

Justus schaute seine Zigarette an. Er überlegte kurz und nahm einen tiefen Zug. Eigentlich gar nicht so schlecht, die Dinger. So wie Selbstmord, nur ganz langsam. Er musste an den alten Satz denken, dass das Leben nur eine unheilbare Krankheit sei. Da halfen Zigaretten sehr. Irgendwann raucht man ganz automatisch und die Glimmstengel bringen einen dann langsam ins Grab. Und verändern dabei nicht einmal das Bewusstsein. Zigaretten - eine sehr moderne Droge! 

Und auch was die Coolness angeht, kann man mit ihnen eigentlich noch ziemlich viel erreichen. Kaum etwas ist so shocking dieser Tage, wie sich an der Wursttheke im Supermarkt eine anzuzünden und vierzehn Kilo Hack halb und halb zu bestellen. Und dann rauchend auf dem Damenfahrrad mit acht Plastiktüten schlingernd nach Hause zu eiern. 
So stellte sich Justus das Altwerden vor. Er zog noch einmal, und noch während er zog, hatte er Lust, sich eine weitere anzustecken. Wenn Sucht die Sucht überholt. Auch schön. Vielleicht war es Zeit, mit Zigarren anzufangen!

Willehad nahm das Telefon vom Ohr und schaute durch das Tor des langgestreckten Grundstücks, welches sich in der Entfernung verlor. Versteckt hinter den Apfel- und Pflaumenbäumen und den wuchernden Rosenbüschen, ganz am Ende des sympathisch ungepflegten Rasens stand ein kleines, windschiefes Häuschen. Es versprühte eine gewisse Romantik, wenn auch eher im gruseligen Sinne. Willehad griff durch das Tor zur Klinke, drückte sie hinunter, öffnete die Tür und trat in den Garten.

Da stand eine kleine schwarze Leinwand, auf die in verschnörkelten Buchstaben jemand "Club der Spinner" geschrieben hatte. Emma blieb kurz verwirrt stehen und betrachtete die Schrift. Schon seltsam, in einer Stadt zu wohnen und nie etwas zu bemerken, bis man, ohne es mitbekommen zu haben, doch irgendwie Teil des Ganzen war! Plötzlich sah sie überall Hinweise auf den „Club“. Sie kannte dieses Phänomen vom Schwangersein. Da kam man mit dem Befund aus der Frauenarztpraxis und plötzlich schien es, dass die ganze Welt schwanger bis zum Anschlag war. Und jetzt mit diesem „Club“ schien es nicht anders. Plötzlich war alles nur noch „Club“. Es stand nicht nur plötzlich überall geschrieben - plötzlich war auch die ganze Stadt durchsetzt von diesem seltsamen Stil. 

Irgendwie sah alles, was mit dem „Club“ zu tun hatte, wie aus einem Guss aus. So als wäre alles, auch das Alter der Dinge, absichtlich. Alles funktionierte irgendwie, aber entsprach mit Sicherheit nicht der Deutschen Industrienorm. Alles wirkte irgendwie "anders". Schwer zu umschreiben. Ein bisschen wärmer als das, was sie gewohnt war. 
"Organischer!" kam ihr in den Sinn. 

Mehr gewachsen als gestanzt, mehr wuchernd als konstruiert. Sowohl an dieser Tafel, als auch im Hauptquartier unter dem Sielwall-Eck wirkte alles irgendwie benutzt, aber nicht so, als hätte es dadurch an Qualität eingebüßt. 

Die Dinge, die in Verbindung mit dem „Club“ standen, schienen "mitzumachen", auch wenn sich das für Emma absurd anhörte. Sie schienen Teil des Ganzen zu sein. Die Stühle im Hauptquartier, das Haus hier im Garten an der Weser - das wirkte nicht, als würde es demnächst abgerissen werden. Zwar würde irgendwann nichts mehr von der ursprünglichen Bausubstanz übrig sein, aber der Geist der Sache würde erhalten bleiben. So als … - und sie wurde  erschüttert bei dem von ihr gehassten Eso-Wort -, so als hätten die Dinge ein Seele. Wie ein Mensch, oder wie ein Tier. 
Die Dinge des „Clubs“ waren wie ein Teil einer Geschichte, und sie wirkten nicht konstruiert, sondern so, als wären sie entstanden, weil sie entstehen mussten. Weil sonst die Geschichte nicht weitergegangen wäre. 

Auf eine gewisse Art und Weise war es ein Lebensgefühl. Wie wenn man den ganzen Tag herumlief und schließlich müde war. Dann war es klar, dass man irgendwann etwas fand, auf dem man sich gemütlich ausruhen konnte. Man musste nur daran glauben, dass da etwas kommen würde. Es war alles logisch, wenn auch nicht in einem mathematischen Sinne!

Justus betrat nach Emma den Garten. Er bemerkte die Schrift des „Clubs“, aber auch den Komposthaufen und ein großes blaues Schlachtabfallfass. Er ging weiter auf die Rasenfläche und bemerkte die Menge an zurückgeschnittenem Unkraut, welches unentwegt versuchte, den Garten einzunehmen. Zurückgeschnittenes Unkraut - auch schön! Der Garten stand herum und wirkte satt. So wie eine Clique, die sich eigentlich ganz gut um sich selber kümmern konnte. Auf jeden Fall wirkte der Garten anders, als der Garten des Nachbarn, der so gepflegt aussah, dass er sich entweder gerade in Gefechtsformation auf einen Krieg vorzubereiten oder sich zu Tode zu langweilen schien. Dieser Garten wirkte ein bisschen wie ein Mensch, den jemand vorsätzlich in ein Koma versetzt hatte, und der jedes Mal einen Knüppelhieb auf den Kopf bekam, wenn er zu erwachen drohte. 

Er setzte seinen Fuß in das saftige Gras des guten Gartens und fühlte sich wohl. Justin trat als letzter, hinter Steffi, durch das Tor und schloss es hinter sich. Da standen die sechs im Garten, schauten sich um, wünschten sich etwas Stille und bekamen sie sofort geliefert.

Im Haus an der Weser saß ein - gefühlt - junger Mann vor seiner Tastatur und hatte nicht mehr viel Zeit. Er schaute auf seine schöne Uhr, blickte auf die Datumsanzeige, welche nicht mehr funktionierte, kramte sein Handy hervor, schaltete es an, bemerkte, dass der Akku leer war, und ließ dann endlich den Blick genervt und angestrengt bis zum oberen Rand seines Monitors wandern. 

Mittwoch. Noch zwei Tage Zeit, bis er sein Geschriebenes abliefern musste. Vor Publikum! Ein Wahnsinn! Musste man sich mal vorstellen! Mittwoch. Noch zwei Tage Zeit. 

"Jetzt aber!" dachte er sich, schaltete die Rapmusik aus und lehnte sich nach vorne, legte die Finger auf die Tastatur und wartete. Und wartete noch ein bisschen, und dann noch ein bisschen länger.
Dann fing er an.

Justus wartete hinter Willehad, der vor der Tür des kleinen Gartenhauses stand und telefonierte. Er zündete sich eine Zigarette an. Immer noch ging er sich selber auf die Nerven und wie jedes Mal schwoll dieses Gefühl noch an, wenn er sich eine ansteckte. 
Rauchen - die dümmste Droge der Welt - wenn man das so sagen will. Anstrengend. Rauchen ist einfach nur anstrengend, und es hilft auch mittlerweile kaum noch, das Ansehen in der Clique zu steigern. Das Einzige, wobei es noch hilft, ist, dabei cool zu sein. Aber „Coolness“, soweit war Justus bei seiner Definition gekommen, ist in seiner pursten Form auch nur ein neuzeitlicher Begriff für Contenance, und wenn die modernen Zeiten eines nicht mehr will, dann ist es Contenance!

Der junge Mann beendete das Schreiben, lehnte sich zurück und betrachtete noch einmal die Worte auf dem Bildschirm. Ja, das konnte man machen. Zigaretten wurden ja viel geraucht. Übermorgen würde wahrscheinlich während des Zuhörens wieder die Hälfte der Leute rauchen. Das war doch ein ganz guter Einstieg. Direkter Bezug auf die Zielgruppe, dann noch ein bisschen beide Seite des Zigarettenkonsums ausleuchten, dann so tun, als wäre das nicht die eigene Meinung, sondern die Meinung des Hauptdarstellers Justus und dann plötzlich zu einer anderen Person springen, die eh alle schon kannten. Ja, so konnte man es machen. Dann noch ein paar Lacher und aufpassen, dass man vorher nicht zuviel Bier trank und dann die Pausen zum Lachen verpatzte!

Er drehte sich um und schaute durch das Küchenfenster. Da kamen die sechs Freunde auch schon, und die kleine schwarze Katze unter dem Schreibtisch sprang auf, meldete maunzend den Besuch und erbat das Öffnen der Tür, um die Gäste begrüßen zu können. 
Er stand auf, ging zur Tür, umrundete das Haus und breitete die Arme zur Begrüßung aus.

"Hallo!" sagte Willehad, der voraus lief.
"Hallo!" sagte der junge Mann, dem das Haus wohl gehörte, oder der zumindest so tat. 
Die anderen folgten Willehad und begrüßten den Besitzer. Eine Umarmung von Emma, Küsschen links und rechts und links von Steffi, einen Chuck von Maik und einen markanten Händedruck von  Justus. Die Katze streunte zwischen ihren Beinen umher, rieb sich an den Waden und machte den Von-unten-nach-oben-gucken-und -dann-die-Augen-zumachen-Katzen-Vertrauens-Blick.

"Wie geht es Dir?" fragte Willehad.
"Ganz gut soweit, eigentlich - ja, ganz gut soweit. Ich probiere gerade dieses neue Lebensmotto aus. Läuft ganz gut!"
"Und was ist Dein Lebensmotto mittlerweile?" fragte Willehad.
"Mein neues Lebensmotto lautet: ‚Na, dann halt nicht!’" gab der junge Mann zur Antwort.
"Hm, macht Sinn. Das macht Sinn. Könnte ich mir auch gut vorstellen!" 
"Kommt doch erstmal rein!" sagte der junge Mann und führte die Freunde mit einer Handbewegung in Richtung Fluss. Sie passierten das unaufgeräumte Plätzchen vor dem Haus, gingen an einer langen, rot geklinkerten Backsteinmauer vorbei und gelangten vor das Haus. Ihr Blick weitete sich über zwei Terrassen, die zum Wasser hin abfielen. Dort standen zwei eingeklappte Sonnenschirme in der Art eines kleinen Amphitheaters und gaben den Blick auf die Weser frei.
Es gab einige nicht weggeräumte Bierflaschen. Das eine oder andere Cocktailglas stand auf einem der zwei schwarzen kleinen Tischchen. Zwei schwarze Feuerkörbe warteten auf möglichst trockenes Holz, müffelten aufgrund einer schlechten Holzpolitik aber immer noch wie eine steinzeitliche Höhle. 

Leise strömte der klare Fluss vorbei. Ein Moment der Ruhe kehrte ein. 

"Jemand eine Limonade oder so?" fragte der junge Mann. "Wenn ich Euch hier kurz an die Theke bitten dürfte?" sagte er und dirigierte alle ins Haus hinein, vorbei an einem großen Schreibtisch mit Unmengen von beschmierten und vollgekritzelten Zetteln und einem Computer, dessen Monitor eine halb beschriebene Dokumentenseite zeigte. 
Sie drängten sich an die Bar, und der Bewohner des Hauses ging zum Kühlschrank.

"Für Steffi einen Prosecco, für Emma einen Rotwein, für Maik eine ‚Coca Cola’, für Justus ein ‚Haake’, einen Tee für Willehad und einmal Ambrosia für Justin. Richtig? Kostet aber!" sagte er und schaute - wie zufällig - Steffi an.
Verdutzt schaute sie zurück. 
Vor ihr lag die Preisliste.

"Ich glaube, ich habe gar kein Bargeld mehr dabei!" sagte Steffi. 
Der junge Mann ging zum Schreibtisch, beugte sich über den Computer, scrollte das geöffnete Dokument ein Stück weit nach oben, bis er den Satz gefunden hatte, den er suchte.

Sie hörten ein Tippen, Steffi ging zum Schreibtisch und schaute dem Schreibenden über die Schulter.

"Justus wartete hinter Willehad, der vor der Tür des kleinen Gartenhauses stand und telefonierte. Steffi stand daneben und sah einen Fünfzig-Euro-Schein halb versteckt in der Hecke neben der Tür flattern. Sie schaute sich kurz um, bückte sich, tat so, als würde  sie sich ihre Schuhe zubinden und steckte den Schein unauffällig in ihr Dekolleté." 

Der junge Mann am Computer schaute sich um und Steffi in die Augen. Sein Blick wanderte abwärts, und noch bevor Steffi ihm eine klatschen konnte, schaute sie selber auf ihre Brüste und bemerkte den Fünfzig-Euro-Schein. 

"Ich gehe dann mal davon aus, dass Du die anderen einlädst. Ich bekomme zweiunddreißig Euro von Dir!" sagte der Mann. Steffi hielt ihm ungläubig den Geldschein hin. 
"Stimmt so!" sagte er, stand auf und ging zurück zum Kühlschrank, wo er begann, die Cocktails zuzubereiten. 
"Wenn Ihr lustig seid, macht es Euch unten gemütlich. Wollt Ihr noch Crack kaufen?" 

"Was?" fragte Maik erschrocken.

"War nur ein Test!" sagte der junge Mann und hantierte weiter an den Cocktails herum, während sich die sechs Freunde auf die Terrasse am Fluss begaben und sich setzten.

"Wer ist das?" fragte Justus etwas entgeistert.

"Das ist schwer zu sagen", antwortete Willehad. "Im Grunde genommen ist er eine Art Kollege von Justin. Im Grunde genommen! Aber eigentlich weiß ich auch nicht genau, was er so treibt. Aber, wenn man mal irgendetwas "Ungewöhnliches" braucht, ist er ein ganz guter Ansprechpartner."

"Wie auch immer ...", seufzte Emma und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. "Wie geht es denn jetzt weiter?" fragte sie Willehad.

"Also: Was ich höre, ist, dass es langsam auch in den anderen Ländern voran geht. Viele Städte stehen gerade auf, die Flüsse sind geklärt und fließen nun funkelnd durch die Länder. Immer mehr Menschen kommen in die Städte, um am riesigen Badespaß teilzuhaben. Immer mehr Menschen stehen in Badehose oder Anzug an den Flüssen."

"Ich blicke das irgendwie nicht so richtig. Irgendwie wird alles immer wirrer. Pack doch endlich mal die Karten auf den Tisch. Worum geht es eigentlich?" wurde Emma etwas lauter

"Ich kann es Dir nicht genau sagen!" antwortete Willehad.

"Wie zum Teufel konntet Ihr denn diesen ganzen Krams planen, wenn ihr überhaupt gar keine Ahnung hattet, warum und wozu Ihr hier eine Revolution aufzieht. Denn das soll es doch wohl sein, oder, eine Revolution?"

"Nee, das Wort Revolution ist uns zu abgegriffen!"

"Nenn es doch, wie Du willst, ist mir doch total egal! Aber warum zum Teufel machen wir alle diese Dinge? Stadt anzünden, Güterzüge zerstören - wozu machen wir das denn alles?"


"Aaalso“, holte Willehad aus, "gerade im Moment versuchen wir, die Leute ein bisschen aus der Fassung zu bringen. Mehr ist es eigentlich nicht. Alle schreien immer: ‚Revolution! Revolution!’ –
aber was stellt man sich denn da vor? Eine andere Bundeskanzlerin? Das kann es ja wohl nicht sein, oder? Das erste ist doch, dass die Menschen wütend werden, weil sie selber merken, dass sie eigentlich nicht glücklich sind. Es gibt wahnsinnig viele Menschen, die sogar noch nie glücklich waren. Fast alle sogar! Die müssen das schöne Leben doch erstmal gesehen haben, um mit ihrem eigenen Leben unzufrieden zu werden. Deswegen der Badespass. Wir warten jetzt erst mal ab und gucken was passiert. Eigentlich kann das nur spannend werden!"

Emma wollte anheben und ihrer Meinung Luft machen, dass es ja wohl das allerletzte wäre, sie als Mitverschwörerin so im Dunkeln zu lassen; und tatsächlich ging es ihr gehörig auf den Zeiger, mit vagen Ideen abgespeist zu werden. Auf der anderen Seite musste sie ja zugeben, dass sie und die drei anderen freiwillig mitgemacht hatten. Und widerwillig musste sie auch zugestehen, dass sie eigentlich noch nie so einen Spaß gehabt hatte, wie am heutigen Tag! 

"Du könntest trotzdem mal ein bisschen offener sein!" maulte sie Willehad an, und er lächelte.
"Ja, aber schau mal: Offenheit ist nun mal nicht unbedingt eine Deiner Stärken, wenn Du der Generalsekretär einer unglaublich geheimen Geheimorganisation bist!"

Jetzt musste auch Emma lächeln.

Im Hintergrund klirrte es.

"SOOOO!" 

Der Hausbesitzer kam mit einem Tablett die Treppe zur Terrasse herunter. Herrliche Cocktails mit Schirmchen und Frucht glänzten im Sonnenlicht, erfrischend lief eiskaltes Wasser an Justus’ Bierglas herunter und prickelnd perlten die Prickelperlen des Prosecco. In der Mitte des Tabletts waberte Nebel aus einem Becher, was allerdings sehr nach einem billigen Trockennebel- Amateureffekt aus einem 80er-Jahre-Darkwave-Video aussah.

Justin schnappte sich als erster diesen Nebel-Becher mit der Ambrosia. "Herrlich!" sagte er und nahm einen Schluck.
"Der Becher eines Zimmermanns!"

Auch die anderen Freunde griffen zu und erfrischten sich - der junge Mann setzte sich zu ihnen. 

"Und, Leute, was geht ab? Willehad, was läuft?" fragte er.

"Das müsstest Du doch besser wissen als ich, oder?" antwortete Willehad.

"Nö, eigentlich nicht. Ich hab ja genauso wenig eine Idee davon, was das hier alles soll und wo das hinführt. War ja mehr so eine fixe Idee von einer ‚großen Geschichte’!" sagte der junge Mann.

"Nur um das mal zu verstehen", mischte sich Justus ein: "Du sitzt hier und schreibst auf, was passiert, und dann passiert das, richtig?"

"Nee, ich sitze hier und schreibe auf, was schon passiert ist. Ich kann doch nicht in die Zukunft gucken. Das kann nur der Justin, aber der verrät ja mal wieder nichts!"

Justin grinste spitzbübisch.

"Aber auf jeden Fall: Ich schreibe die Vergangenheit auf, und da kann ich ja nicht viel dran machen - es müssen ja irgendwie die Dinge passieren, die dann am Schluss zum ‚Jetzt’ führen. Wir sitzen ja jetzt hier, und das bedeutet ja leider, dass ich da nicht viel dran drehen kann. Würde ich wohl gerne, aber wenn die Vergangenheit falsch ist, stimmt ja die Gegenwart auch nicht mehr. Klingt ein bisschen kompliziert - ist es auch, aber - was soll ich machen?"

"Du könntest mal was in meiner Vergangenheit machen, damit ich  nicht immer so schlecht drauf bin!" sagte Steffi. "Wieso machst Du denn nicht, dass alles gut ist - wozu haben wir diese ganzen Probleme?" 

"Also, erstens: Wenn Du Probleme hast, sprich mal mit dem!"
Der Mann malte doofe Anführungszeichen in die Luft.
„Sprich mal mit dem ‚allmächtigen’ Gott Justin. Da hab ich wenig mit am Hut - ich mach nur, was ich kann, und zwar so gut, wie es eben geht. Und zweitens kommen hier einmal die Woche freitags um zwanzig Uhr Menschen her, um sich das alles anzuhören, und die wollen ja auch unterhalten sein. Die zahlen ja nicht umsonst vier Euro für einen Cocktail. Stell dir mal vor, ich erzähl was und da passiert nichts. Die hauen ja wieder ab, und ich muss die Woche drauf meinen Tofu und meinen Frischkäse wieder klauen gehen. Dafür bin ich nun wirklich zu alt!“ 

Er nahm noch einen Schluck und wandte sich um: "Willehad, was haben wir denn nun eigentlich vor? Ich müsste das schon wissen!"

"Also, ich, ähem!" druckste Willehad und schaute zu Justin hinüber. "Sag doch auch mal was!" 

Justin schwieg und grinste. 
"Eigentlich wäre es am besten wenn Ihr alle so einen Spaß wie ich hättet. Würde ich Euch echt wünschen, aber ich halt mich raus, regelt Ihr das mal!"

"Was denn nun regeln?" frage Emma dazwischen.

"Das Gute. Das Gute muss irgendwie gewinnen. Ihr seid doch nicht doof! Das Gute muss irgendwie für immer gewinnen. Erstens ist das für alle besser und zweitens stresst mich das Böse ungemein, und von Stress werde ich traurig, und wenn ich traurig bin, werd ich depressiv, und einen depressiven ‚allmächtigen’ Gott - das wollt ihr doch mit Sicherheit nicht!" sagte er. "Und überhaupt, kann mir mal jemand die Zuckerstreuerin bringen? Meine Ambrosia ist zu bitter. Bitte! Danke!"

"Schaut mal!" rief Steffi, und um die Ecke, da wo die Weser einen großen Bogen macht, kamen langsam die Masten des Pfannkuchenschiffs in Sicht, gezogen von den Kanus der „Armee der Spinner“. 

"Noch jemand was zu trinken?" fragte der junge Mann. Alle schauten gespannt auf das Schiff, welches sich langsam in Richtung seines Hauses bewegte. 
"Noch jemand was zu trinken?" wiederholte er, doch niemand antwortete. Er fühlte sich von seinen Hauptdarstellern nicht beachtet. Vielleicht war das aber auch ganz richtig so. Man muss ja immer aufpassen, nicht endgültig verrückt zu werden.

"Na, dann halt nicht!" dachte er sich und blieb sitzen.

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Tag 43 (5.10.2012)

„Weltraum? Interessant!“

Ein alter Professor freute sich stark und mit zuckenden Mundwinkeln, oben in seiner Rakete zu sitzen, die weit sichtbar mitten in der Stadt stand und doch von keinem bemerkt wurde. Er saß in einem kleinen Raum und schaute durch die Glasscheiben im Dach in den Himmel, der wolkenlos sein kleines Reich umspannte. Er war noch nicht alt genug, dass es ihm egal sein konnte, was mit der Welt geschah. Aber er hatte ein Alter erreicht, dass die Anzahl der Leute, die ihm den Buckel herunterrutschen konnten, jeden Tag in einer wachsenden Geschwindigkeit anstieg und mit jeder Stunde der Tod und das Ende der Welt mehr an Schrecken einbüsste.

Das war schon nicht unlustig, hier oben in dem Ding zu sitzen, dass die Bürger „Fallturm“ nannten und doch keine Ahnung hatten, was es eigentlich war!

Er saß dort oben und hatte die Beine auf einen zweiten Stuhl gelegt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und dachte, wie eigentlich immer, über den Turm nach - über seinen Turm. Die Leute waren schon witzig. Ein Vakuumturm. Als er zum ersten Mal davon gehört hatte, fand er die Idee lustig, aber nicht nur, weil er ein wissenschaftliches Interesse hatte - noch viel mehr, weil ihn die Idee faszinierte, der Öffentlichkeit Unmengen von Geld aus den Rippen zu leiern, um einen riesigen Turm zu bauen, nur, um dann so wenig wie nur ging hineinzupacken.
"Wir bauen einen Turm!" hatte er damals zum Senator gesagt.
"Und was für einen Turm? Was soll denn in diesem Turm drin sein?" kam die Frage zurück.
"Nichts!" hatte er zur Antwort gegeben, und die interessierten Gesichter der Beisitzer hatten ihn fast vor innerlichem Lachen tot umfallen lassen.
"Ein Vakuum. Wir bauen das größte Raumschiff mit nichts darin auf der ganzen Welt!" 
"Klingt interessant. Das können wir machen!" hatte der Senator geantwortet.

Er konnte es damals schon nicht fassen - und dass der gleiche Schmäh in leicht abgeänderter Form Jahre später noch einmal mit der Rakete am „Space Park“ geklappt hatte, war endgültig der Wahnsinn gewesen!
Er stand auf, ging eine kleine Wendeltreppe hinunter und blieb bei dem Loch stehen, durch das man in den Turm hinunterschauen konnte,  

Eine Rakete: Das war schon immer sein Traum gewesen, und er wusste, dass es in dieser Stadt einige verdrehte Leute gab, die seine Idee teilten. Geld zu beschaffen war, warum auch immer, kein großes Problem gewesen. Ein Typ namens Willehad hatte sich gemeldet, und ihm nahezu unbegrenzte Mittel für den Bau dieser geheimen Rakete versprochen.

Aber wie sollte man denn irgendwo in der Stadt eine Konstruktion errichten, die von der Bevölkerung nicht argwöhnisch betrachtet wurde. Wenn einer eine riesige Rakete irgendwo baute, da würden schon einige Leute neugierig werden - sie würden stehen bleiben und nach oben gucken. Und wenn der Professor eines nicht ausstehen konnte, dann waren es dumme Fragen! 

"Wozu machst du das denn?" hätten sie aber natürlich gefragt, und die einzige gute Antwort wäre gewesen: "Weil es eine Rakete ist; und wenn man eine Rakete bauen kann, dann sollte man das auch tun!" 
Auch gut wäre, wie fast immer, die Antwort gewesen: "Weil ich es kann! Weil ich Raketen bauen kann, und ihr nicht! HA!"

Aber dieser riesige Turm, von der Bevölkerung "Fallturm" genannt, war eine perfekte Tarnung gewesen. Und mit der zweiten, kleineren Rakete, die nun in Gröpelingen in der Nähe des großen Einkaufszentrums gelagert war, war eine ähnlich große Lüge geglückt, nur weil sie groß genug war, um nicht bemerkt zu werden. 

Er ging zurück in den kleinen Saal unter der Glaskanzel, setzte sich wieder auf seinen Stuhl, legte den Kopf in den Nacken und gefiel sich in dem Gefühl, auf einer Rakete zu sitzen. Kleine Wolken zogen über den klaren Himmel und warfen diffuse Schatten. 

Wie durch Zufall beendeten diese Schatten die Blendung eines jungen Mannes in seinem Gartenhäuschen, der sich gerade in seiner Küche noch eine Limonade eingoß und sich von seinen Gästen irgendwie ein bisschen unverstanden fühlte.

Da unten saßen sie. Er blickte über die Theke durch seinen Wohnraum, an seinem Schreibtisch mit dem Computer vorbei auf die Terrasse, wo die sechs seltsamen Gestalten saßen. Glücklicherweise regnete es nicht, sonst hätten sie alle hier drin herumhängen müssen.

Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und überlegte. Da unten saßen die Geister, die er gerufen hatte. Gruselige Menschengeister. Es war schon eine interessante Frage, wo die eigentlich herkamen! 

Justus war schon naheliegend, so als zweite Haut, als Person, die so war wie er, und Emma, auch Emma machte Sinn, war sie doch ziemlich nah dran, diese eine Frau zu sein, mit der man das Leben ziemlich entspannt teilen konnte. Deswegen machte auch die sich anbahnende Liebesgeschichte zwischen den beiden Sinn.

Über Maik konnte man vielleicht sagen, dass er so etwas war wie die personifizierte Sehnsucht zurück zur Naivität. Ein seltsamer, herzensguter weißer Unterschichtler. Auf seine Art ein edler Wilder. Und Steffi - Steffi war vielleicht die Hoffnung, dass der junge Mann die Menschen, die er nicht mochte, nur deswegen nicht ausstehen konnte, weil sie ihn ja auch nicht liebten. Max Goldt hatte gesagt: „Überbevölkerung sind alle, die mich nicht lieben!“ Und auch da hatte er richtig gelegen!

Der junge Mann seufzte unmerklich. Jetzt waren sie bei ihm. Zuhause. Und gerade kamen auch noch diese Schiffe, diese aberhunderte Schiffe angefahren, angefüllt mit einer Armee aus Spinnern. Alle bei ihm zuhause!

Er blickte auf den Computer auf seinem Schreibtisch. Bald ein verdammtes Jahr kannte er sie jetzt schon - jetzt waren sie alle da, und so langsam bekam er ein Problem. Er war ja verantwortlich für diese Leute. Ein Satz und sie wären alle tot. Dann hätte er sein Leben zurück, ohne jede Woche auf diesen Sack voller Flöhe aufpassen zu müssen. Er näherte sich dem Computer und schaute hinunter zur Weser, wo gerade der Mob johlend angerudert kam. 

"Ein riesengroßer Feuerball erschien am Himmel!" floss es aus seinen Fingern in die Tastatur. "Der Feuerball raste auf die Erde zu - es wurde wärmer, immer wärmer. Alle schauten in den Himmel und sahen, wie die Sonne auf sie zuraste. Dann war alles zu Ende. Stille herrschte. Es war vorbei."

Er lehnte sich zurück.

NEIN! So ging das nicht, und er löschte den Satz und schaute aus dem Fenster. Aber was war denn dann die Lösung?

Wahrscheinlich war es das Beste, sich einfach zu ihnen zu setzen und ein bisschen zuzuhören. Er blickte auf das weiße Feld auf dem Monitor, auf dem vorher noch die Zeilen zum Weltuntergang gestanden hatten. Der Feuerball, den zum Glück noch niemand bemerkt hatte, verblasste am Firmament. Er nahm noch einen Schluck Limonade, stand auf und ging zur Treppe, wo er sich niederließ. Der Computer schaltete auf Standby. Zum Glück war alles gespeichert.

"Haha, wie geil!" rief Justus und freute sich, das Pfannkuchenschiff zu sehen, das gerade den Fluss hinauf kam. Es wurde gezogen von der „Armee der Spinner“, die mit hochrotem Kopf angepaddelt kam und ihre Kanus am Strand auf Grund setzte.

Erschöpft und ungelenk stiegen die Männer aus ihren Booten und ließen sich am Strand auf den Rücken fallen. Sie atmeten tief durch: Endlich angekommen! Das war etwas anderes gewesen, als das Spiel mit Linksklick zu aktivieren und dann seine Einheit zum gewünschten Ziel zu schicken. 
Jetzt waren die Computerspieler, aus denen die Armee bestand, selber die Einheit und bekamen ein kleines Gefühl dafür, wie es den Orks zu Mute sein musste, die sie sonst immer befehligten. Vielleicht würden sie ihre nächsten Computerspiele mit ein bisschen mehr Güte spielen! 

So lagen sie da und schnauften. Willehad betrachtete sie von der Terrasse aus und fand es schon erstaunlich. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es diese Armee auch nur zweihundert Meter weit von der Schlachte weg schaffen würde. Aber er ließ sich immer gerne überraschen. Und das hier war eine der angenehmeren Überraschungen. 

Das Pfannkuchenschiff wendete und setzte ebenfalls mit dem Bug am Strand auf. Der Navigator und seine Mannschaft, die vormals auf der „M.S. Stubnitz“ gedient hatte, kamen zur vorderen Reling gelaufen und winkten zur Terrasse hinüber. 

"EY!" schrie der dicke Navigator hinunter. "Ich hab unten noch eine Küche gefunden. Will jetzt jemand vielleicht einen Pfannkuchen?" 

Am Strand hoben sich langsam und entkräftet die Arme der lustigen Soldaten der göttlichen Armee. Er zählte durch. Fünfhundert - stellte er nach langem Bemühen fest, denn er konnte nicht besonders gut zählen.

"Gut. Aber das wird einen Moment dauern, entspannt Euch!" rief er hinunter und verschwand mit den anderen im Bauch des Schiffes. Nur eine Frau aus der Mannschaft blieb an Bord zurück und steckte sich eine Zigarette der Marke "Plus" an, schaute verträumt umher und winkte abwesend noch einmal zur Terrasse hinüber. Die vier Freunde, Willehad und Justus winkten zurück.

"So, dann hätten wir ja wohl wieder alle zusammen!" sagte Justin zu Willehad. "Wir haben ein großes mittelalterliches Schiff, fünfhundert Kanus mit kampfbereiter Besatzung, die vier lustigen Freunde, die etwas ganz Besonderes sind, Dich und … mich - lass uns etwas anstellen! Irgendwie geht’s grad nicht weiter, was ist denn los?"

"Frag das nicht mich, frag den Typen!" antwortete Justin und deutete auf den jungen Mann, der chillaxed über das Wasser schaute.

"Ey, Typ, wieso geht’s nicht weiter?" fragte Willehad über die Schulter.

"Ich weiß auch nicht, es ist irgendwie alles unglaublich anstrengend. Manchmal fällt mir einfach nichts mehr ein, was man noch tun könnte, ohne etwas kaputt zu machen. Dann hänge ich im Internet rum, mache mir was zu essen, baue die ganze Bude um, weil es draußen regnet, gehe Bier kaufen, rufe Leute an - ach, ich weiß auch nicht! Der eigentliche Plan war ja das Ende der Welt, aber das ist jetzt ein Jahr her, und seit ich soviel darüber nachdenke, hab ich eigentlich gar keine Lust mehr auf das Ende der Welt. Das ist problematisch. Und was ja auch schwierig ist: Es ist bis jetzt eigentlich noch keiner gestorben, und das ist natürlich hinderlich, wenn man sich eine Armee ausgedacht hat und den letzten Krieg der Menschheit beschreiben will. Keine Ahnung, vielleicht sollte ich besser ein Comedy-Programm schreiben!"

"Ach so, ja, das kenne ich!" lehnte sich der allmächtige Gott Justin zu ihm hinüber. "Aber, hey, das ist nicht das Ende. Es gibt gar kein Ende! Kennst du diese Frage, was die Figuren in einem Buch machen, wenn gerade keiner darin ließt? Ist ein dickes Kind wirklich hingefallen, wenn keiner es sieht, um zu lachen? Dreh mal ein bisschen auf. Du hast gesagt, morgen kommen Leute, um sich Kapitel 43 anzuhören. Mach doch mal was Fetziges! Na los!" sagte Justin und schaute ihm tief in die Augen. Der Mann ging zum Computer und begann zu tippen.

„Irgendwo auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramstein in der Nähe von Kaiserslautern stiegen acht Jagdflugzeuge auf. Sie donnerten los, in Richtung Norden, durchbrachen innerhalb kürzester Zeit die Schallmauer, legten sich in Formation in eine leichte Nordostkurve und folgten in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit dem Flusslauf der Weser. Sie ließen Verden hinter sich und sahen bereits die großen Türme der Bremen-Oster Kohlekraftwerke, ließen auch sie hinter sich und gingen in den Tiefflug. Sie sahen, wie sich das braune Wasser ins Weserwehr stürzte und sich dort in karibisches Superwasser verwandelte. Gischt spritzte von der Weser auf und färbte die Oberfläche in ein zischendes Weiß, als die Jäger fast die kleinen Wellen berührten. Eines der Jagdflugzeuge schmierte ab, geriet mit einer Tragfläche auf die Wasseroberfläche und überschlug sich in einem flammenden Kugelblitz. Der Feuerball riss in einem Handstreich die sogenannte „Erdbeerbrücke“ ein und rutschte mit fast ungebremster Geschwindigkeit über die Wasseroberfläche. Die Maschine zog einen lodernden Feuerschweif hinter sich her, zischte weiter und versank brüllend zwischen Brücke und Weserstadion.“

Justin hob die Hand an die Augenbrauen und verfolgte mit einer Kopfbewegung den donnernden Feuerball.

"Ja, na siehste - geht doch!" rief er ins Haus, wo der junge Mann angespannt hinter seiner Tastatur saß.

Die anderen Flugzeuge jagten vorbei, folgten dem großen Bogen, den die Weser beschrieb, donnerten an den Osterdeichwiesen vorbei, dann an der Schlachte, ließen Gröpelingen hinter sich, nahmen noch weiter an Geschwindigkeit zu und zerstörten keine zwei Minuten später die Küste von Bremerhaven inklusive dem unterhaltsamen, aber doofen Klimahaus und diesem dummen bananenförmigen Hochhaus, das auch nur dazu gut gewesen war, von oben auf das Elend dieser schmierigen Stadt hinabzusehen.

Dann drehten sie ab, gewannen wieder an Höhe, und die Piloten und Pilotinnen, die keine Ahnung hatten, warum sie gerade zehntausend Menschen zu Tode gebombt hatten, zündeten sich ihre Zigarren an, so wie sie es bei Will Smith in "Independence Day" gesehen hatten. 

Der Professor im "Fallturm" erschrak in seinem Dachzimmer, als die Jäger auf ihrem Rückflug im letzten Moment seinem Turm auswichen und über das Land in Richtung Süden davon donnerten.

Er sprang hysterisch auf, also ganz unprofessoral, schob ein Bild der Malerin Paula Modersohn-Becker zur Seite, haute auf einen großen roten Knopf, der dahinter verborgen lag, und aus dem Boden kam ein typischer Astronautensessel gefahren. Metallschotten schoben sich über die Fensterscheiben des Daches. Das Tageslicht verschwand aus dem Turmzimmer, der Professor legte sich auf den Rücken in den Astronautenstuhl, gurtete sich voller Vorfreude an und griff nach dem Steuerknüppel zwischen seinen Beinen, als das Telefon auf der Lehne des Raumfahrtsessels klingelte.

"Keine Zeit, keine Zeit!" rief er ins Telefon, wurde aber unterbrochen. 
"Noch nicht! Noch nicht! Ich sage Dir Bescheid, wenn es soweit ist. Du startest die Rakete erst, wenn ich es sage! Ist das klar, Herr Professor? Haben Sie mich verstanden?"

"Hrmpf, okay!" gab der Professor zurück, legte den Hörer weg, stand auf und drückte noch einmal auf den roten Knopf. Der Sessel fuhr zurück in sein Versteck und die Scheiben der Glaskuppel wurden wieder durchsichtig. "Oh, Mann - ätzend!" sagte er zu sich selber. Die Tür flog auf und die Stimmungsband "Die Atzen!" kam herein. Er blickte sie geschockt an und brüllte "ÄTZEND! NICHT ATZEN!", und „Money Mark“, gefolgt von „Frauenarzt“, sprang vom Dach in den Tod. Der Professor setzte sich wieder auf seinen Stuhl, klappte die Sonnenbrille zurück auf seine Augen und schaute gelangweilt wieder in den Himmel.

Willehad steckte das Mobiltelefon zurück in seine Hosentasche.

Verdutzt schauten alle, die da unten an der Weser saßen, in den Himmel. Noch immer stiegen weiter im Norden große Rauchpilze auf und Rauchfahnen wehten in großer Entfernung aus Richtung Bremerhaven im Wind. Der junge Mann kam aus dem Haus - alle wandten den Kopf und schauten ihn fragend und erwartungsvoll an. 

"Junger Mann, zügeln Sie mal ein bisschen ihre Pferde!" sagte Willehad. "Das hat uns gerade einen relativ großen, wenn auch überflüssigen Stadtteil Bremens und fast unsere größte Rakete gekostet!

"War das jetzt zuviel?" fragte der Mann und schaute verdutzt in die Gesichter der knapp sechshundert Leute, die schräg unter ihm an der Weser standen. 
"Scheeeeiiiiiißßßßßßeeeee!" hörte er sich sagen.

"Jaja, ist nicht leicht, allen immer alles recht zu machen - ich kenne das!" sagte Justin. "Ich fand, das war superheiße Action! Und darum geht es doch bei spannenden Geschichten: Superheiße Action, viele Tote und große Gefühle. Hab ich in der Erdgeschichte nicht anders gemacht!"

"Naja, von großen Gefühlen hab ich hier aber schon lange nichts mehr gesehen!" merkte Justus an, als unter ihm einer der „Spinner“ auf die Knie fiel, die Arme in den Himmel streckte und zu schreien begann: "Nein, meine Frau! Meine Kinder! Eltern! Onkel! Hund! Katze! Meerschwein! Alle in Bremerhaven!!!"

Justin musste lachen. "Haha, genau mein Humor. Gefällt mir, aber jetzt mal weiter, nee?"

"Ja, auf jeden Fall mal weiter. Wir müssen hier weg!" sagte Justus.
„Willehad, mit wem hattest Du eigentlich gesprochen, als wir hier angekommen sind?"

"Kanzlerin!"

"Was sagt die?"

"Die weiß es selber nicht. Soll ich noch mal anrufen?"
"Ja!"

Es vibrierte in der Tasche der Regierungschefin.
"Hallo?"
"Ich habe gerade den Verteidigungsminister auf der anderen Leitung. Bremerhaven brennt. Willehad, was ist da los?"
"Was soll da los sein?"
"Alter, das könnt Ihr echt nicht bringen!"
"Wir können bringen, was wir wollen - Du bist immerhin nicht meine Mutter!" sagte Willehad mit einem für sein Alter etwas albernen Trotz. "Was hast Du denn jetzt vor?"

"’Sie’! Für Sie Immer noch ‚Sie’! Ich bin die Regierungsvorsitzende!" keifte sie ins Telefon. 
"Vielleicht von Deiner Regierung. Wir gehen jetzt los ins Sendezentrum!" sagte Willehad und legte auf.

"Was denn für ein Sendezentrum?" fragte ihn Emma.
"Radio Bremen!" antwortete er.
"Und was sollen wir da?" fragte sie.
"Ich dachte, WIR machen heute Abend mal die ‚Tagesschau’. Ich wollte denen schon immer mal aufschreiben, was sie erzählen sollen!" 
"Und was wäre das?"
"Das alle Kriege vorbei sind! So wie es im Moment auf der Welt läuft, müssten eigentlich alle Kriege vorbei sein, wenn wir es nur genügend Leuten über eine vertrauliche Quelle erzählten!" antwortete Willehad.
Er zückte sein Telefon, wählte eine Nummer, und im nächsten Moment fuhr eines dieser Mini-Touristenboote namens "Emma" vor. Justus pfiff durch die Zähne, drehte den Zeigefinger einmal in der Luft und rief: "Spinner! Wir fahren los!"

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Tag  44 (12.10.2012)

"Bitte leider die Stadt nicht zerstören - dadadadadadadadaaaa!"



Eine der seltsamen neuen Straßenbahnen, von den Bewohnern der Stadt liebevoll auch als Citywurm bezeichnet, schlängelte sich züngelnd durch die äußeren Regionen der Stadt. Irgendwo bei der St.-Jürgen-Straße stieg eine relativ junge, aber doch sehr alte Frau aus dem tiefsten Sebaldsbrück in die Bahn und wirkte leicht desorientiert. Dies äußerte sich in einem seltsam schwankenden Rumstehen auf der Drehplattform zwischen den aneinandergereihten Zugsegmenten. 

Mit strähnigem Haar stand sie da, sah sie sich um und hatte eine leichte Hast in ihrem Blick. Sie wirkte fahrig. Der strähnige, irgendwie leicht feucht wirkende Pony ihrer Frisur franste von der Stirn und klebte an den Schläfen. Der Rest des Haares war anscheinend mit Wasser und Kamm nach hinten gestriegelt worden. Klare Ansätze oberhalb der Kopfhaut verrieten ihre Sehnsucht, ein echtes Blondchen zu sein.

So stand sie unentschlossen herum in ihren sehr engen Jeans mit viel Stickerei auf dem Hinterteil und hielt Ausschau - schwer zu sagen, nach was. Sie schien wie von einem unbestimmten, übermenschlichen Hunger getrieben. Dabei wirkte sie jedoch nicht wie eine Jägerin, sondern mehr wie eine Getriebene, die nach Schutz sucht. Die alltägliche Umgebung der Straßenbahn war allerdings mit Sicherheit ein sehr falscher Ort, um Geborgenheit außerhalb der Vierundzwanzig-Stunden-Stammkneipe zu erreichen!

Tapsig, mit durchgebogenen Kniekehlen, wie sie viele Menschen mit allzu intensiver Drogenerfahrung teilen, bewegte sie sich auf den Fahrkarten-Automaten zu und griff in die viel zu enge Hosentasche, um nach Kleingeld zu fummeln. Die sonst notorische Schwarzfahrerin wollte sich ein Billet kaufen, was augenscheinlich und sogar ganz bestimmt ein Versuch war, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen und endlich von dem "Teufelzeug" Abstand zu gewinnen, wobei eigentlich mittlerweile alles Teufelszeug war, auch die guten Sachen, die sie aber leider nicht mehr sah oder verstand.

Sie blieb vor dem Automaten stehen, hob drollig die Hand mit dem Kleingeld zum Kleingeldschlitz und versuchte, die erste Münze einzuwerfen. Sie drückte das Geldstück gegen die noch geschlossene Geldstückluke, die Münze rutschte jedoch ab, klöterte auf den Boden und sprang unter den nächstgelegenen Sitz.

Das weltberühmte, unverständliche Murmeln von Langzeitalkoholikern mit tief und lang verteerten Zigarettenstimmbändern setzte ein, und der Zuseher mit Erfahrung erkannte sofort die Geheimsprache derer, die schon lange Zeit versuchten, sich selber mit sämtlichen ihnen zu Verfügung stehenden Giften für irgendetwas zu bestrafen. Leider wussten sie schon lange nicht mehr, wofür. 
Die Frau ging auf die Knie und fischte einem Fremden zwischen den Beinen umher, der dabei krampfhaft unbeteiligt aus dem Fenster starrte.

Die Münze wieder in der Hand, rappelte sich die Frau auf, und begann unkoordiniert auf dem Touchscreen der Maschine herumzutatschen. Eine verdammte Fahrkarte - warum mussten sie das denn alles so schwer machen? Dieser Automat war kompliziert wie Raketentechnik. Zwei mal falsch berührt und schon war alles hin. Abbruch. Neustart.

Langsam bildete sich hinter ihr eine Schlange von Menschen, die innerhalb von kürzester Zeit zu mosern und zu stressen begannen. Da alle anwesenden Bürger einen moralischen Ekel verspürten, kam es zu keinerlei Hilfshandlungen. 

Die Frau tippte weiter auf dem Bildschirm herum, plötzlich stand dort alles auf türkisch, ihre Nerven rebellierten, sie hob die Hand, schlug auf das Gerät ein. Tränen der Verzweiflung schossen in ihre Augen, eine unstillbare Todessehnsucht baute sich in ihr auf. Es ging einfach nicht mehr. Diese letzte Überforderung der Welt war das Stück, das gefehlt hatte, um alle Hoffnung für immer fahren zu lassen. 

Sie erhob sich aus ihrer weinerlichen Krümmung, stand plötzlich wieder gerade wie ein stolzes Lebewesen - wie ein Einhorn, das weiß, wofür es lebt - in der Mitte der Bahn und strahlte für einen kurzen Moment eine letzte Energiewelle des Daseins in den Raum. Sie warf den Kopf in den Nacken, so dass ihre Haare eine letzte wunderschöne Sinuskurve beschrieben. Dann schlug ihr Kopf mit allerletzter Kraft und so stark, wie sie noch konnte, in den Monitor der Fahrkartenmaschine ein. Ihre Stirn brach durch den Monitor und durch das Gewicht ihres Kopfes wurde sie bis zu den Schultern in die Maschine gestopft.
Das Fach der Fahrkartenausgabe füllte sich mit schwerem Blut, das auf den Boden tropfte. Ihr Körper erschlaffte und hing tot an der Maschine herab. Man konnte jetzt auch nicht mehr mit der EC-Karte bezahlen, obwohl einer der Wartenden in der Schlange nach diesem plötzlichen Tod seine Chance sah und routiniert wie ein Rockefeller versuchte, seine Karte einzuführen.

Aufgeschreckt vom Lärm im hinteren Teil des Zuges, blickte sich der ungeübte und nervös wirkende Jung-Straßenbahnfahrer in den Fahrgastraum um, übersah dabei die Haltestelle „Sielwall“ und stellte mit seinem Knie auf Vollgas – auf Vollstrom sozusagen. Die Bahn raste an der Haltestelle vorbei und direkt aufs Eck zu.
Die Ecken der Kreuzung waren wohlgefüllt, als die Straßenbahn in die Kurve ging. Die Räder quietschten in den Schienen und die Fahrgäste wurden durch die Fliehkraft an die außen liegenden Scheiben geschleudert. Auch der Leichnam folgte den Bewegungen und schlackerte in Richtung „Arabic-Imbiss“, dem angeblichen Erfindungsort des leckeren Rollos.

Mitten auf der Kreuzung zog ein übernervöser Fahrgast die Notbremse. Ein ohrenzerschneidendes Gekreische der Schienen schwoll an, raste über die Kreuzung und durch die angrenzenden Seitenstraßen. Dann begann sich die Bahn zu neigen. Erst sprangen nur die vorderen, dann die hinteren Räder aus den Gleisen. Die Bahn begann, sich in sich zu verdrehen, Vorder- und Hinterteil der Bahn begannen zu kippen, blieben aber in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel in der Luft hängen, während der mittlere Teil sich ächzend gegen das Kippen wehrte. Langsam hoben die äußeren Räder ab und die Bahn kam zum Stehen. Dann verstummte das Kreischen, und die Straßenbahn verharrte in ihrer unnatürlichen Position. 

An allen Ecken konnte man in die offenen Münder der umstehenden Menschen schauen. Nur eine kleine Gruppe von bereits angetrunkenen und einheitlich gekleideten Systemkritikern sah die Chance gekommen, ihren eher luftikusalen politischen Forderungen Ausdruck zu verleihen. Sofort schalteten sie in ihren Demonstrationsmodus, rückten in engen Reihen zum Mittelteil der Straßenbahn vor und begannen, daran zu rütteln. Voller Bangigkeit schauten die eh schon gehörig durcheinander gewürfelten Fahrgäste aus dem Fenster, durch die aufgrund der fortschreitenden Schieflage des Zuges jetzt immer mehr vom nachmittäglichen Himmel zu sehen war. 
Nach links und rechts wackelte das Gefährt und kippelte im zunehmenden Maße in seinem Schienenbett. 

Die Masse der Menschen, die früher vielleicht einmal Anhänger irgendeiner außerparlamentarischen Opposition gewesen waren, sich aber heute nur noch über allabendlichen Bierkonsum definierten, drückte weiter gegen die Straßenbahn. "Whooo!" machten sie beim Drücken, und "Heeey!" machten sie, wenn der Wagon wieder in ihre Richtung kippte.

Immer weiter schaukelte sich das Fahrzeug auf. Ein politisch nicht einzuordnender Punker nahm Anlauf. Er ging zurück bis zur Glasfront des hinter ihm liegenden Pizza- und Kuchen-Geschäfts, nahm alberner Weise die Startposition eines Hundert-Meter-Sprinters ein, machte einen Satz nach vorne, rannte fünf Meter und ballerte mit einem Dropkick seiner Springerstiefel in das Seitenfenster der Straßenbahn. Die Scheibe zerbarst, strampelnd segelte er durch den Innenraum und traf die Leiche, welche nach wie vor mit dem Kopf in dem Fahrkartenautomaten feststeckte.

Die Straßenbahn kippte endgültig. Slow aber unaufhaltsam schwankte sie kurz auf ihrem toten Punkt, ehe sie wie in Zeitlupe zu fallen begann. Erst langsam, dann immer schneller fiel sie. Die ursprüngliche, von der Kurve hervorgerufene Beugung der Bahn öffnete sich, etwa wie bei einem Turmspringer, der seinen Körper kurz vor der Wasseroberfläche öffnet. Das Heck des Citywurms schlug in die Fensterscheibe des öden Gastronomieschuppens „Schweinske“ ein, während das Fahrerhäuschen mit dem ängstlichen Lokomotivführer darin den sowieso niemals besuchten Friseur eine Ecke weiter killte.
Zeitgleich ploppte der Kopf der Fahrkartenautomatenleichenfrau aus dem Fahrkartenautomatenmonitor, und die Leiche wurde auf die Seite der nun endgültig umgestürzten Bahn gewuchtet.

Die Menge johlte, als sie langsam zu Boden rutschte. Seit der massenhaften Verbreitung von Computerspielen und der fortgeschrittenen exzessiven Zombiegewalt und dem Zweiten Weltkrieg war der Tod für die breite Bevölkerung "jetzt irgendwie auch nicht mehr soooo!"

Der freie und unabhängige Viertelreinigungsdienst in Gestalt des obdachlosen Berbers Wolfgang beschaute sich das Ganze unaufgeregt. "Verfickte Scheiße!" murmelte er in seinen Bart und zupfte weiter das Unkraut vor dem Kiosk „Arabic“, in dem er, was die Wenigsten wussten, vor knapp zwanzig Jahren aus einer alten Pizza und einem halb aufgegessenen Salat das „Rollo“ gebastelt und damit erfunden hatte.

Unterdessen saßen die vier Freunde, mit Willehad und Justin im Schlepptau, in einem kleinen Elektroboot und fuhren die Weser hinauf. Vor dem Haus an der Weser lag nach wie vor das Pfannkuchenschiff auf Grund und rauchte kräftig aus seinem Bauch, genau da, wo sich die Küche befand, in der ein dicker alter Mann seine ersten fünfhundert Pfannkuchen buk. 

"Tagesschau also!" wandte sich Justus an Willehad.
"Klar, wieso nicht? Wollte ich schon immer mal hin. Das ist wie eine Wunschsendung: Du erzählst was, alle glauben dran, und wenn alle genug an eine Sache glauben, dann wird es ja schließlich irgendwann wahr. Das ist wie Voodoo!" antwortete er.
"Voodoo?" fragte Justus.
"Oder wie Christentum oder sonst was. Es gibt Statistiken, die beweisen, dass ja tatsächlich Dinge passieren, wenn nur genügend Leute daran glauben. Das kommt wohl daher, dass man selber umso fester an etwas glaubt, je mehr Menschen mit einem glauben. Und das machen wir jetzt!" sagte er und schaute ans Ufer, an dem nach wie vor eine große Menge von Menschen sich an der Sonne und dem schönen Wasser erfreuten. 

Das Boot kam nicht schlecht voran, musste nur manchmal stoppen, um nicht allzu vielen Schwimmern und Schwimmerinnen über den Kopf zu fahren. Das trocken klingende wiederkehrende Klopfen unterhalb des Schiffsrumpfes bewies allerdings, dass es der Kapitän aber nicht allzu ernst mit seiner Schwimmerliebe meinte.
"Plock!" machte es unter dem Rumpf. "Plock!, plock!" machte es, als sie über die unschuldigen Schwimmer dengelten. Traumatös wäre es gewesen, wäre es nicht auch vom Sound her albern gewesen!

Jetzt, mit dem aufziehenden Krieg vor der Nase, musste Justus daran denken, wie es wohl in so einem Krieg war, weit weg von all dem, was er bisher erlebt hatte. Er bemerkte, dass er sich keine Vorstellung davon machen konnte, wie es war, wenn Gewalt alltäglich wurde. Wahrscheinlich war es im Krieg auch mal witzig, denn Tod und Albernheit schlossen sich ja nicht aus. Ein comicartiges "Plock!", wie das, was er gerade hörte, würde im Krieg ja nicht aufhören, lustig zu sein. Auch sterben und dämlich aussehen war ja per se nichts, das sich ausschloss! 

Wer aus der Zynikergeneration, der die vier Freunde angehörten, hatte denn genug Erfahrung mit Tod, um nicht zuallererst das alberne Aussehen zu bemerken, wenn jemand beim Sterben albern aussah. Das Unrealistischste an Rambo war ja doch eigentlich, dass er niemals lachte!

Aus unerfindlichen Gründen war sich Justus sicher, dass im Krieg genauso viel, wenn nicht wahrscheinlich noch viel mehr gelacht wurde, als zu langweiligen Friedenszeiten. Lachen als Reflex, als Erleichterung, als Moment der Selbstbestimmung. Bei einer Sache war sich Justus sehr sicher, und das war, dass der Humor in Kriegszeiten besser werden würde. Leid an sich war ja die Voraussetzung für guten Humor. Es sah ganz so aus, als würden noch einige sehr lustige Tage auf ihn warten!

Das Plocken hörte auf, und sie fuhren mit zügigem Tempo weiter in Richtung Fernsehstation. Justus dachte weiter nach: „Das war schon gar nicht mal eine so schlechte Idee: Erst die Nachrichten vom Krieg, dann erst der Krieg selbst. Erst die Nachricht vom Weltuntergang, dann der richtige Weltuntergang, oder noch besser: Dann nicht der richtige Weltuntergang, sondern erstmal ein Countdown bis zum Ende aller Zeiten, und dann passiert - nichts!

So ein glaubwürdiger Countdown über vielleicht eine Minute wäre ganz herrlich. Was da nicht alles geschehen würde! Alles, was alle Leute noch zu erledigen hätten, würde in einer Minute geschehen.

Natürlich wären die Mobilfunknetze vollkommen überlastet. Da wäre nichts mehr mit schnell noch mal zuhause anrufen und ‚Tschüss!’ und ‚Ich hab dich lieb!’ sagen. Ein toller Moment! In der Fantasie haben das ja wohl die meisten schon einmal durchgespielt, wen sie als letztes noch einmal anrufen würden: Mutti, Vati, Geschwister, Freunde. Viele wohl auch die erste große Liebe, die, wie sie im letzten Moment dann doch erkannten, die einzig wahre gewesen war. Wenige hätten noch den Humor, um beispielsweise bei der Polizei anzurufen und für die großartigen Leistungen der letzten Jahre zu danken. Oder kurz vor dem Ende noch telefonisch eine Lebensversicherung abzuschließen, oder - analog dazu - noch schnell am Handy zu konvertieren. Schade!

Mit wildfremden Menschen das Ende erleben - eigentlich war das der richtige Weg. Die perfekte Mischung aus Alleinsein, was ja beim Sterben eigentlich jeder ist, und einem Haufen von Menschen, die man eigentlich nicht mag. Das wäre mal ein schöner Gegenentwurf zum ollen Petrus! 

Rein kommt nur, wer sogar beim Sterben zu Fremden nett ist. Wer nicht nett ist, muss bleiben und sich für immer mit ihnen streiten und anzicken. Schön!“

Justus schaute zur Seite und sah sich Emma an, die versonnen dasaß und von den Köpfen unter dem Boot wohl kaum etwas mitbekommen hatte. „Sie war gar keine schlechte Begleitung in den Untergang. Eine Gelassenheit umströmte sie, und was konnte man sich denn mehr wünschen? Das Schlimmste wäre ja irgend so eine hysterische Tussi. Kreischen beim Sterben. Wie unwürdig!“ 

Justus hatte nach wie vor keine Ahnung, wo sie beziehungsmäßig hier im Diesseits standen, aber vielleicht war das auch ganz gut so. Eigentlich mochte er das immer ganz gerne, im Zwischenmenschlichen keine Ahnung zu haben, denn das ließ Raum für Veränderungen, und das war ja grundsätzlich keine schlechte Sache! 

Er fand es schon schrecklich genug, jeden Morgen dazu gezwungen zu sein, mit sich selber aufzuwachen. Es war schon ans